A Night to Remember

Ein paar Tage später folgte noch eine Formalie, vor der es mir noch mehr graute als vor dem Abischerz: der Abiball. Das Schlimmste daran war, dass man nicht nur sich selbst in Schale werfen musste, sondern auch noch Eltern und Verwandte zusehen durften, wie man seine dösige Urkunde überreicht bekam und am Ende eine Dame zum Tanz aufforderte. Ja richtig, man sollte mit Partnerin erscheinen, was für mich schwieriger war als ein weißes Einhorn zu finden, das den ganzen Abend mit mir auf der Tanzfläche moonwalkte. Nach so vielen Jahren, in denen die Mädchen meiner Klasse wöchentlich im Sportunterricht daran erinnert wurden, welch stattliche Knabenbrüste sich unter meinem hautengen Fußballtrikot verbargen, war meine Auswahl an Begleiterinnen doch recht eingeschränkt. Eigentlich fiel mir nur Nina Tegtmeier ein, von allen nur »nasale Nina« genannt, die aufgrund einer chronischen Nasennebenhöhlenentzündung seit jeher wie ein Seeelefant mit Schnupfen klang. Grausamerweise hatten ihre Eltern sie auch noch Nina genannt, was aus ihrem Mund zu einem gequetschten »Nnnnäännnna« wurde und die Klasse regelmäßig in lautes Lachen ausbrechen ließ.

Dann kam der große Abend, ich stand vor Nina Tegtmeiers Tür, bekam vor Aufregung mehrere Erstickungsanfälle und klopfte nach zähen Minuten Bedenkzeit schließlich an.

Ninas Vater öffnete mir die Tür und hinter ihm kam Otto Waalkes im Brautkleid zum Vorschein.

Ninas dünnes Haar und ihre schlaksigen Arme verliehen ihr auf den ersten Blick etwas Marionettenhaftes, was sich leider auch auf den zweiten Blick nicht auflöste.

Jedenfalls war sie fast so groß wie ich, was den Tanzpart schon mal deutlich erleichtern würde. Wenn sie es denn vor lauter Lachen mit mir auf die Tanzfläche schaffen würde. Denn beim Anblick meiner straff gespannten Polyester-Brust entgleiste ihr kurz das Gesicht und ein gelogenes und gewohnt nasales »Schönnnn« durchbrach die Stille.

 

Nach einer stundenlangen Odyssee durch die Übergrößenabteilungen verschiedener Modegeschäfte der Gelsenkirchener Innenstadt war ich auf der Suche nach passender Festbekleidung mit meiner Mutter bei C&A gestrandet. Herr Hübner, seines Zeichens Abteilungsleiter, schwuler als die Village People und mit einer goldenen Krawattennadel ausgestattet, präsentierte mir und meiner Mutter mehrere Anzugkombinationen für »füllige Herren«, die allesamt aussahen wie Ottfried Fischers Schlafanzüge. Immer, wenn Herr Hübner »füllige Herren« sagte, schoss sein gezwirbelter Schnurrbart aufmunternd in die Höhe. Meine Mutter und er hatten sich nach wenigen Minuten darüber verständigt, dass ich nicht nur der Untergruppe »füllige Herren« sondern auch dem Splitterverein der »hohen Hosen« angehörte, weil meine Gliedmaßen trotz einer beachtlichen Bauchschürze geradezu spinnenhafte Ausmaße angenommen hatten. Nach einigen Stunden erfolgloser Suche blieben nur zwei Stücke Konfektionsware übrig, die nach billigem Polyester rochen und die unvorteilhaften Kurven meines Körpers auf eine Weise betonten, dass ich aussah wie Miss Piggy als albanischer Türsteher. Der eine Anzug war in Dunkelbraun gehalten und kostete samt Krawatte und Alditüte für den Kopf beachtliche 198,99 Euro, was meine Mutter unter Betonung der Singularität des Anlasses dazu verführte, das preiswertere Modell in klassischem Schwarz zu kaufen. Mit dem hohen weißen Kragen und ausladenden Rüschen im Brustbereich passte ich als Bestatter der Spaßgesellschaft immerhin ganz gut zu unserem Motto »Abicula«. Nichts anderes assoziierte wohl auch Nina Tegtmeier, die meinem Outfit immer wieder irritierte Seitenblicke zuwarf und mir dann auf der Rückbank unseres Passats wortlos den Flachmann reichte.

Gemeinsam mit meinen Eltern zuckelten wir nun also zum Abiball, der letzten Zeremonie, die mich noch von der Freiheit des Studentendaseins trennte, das ich schon so lange herbeisehnte.

