Das Nilpferd kann ja nichts!

Woher die unheilvolle Freundschaft zwischen Willi und meinem Vater stammte, lässt sich für mich nicht mehr gänzlich nachvollziehen. Sicher ist nur, dass Papa und Onkel Willi sich im Kollegium ihrer ersten Schule kennengelernt haben. Mein Vater war seit jeher ein Magnet für leicht verwirrte Gestalten, alle seine Freunde und Kollegen waren ein bisschen schräg und hatten irgendwie einen an der Meise oder zumindest einen außergewöhnlichen Spleen. Auch mein Vater, der »Leader of the Gang«, war mit einer Menge an perfiden Manierismen und Eigenheiten gesegnet, besonders wenn es um Germanistik und die deutsche Sprache ging. Außerdem fehlte ihm manchmal ein Mindestmaß an menschlicher Empathie. Ich glaube, er meinte es gar nicht böse, aber oft nutzte er die Schwächen anderer fast schon willfährig zu seiner Belustigung aus, so auch die grausame Sparsamkeit von Onkel Willi.

 

Es war ein grauer Herbsttag in den ausgehenden Achtzigerjahren, das triste Bild von Gelsenkirchens Straßen, das immer ein wenig an ein postapokalyptisches Postkartenmotiv erinnerte, wurde durch einen grellen Klecks aufgehellt. Der »Zirkus Sandolino« war in der Stadt und mit ihm eine Menge Clowns und Giraffen sowie ein Nilpferd. Mein Vater hatte Onkel Willi überredet, mit uns in den Zirkus zu gehen, vielleicht, um dessen steigendem Hospitalismus entgegenzuwirken, vielleicht auch, um mal wieder eine der Katastrophen zu erleben, die Wilfried mit der Zielsicherheit eines Hühnerhabichts anzog.

Schon der Kauf der Karte war ein Problem. Dass Onkel Willi mit einer Kiste voller Münzrollen angereist war und sofort mit der lustig geschminkten Kassenkraft, die optisch wie eine Mischung aus Claudia Roth und einem Indianerhäuptling anmutete, in Streit geriet, überraschte wenig. Dass Häuptling Claudia uns dann auf Wilfrieds Drängen alle drei zum vergünstigten Kinderpreis reinließ, schon eher, wobei sich Letzteres auch damit erklärt, dass wir die billigsten Plätze bekamen, direkt hinter einem der stählernen Pfeiler des Zirkuszelts. Durch dessen Löcher versuchten wir der Vorstellung zu folgen, wie durch ein Schlüsselloch grinste uns dort die grelle Wirklichkeit des Zirkusgeschehens entgegen, alles jedoch nur halb so hell und halb so laut.

Für mich als Kind war das nicht genug. Ich wollte Zirkus nicht in der vakuumverpackten Sparversion meiner Begleiter sehen, sondern direkt vorn an der Begrenzung der Manege stehen, die Sägespäne und den Kameldung riechen und auf einer riesigen Zuckerwatte kauen.

Statt einer riesigen Zuckerwatte packte Onkel Willi eine Tüte abgelaufenen »Golden-Toast« aus, den man ihm nach langem Quengeln wegen des Verfallsdatums an der Supermarktkasse gratis überlassen hatte. Das Brot war so trocken, dass die meisten Enten locker daran erstickt wären. So viel Mitleid hatte das Schicksal mit uns jedoch nicht, also kauten mein Vater, Willi und ich die restliche Vorstellung lang auf den verbliebenen Toastbrotscheiben herum und dachten an etwas Süßes.

Leider war die »übrige Vorstellung« für uns nicht so lang wie für den Rest des Publikums, da wir nach etwa einer halben Stunde »lebenslanges Besuchsverbot für den Zirkus Sandolino« erteilt bekamen, was nicht nur in meinem jungen Leben, sondern auch für Wilfried und meinen Vater ein Novum war.

Die Show hatte eigentlich ganz gut begonnen, zwei Clowns bespritzten sich fröhlich mit Wasser, das sie aus einem Elefantenrüssel drückten, eine Gruppe mongolischer Schlangenmädchen verbog sich zu den abstrusesten Gestalten, und auch das Toastbrot begann mit der dritten Scheibe einen gewissen Geschmack zu entwickeln. Wilfried verhielt sich ungewöhnlich ruhig, das Verhältnis dessen, was er für seine Eintrittskarte ausgegeben hatte, und dessen, was ihm hier geboten wurde, schien positiv genug, um den kleinen Irren, der in seinem plumpen, behäbigen Körper wohnte, zufriedenzustellen.

Doch dann öffnete sich der Vorhang, ein gleißendes Licht wanderte über die Zuschauerreihen, durchquerte die leere Manege und blieb genau auf dem riesigen Kopf eines Tieres stehen, das mir zu dem Zeitpunkt nicht mal bekannt war. Sein grauer, absurd großer Schädel wankte langsam und gleichmäßig hin und her, mit halb geöffneten Augen schien es zum Teil im Diesseits zu sein, der Rest seines Bewusstseins schwebte irgendwo über der Manege und graste wohl selig im afrikanischen Buschland. Irgendwie war es Onkel Willi ähnlich, wie er da mit halb geöffneten Augen das knochentrockene Toastbrot bespeichelte und nur zur Hälfte der Vorstellung folgte, weil er vermutlich mit seiner linken Hemisphäre gerade ein paar Gleichungen löste.

