Alternative Erziehungsmethoden
Mit mir, so behaupten meine Eltern bis heute, könne man jeden Ort nur zwei Mal besuchen. Einmal zum Vorstellen und einmal zum Entschuldigen.
Meine eigene Erinnerung hingegen ist eine andere. Als Kind war ich kreuzbrav, das Musterbeispiel eines wissbegierigen, friedlichen Jungens, der mit Natur und Umwelt in einem dauerhaften Zustand buddhistischer Harmonie weilte – und ein bisschen dick war.
Der Erzählung meiner Eltern nach stimmt diese Selbstwahrnehmung nicht ganz mit der Realität überein. Für sie war ich der gewindelte Reiter der Apokalypse, der auf einer pinken Version von »My little Pony« die Welt aus vollem Herzen ins Unheil stürzte.
Ich glaube im Nachhinein, dass mein Ruf als der irdische Stellvertreter Satans nur einem fundamentalen Missverständnis zugrunde liegt. Erstens litt ich damals unter einer so starken Laktoseintoleranz, dass ich schon beim Anschauen einer Kuh zum Hulk mutierte, zweitens verstanden viele Kinder meine grundlegende Hilfsbereitschaft einfach falsch. Als Lehrerkind war ich von Natur aus wissbegierig, und die anderen plante ich im Zuge meiner Forschungen kurzerhand als Probanden mit ein.
So kam es auch, dass die mittägliche Ruhe meines Vaters bei meiner Beaufsichtigung am Spielplatz des Öfteren von den erzürnten Eltern der anderen Kinder gestört wurde.
Einmal, mein Vater suchte gerade seinen Leserbrief in der neuen Ausgabe des »Stern«, trat eine Frau mit blutrot geschwollenem Kopf vor ihn und formulierte den schönen Satz: »Ihr Sohn hat meinen Sohn zum Pharao erkoren … zum P H A R A O!«
An ihrer Hand hing der kleine Kollateralschaden meiner Bemühungen und heulte Rotz und Wasser. Sein Name war Julian, ein unfertig wirkendes Kind, dem man ein Pflaster über eines seiner Brillengläser geklebt hatte. Klein Julian war über und über mit klebrigem Spielplatzsand beschmutzt, selbst seine Haare waren damit bedeckt.
»Ist doch ein nettes Kompliment«, erwiderte mein Vater und schaute dabei auf Julian, der es mit seinem knochigen Körper, der Hühnerbrust und dem Pflasterauge ohne meine Hilfe wohl nie zum Gottkönig gebracht hätte.
»Sie verstehen wohl nicht, Ihr Sohn hat versucht meinen Julian zu vergraben, er hat gesagt, nur so könne Julian unsterblich werden«, empörte sich die Frau. Ihre schwarzen Augenbrauen wanderten wie zwei paarungswillige Raupen aufeinander zu. Mein Vater stutzte. Dann fiel ihm ein, dass wir ein paar Tage zuvor in der großen Tutanchamun-Ausstellung in Düsseldorf gewesen waren und wie begeistert ich von der ägyptischen Bestattungstradition der Mumifizierung gewesen war.
»Rein historisch ist das korrekt«, witzelte er, doch die Mutter schien nicht sehr an den geschichtlichen Fakten interessiert.
»Sind Sie bescheuert, mein Sohn wäre fast erstickt«, plärrte sie, während mein Vater schon wieder in seinen aufgeschlagenen »Stern« linste. Sie störte. Ich stand schuldbewusst neben der Szenerie, die ganze Aufregung war mir wohl zu viel, schließlich war ich erst fünf. Zum Glück hatte Klein Julian nicht erzählt, dass ich außerdem versucht hatte, ihn zum Vorkoster für meine selbst gebackenen Sandkuchen zu machen …
Überall, wo ich auftauchte, riss ich mit meinen guten Absichten eine Schneise der Verwüstung in die vorhandene Ordnung. Kein System war mir zu klein, um nicht mit Neugier bombardiert und durch Experimentierwut zerstört zu werden. Fakt ist, dass jeder Kontakt zwischen mir und anderen Kindern in ein Gemetzel ausartete. Klein Julian hat aus heutiger Sicht wahrscheinlich Glück gehabt, dass ich ihn nur lebendig vergraben wollte.
Lehrerkind zu sein ist an sich schon nicht leicht, doch meine Erziehung ähnelte manchmal eher einem psychologischen Experiment als dem, was man gemeinhin als Kindheit bezeichnet. Ich hatte natürlich auch einen Gameboy, Kabelfernsehen und lustige Taschenbücher, ganz wie andere Kinder, aber zu diesen herkömmlichen Dingen gesellten sich noch die düsteren Geister aus der perfiden Vorstellungskraft meiner Eltern. Nur so, meinten sie zumindest, würden sie meiner unbändigen Zerstörungswut Herr werden.