Nina und ich tranken Schnaps, schwiegen und sahen aus dem Fenster. Der Passat meiner Eltern rumpelte über die durchlöcherte Hauptstraße Gelsenkirchens und ich dachte an die vielen Jahre, die ich diese Strecke mit meinem Vater gefahren war. So oft hatte ich Krankheiten vorgetäuscht, um nicht in die Schule zu müssen, und trotzdem machte sich nun eine leichte Melancholie in mir breit. War das jetzt wirklich alles vorbei? In wenigen Wochen würden alle Schüler, alle, die ich gekannt, gemieden oder gar gemocht hatte, auseinanderstreben wie ein brennender Ameisenhaufen. In ein paar Jahren würden wir uns dann auf einem dieser unseligen Klassentreffen wiedersehen, uns gegenseitig mit unseren Lebensgeschichten langweilen, die Titel und Abschlussnoten vergleichen und hoffen, dass keiner nachfragen würde, warum man statt für Amnesty nun doch als Tabak-Lobbyist arbeitete.

Die Stadthalle war ein grauer Klotz aus Zement und Spanplatten, im Inneren wummerte der hohle Beat eines Bierzeltschlagers durch die Gehörgänge zahlloser glücklicher Elternteile, die mit Camcordern und Plastikbechern bewaffnet kaum auf ihren Stühlen zu halten waren. Vor der Verleihung der Abiturzeugnisse gab es noch einen Auftritt des Schulorchesters (die »Shitties« gehörten seit dem Musikfest leider nicht mehr zum Line-up) und Simon Powalla gab ein paar seiner besten Zaubertricks zum Besten. Da der »Große Powalla« wie er sich in einem Anfall von akutem Größenwahn nannte, bedauerlicherweise die kommunikativen Fähigkeiten eines Tannenzapfens besaß, ging seine Zaubershow jedoch ein wenig zwischen der Buffeteröffnung und der Rede unseres Schuldirektors unter.

»Eine große Zukunft« stünde uns bevor, »Fenster zu einer neuen Zeit« würden sich öffnen und »ungeahnte Möglichkeiten« in unseren Händen liegen. Ich kam mir vor wie ein Teilnehmer der ersten bemannten Marsmission und Nina zwickte mir während der Rede mehrmals in den Arm und flüsterte »was für eine Scheiße«. Mittlerweile hatte ich begriffen, dass nicht nur mein leichter S-Fehler mit ihrem nasalen Tonfall ziemlich gut harmonierte, sondern wir auch eine gepflegte Verachtung für dieses Spektakel teilten, was sie zur perfekten Begleiterin bei dieser Familienkirmes für Betrunkene machte.

Dann kam der große Moment, mein Name wurde aufgerufen und aus den Boxen schepperte der von mir eigens dafür ausgesuchte Song »You can’t always get what you want« von den Rolling Stones. Ich trat auf die Bühne und ein sichtlich verwunderter Schulleiter überreichte mir mein Abiturzeugnis. Mit väterlicher Geste legte er mir seine fleischige Hand auf die Schulter, nickte professionell freundlich und schob mich dann in Richtung Bühnenausgang. Meine fünfzehn Minuten Ruhm waren auf ganze acht Sekunden zusammengeschrumpft: Scheinwerferlicht in meinem Gesicht, schwitziger Händedruck, auf Wiedersehen.

Als ich mich wieder an den Tisch zu meiner Familie setzte, nickte mein Vater mir anerkennend zu, er hatte wohl verstanden, was ich mit dem Song meinte. Meine Mutter hatte begonnen, sich mit Nina über die einzelnen Lehrer der Schule lustig zu machen und Frau Marxloh hatte ihr Dracula-Kostüm mittlerweile abgelegt und sah so noch gruseliger aus als bei ihrer Versenkung im Schulgarten. Dr. Bommelheim, unser ehemaliger Biologielehrer, füllte sie langsam aber sicher mit Fruchtbowle ab und schäkerte mit ihr herum, während sie sich ständig verschämt die Hand vor den Mund hielt.

Als mit Zorbas Zantinidis auch der letzte Schüler sein Zeugnis erhalten hatte, war ein Großteil des Saals eingenickt, zu betrunken, um noch zuzuhören, oder damit beschäftigt, Frau Marxloh und Dr. Bommelheim beim Knutschen zuzusehen. Dann wurde die Tanzfläche eröffnet. Lieber hätte ich vor einer Gruppe Taliban aus der amerikanischen Verfassung vorgelesen, als öffentlich zu tanzen. Für mich war der aufrechte Gang schon eine Leistung, sich jetzt auch noch rhythmisch zu Musik zu bewegen war unvorstellbar. Plötzlich sprang Nina auf, griff nach meiner Hand und zog mich aufs Parkett. Widerwillig stand ich dort herum, bis sich die Musik schließlich durch meinen Kopf hinab in meine Füße fraß und sich erste unkontrollierte Zuckungen einstellten. Nina warf ihre Arme und Beine schon eine ganze Weile völlig ungehemmt durch die Gegend und hatte einen Mordsspaß an meinen verklemmten Dancemoves. Es war ihr anscheinend völlig gleich, was die anderen von ihr dachten. Sie schien verinnerlicht zu haben, was ich seit meiner Einschulung oft vergeblich versucht hatte. »Was kümmert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt«, hatte mir mein Großvater schon damals zugeflüstert. Also gab ich alles, schloss meine Augen und tanzte.

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