»Oh, ein Nilpferd«, sagte mein Vater, was ich erst für einen Scherz hielt, denn mit einem Pferd hatte das Gezeigte nur so viel gemein, dass der Kopf vorn und der Arsch hinten war. Sonst glich das Tier, das über und über mit borstigen Nadeln gespickt war, eher einem lebendig gewordenen Germknödel. Seine trüben Augen fuhren einmal müde durch den Raum und fixierten dann einen kleinen, farbigen Stahlhocker in der Mitte der Manege. Der Zirkusdirektor brabbelte ein paar Fakten zu dem plumpen Tier durch ein Megafon, wobei hinter unserem Zirkuspfeiler nur ein unverständlicher Sprachbrei ankam, der ein wenig wie ein Telefongespräch unter Muppets klang.

Das Nilpferd durchmaß mit seinem trägen Körper den halben Raum und trottete gerade auf den Stahlhocker zu. Seine schweren Schritte stampften tiefe Kuhlen in den gelben Sägemehlsand, die Spannung im Saal war zum Zerreißen gespannt, selbst der Posaunist hielt den Atem an und verschonte die Menge mit seinem unsäglichen Gedudel. Als das Nilpferd den Hocker erreicht hatte, stemmte es einen seiner Füße auf das metallene Plateau, und mit einem Ächzen drückte sich der kleine Hocker in den Boden der Manege. In einem unsäglichen Kraftakt wuchtete es das zweite Vorderbein nach vorn und stellte es parallel neben sein dickliches Füßchen auf den Hocker.

Dann öffnete es sein Maul weit, immer weiter, sodass sein Körper gänzlich hinter der fleischfarbenen Fressklappe verschwand, in der ein paar tiefgelbe, bananenförmige Zähne wahllos verteilt lagen. Plötzlich kam ein Clown schnellen Schrittes in die Manege gelaufen. In seinen Händen hielt er einen monströsen grünen Kohlkopf, der bei jedem seiner Schritte wie ein Pendel aus Gemüse hin und her schwang. Der Clown näherte sich dem Nilpferdmaul, nickte zweimal in die gespannte Zuschauermenge und warf den grünen Ball dann tief in den wartenden Schlund. Das Nilpferd schloss sein Maul und spaltete mit einem lauten Knacken den Kohlkopf entzwei. Dann schluckte es einmal hörbar und stieg wieder von dem kleinen Metallhocker hinab. Es plumpste träge auf den Boden und trabte geräuschlos dem Ende der Manege entgegen, wo sich ein roter Vorhang hinter seinem dicken Hintern verschloss.

Kurz bevor das fragile Band der Spannung in der Menge zerreißen, die Kinder klatschen und die Erwachsenen wohlig lächelnd in ihre Popcorntüten greifen konnten, sprang Onkel Willi auf und schrie laut:

»Betrug, Betruuuug! Das Nilpferd kann ja nix! Ich will mein Geld zurück, ich will Vergeltung!«

Sein Kopf schwoll rot an wie eine Pavianrosette, besonders das Wort »Vergeltung« klang mehr, als wären wir Sympathisanten der RAF und nicht bloß enttäuschte Zirkusbesucher.

Wilfried fühlte sich durch die Ereignislosigkeit der Darbietung um seinen Einritt betrogen. Ganz unrecht hatte er ja nicht, die öffentliche Verdauung eines Kohlkopfes hatte nicht zwingend Eventcharakter, allerdings hatte (außer ihm) wohl auch keiner erwartet, dass das Nilpferd gleich jodeln würde oder ein Gedicht rezitierte. Für Wilfried war die Enttäuschung aber eine Anstiftung zum zivilen Ungehorsam.

Mein Vater schloss den Arm um mich und zog mich ein paar Ellen weit weg von dem sonderbaren Mann, der neben uns einen cholerischen Tobsuchtsanfall bekam.

»Vergeltung, Vergeltung! Das Nilpferd kann ja gar nichts! Wir wollen unser Geld zurück«, schrie Willi und zeigte dabei mit einem Finger auf mich und meinen fremdbeschämten Vater, nur um die Bekanntschaftsverhältnisse auch allen Anwesenden deutlich zu machen.

Wir wurden dann vom Zirkusdirektor, der immer noch sein farbiges Megafon in Händen hielt, hinauskomplimentiert, ein Teil der Zuschauer glaubte wohl, es würde sich um eine besonders absurde Showeinlage handeln und klatschte Beifall. Onkel Willi riss gewinnend die Hände hoch und machte eine Siegerpose, der Irrsinn war vom Untermieter zu seinem Hausbesetzer geworden.

Beim Rausgehen entwendete Wilfried noch eine Tüte gebrannter Mandeln, die wir uns teilten, als wir im Regen auf den Bus warteten. Die Mandeln waren zwar kalt, schmeckten aber wie ein kleiner Sieg gegen das System. Jedenfalls für Wilfried. Ich heulte bitterlich.

 

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