Der »kleine Markus« war so ein Geist, vielmehr war er ein Phantom, niemand, weder ich noch mein Vater, hatte ihn je gesehen, und trotzdem reichte allein die Erwähnung seines Namens, um mich für ein paar Stunden in Schockstarre zu versetzen. Der »kleine Markus« war der einzige Insasse des Kindergefängnisses Essen Kray, so erzählte es mir mein Vater jedenfalls in schöner Regelmäßigkeit, wenn wir samstags gemeinsame Ausflüge machten. Diese Ausflüge fanden statt, weil meine Mutter als Grundschullehrerin dauerhaft am Rande des Nervenzusammenbruchs campierte. Die lärmenden, kreischenden Blagen, deren Beaufsichtigung fünf Tage ihrer Woche in Anspruch nahm, demolierten ihr Nervenkostüm so sehr, dass sie an den Wochenenden froh war, wenn mein Vater mit mir auf Abenteuerspielplätze oder ins Spaßbad fuhr.
Eigentlich hätte meine Mutter stutzig werden müssen, dass ich nach diesen Ausflügen nie mit Spielplatzsand besudelt war oder mit nach Chlor stinkenden Haaren nach Hause zurückkehrte, sondern bloß verstört in mein Zimmer wackelte und wie ein apathischer Zirkuselefant die Wand anstarrte. Mein Vater lud währenddessen Berge von Schallplatten aus, die er bei unserem Ausflug ins »Spaßbad« gekauft hatte und die er nun, als Lehrer und leidenschaftlicher Sammler, erst mal katalogisieren, markieren und einordnen musste.
Der »kleine Markus« war in meinem Kopf zu einem buckligen, missgebildeten Jungen mutiert, der an einer langen Kette durch die leere Dunkelheit seiner Zelle schlurfte und nur ab und an ein paar Fischköpfe von seinen Bewachern zugeworfen bekam. Er hatte, der Aussage meines Vaters nach, mehrmals seine Mama geärgert und war deshalb in ein grausames Teenagerguantanamo gebracht worden, wo er jetzt tagein, tagaus von seiner Reue zerfressen wurde. Mir würde es genauso ergehen wie dem kleinen Markus, sofern ich die nächsten Stunden nicht still und folgsam neben ihm im Plattenladen verharren würde.
Gegenüber der lange leer stehenden Milchfabrik, die mir mein Vater in seinen Geschichten vom kleinen Markus als Kindergefängnis verkaufte, befand sich »Easy Records«, ein Schallplattenladen, in dessen zigarillorauchdurchwehtem Ambiente alte Männer in speckigen Lederwesten die Erinnerungen an ihre glorreiche Jugend in Form von Tonträgern konservierten und in muffigen Pappkisten horteten. Mittendrin ich und mein Vater, der in tiefer Konzentration auf sein Hobby das mopsige Bündel zu seiner Rechten möglichst ruhigstellen wollte, wozu ein Rosinenbrötchen und ein Regina-Regenbogen-Puzzle nicht ausreichte. Ich jammerte meist wie ein debiles Vogeljunges, wenn ich mal wieder in diesen Siffschuppen geschleppt wurde, weil mein Vater ein paar Stunden nach seltenen Fehlpressungen von The Who suchen oder einfach nur ein wenig mit den anderen Sammlerzombies fachsimpeln wollte.
Die kleine Gruppe von Sozialversagern war durch eine Vielzahl menschlicher Kuriositäten charakterisiert. Da gab es »Bike-Mike«, einen leicht verwirrt wirkenden Arbeitslosen, der seine Plattenkäufe durch den vielfachen Diebstahl von Fahrrädern finanzierte und der den schönen Sinnspruch prägte: »Vorher war es dein Bike, nun ist es bei Bike-Mike.«
Ein Großteil der Anwesenden sah ein wenig wie Republikflüchtlinge aus, schludrig versiffte Jeansjacken, Cordhosen und Hawaii-Hemden, stilvoll ergänzt von einem Vokuhila und von Schnurrbärten, die sonst nur von emsländischen Polizisten mit Stolz getragen werden konnten. Zwischendrin ich, der zwergenhafte Basti, und sein Vater, der Bildungsbürger, der sich überraschend gut in dieses Puzzle der humanen Absonderlichkeiten einfügte.
Vor jedem Besuch bei Easy Records stand ich mit meinem Vater vor der mannshohen Stahltür der verlassenen Milchfabrik, und immer, wenn er es für nötig hielt, den Grusel der Geschichte zu erneuern, wurde ich angehoben und musste mit meiner kleinen, zittrigen Kinderhand die Schelle drücken.
»So, jetzt kommst du ins Kindergefängnis«, sagte mein Vater mit einer so beängstigenden Begeisterung, dass er mich wahrscheinlich wirklich abgegeben hätte, wenn jemals einer die Tür geöffnet hätte.
Ein scheppriges Surren durchhallte die leeren Gemäuer der Fabrik, die Tür blieb jedoch verschlossen. Ich plärrte wie ein Wahnsinniger, dass ich jetzt nach Hause wollte.
»Na ja, es kann ja niemand aufmachen, der kleine Markus ist ja auch angekettet, wie soll er da zur Tür kommen?«, fuhr mein Vater im gleichtönigen Duktus eines Musterbeamten fort, während sich mein Gesicht in einem Brei aus Rotz und Schnodder auflöste.
Er hatte sein Ziel erreicht, ich fiel wieder in eine apathische Schockstarre und setzte mich für die nächsten Stunden schweigend in eine Ecke, während mein Vater mit spitzen Fingern und einem genussvollen Lächeln die Plattenkisten von Easy Records nach Kuriositäten durchwühlte.