Die Spezies Lehrerkind

Wer diese Lebensbeichte bis hierher aufmerksam verfolgt hat, wird bereits bemerkt haben, dass nicht jedes Lehrerkind dem anderen gleicht. Vielmehr habe ich in meinem lebenslangen Feldversuch herausgefunden, dass sich ein Lehrerkinddasein in drei Härtegrade einteilen lässt. So wie es also ganz unterschiedliche Formen von Fußpilz gibt, existieren auch unterschiedlich starke Ausprägungen des Syndroms Lehrerkind.

Lehrerkind Stufe 1

Merkmale: Kind eines Lehrers/einer Lehrerin und eines Angehörigen einer anderen Berufsgruppe, häufig aus einem ähnlich didaktischen Bereich: Universitätsangestellter, Anwalt, Arzt. Lehrer brauchen zur Paarung jemanden, der zumindest ein wenig nach Burn-out und Verzweiflung riecht, deshalb werden auch Sachbearbeiter von Sozial- und Finanzämtern häufig Lebenspartner von Pädagogen. Wichtig: Das Lehrerkind der Stufe 1 besucht nicht die gleiche Schule wie der eigene Elternteil.

Besondere Kennzeichen: Lebt unbescholten unter den anderen Mitschülern, wenig bis keine Auffälligkeiten, zeitweise Veranlagung zum Freidenker- und Schulsprechertum, allerdings in geringer Ausprägung.

Pausenmahlzeit: Gewöhnliches Butterbrot, wahlweise mit Nutella oder Käse, auch Teewurst wird gern genommen.

Pausenhofprognose: Das Lehrerkind der Stufe 1 hat das Glück, nicht eine Schule mit seinem Elternteil besuchen zu müssen, dementsprechend kann es seine Herkunft erstaunlich oft geheim halten. Natürlich sind die ordinären Vorstellungsrunden beim Neueintritt in eine Klasse für jedes Lehrerkind ein Graus, besonders wenn die Frage nach dem Beruf der Eltern gestellt wird. Da hilft dann nur, einen epileptischen Anfall vorzutäuschen oder eine phantastische Lügengeschichte über den Verbleib der Eltern zu spinnen (»Meine Eltern sind bei einer Himalaya-Expedition verschollen, ich lebe nun bei meiner Oma«), die aber ziemlich schnell zum Fallstrick werden kann, spätestens wenn der erste Elternsprechtag ansteht. Meist durchlebt das Lehrerkind der Stufe 1 seine Schulzeit unbeschadet unter den anderen Schülern. Tendenzen zum erblich bedingten Klugscheißertum wurden zwar beobachtet, sind allerdings nur unter Laborbedingungen empirisch nachgewiesen.

Lehrerkind Stufe 2

Merkmale: Kind zweier Pädagogen, die Eltern sind jedoch beide nicht als Lehrer an der Schule des Kindes tätig, was die Lebenserwartung erheblich verlängert, jedenfalls im Verhältnis zum Lehrerkind der Stufe 3.

Besondere Kennzeichen: Zum Leben geeignet wie Franck Ribéry als Kindergärtner. Oft bilden sich schon früh Merkmale heraus, die das Lehrerkind der Stufe 2 unbeliebter machen als Intimherpes beim Gruppensaunieren. Auffallend sind der pädagogische Duktus, der sich kaum verbergen lässt (»Ja, Herr Lehrer, natürlich habe ich mein Buch dabei, sogar laminiert und mit Lesezeichen«), oder die Tendenz, sich wild mit den Fingern schnippend zu melden, als würde das eigene Leben vom Wortbeitrag abhängen.

Pausenmahlzeit: Oft dem pädagogischen Auftrag der Eltern geschuldet. Ernährungsbewusst, mit viel Grünkram wie Gurkenscheiben und Paprikawürfel auf Vollkornbrot. Nie anzutreffen sind Bärchenwurst oder eingeschweißter Mini-Käse. Infantile Verniedlichung von Fleischwaren wird von Lehrereltern nicht gutgeheißen.

Pausenhofprognose: Das Lehrerkind der Stufe 2 hat das kleine Glück, dass seine Eltern zwar Lehrer sind, aber nicht an der gleichen Schule unterrichten. Dementsprechend wird es nur in größeren Abständen mal vermöbelt, wenn einer der anderen Verdacht schöpft, weil das Lehrerkind in seiner Freizeit freiwillig Bücher liest und nicht über den derzeitigen Tabellenstand von Schalke 04 informiert ist.

Lehrerkind Stufe 3 (Nicht zur Nachahmung empfohlen)

Merkmale: Kind zweier Pädagogen, ein oder beide Elternteile unterrichten an der eigenen Schule. Schlimmeres Schicksal, als mit einem Poloch auf der Stirn geboren zu werden.

Besondere Kennzeichen: Beliebt wie ein Veganer bei den Hells Angels. Schwere Stigmatisierung nach Enttarnung, welche sich eigentlich kaum vermeiden lässt. Trägt oft selbst genetische Veranlagung zum Lehrbeauftragten in sich, wird von anderen als Klugscheißer wahrgenommen. Lebt ein Nischendasein im Schulalltag und sorgt als Sündenbock für das gemeinschaftliche Wohl. Wird beim Völkerball erst ausgewählt, wenn der letzte Bewegungslegastheniker in eine Mannschaft gerufen worden ist.

Pausenmahlzeit: Schwer von der Fächerwahl der Eltern abhängig. Bei Biologielehrern Birchermüsli und Sojamilch, verabreicht in neongrüner Tupperware. Bei Religionslehrern Oblaten und Wasser, bei Sportlehrern Obst und Proteinriegel, die härter sind als der Schließmuskel eines serbischen Gewichthebers.

Pausenhofprognose: Kinder dieser unheilvollen Verbindung zweier Lehrer, die dann noch in den zweifelhaften Genuss kommen, auf der Schule der eigenen Eltern ihre Zeit abzureißen, haben nichts zu lachen. Konstant nichts zu lachen. Wer das einmalige Gefühl nachspüren möchte, ein Lehrerkind der Stufe 3 zu sein, sollte sich einfach in die vollbesetzte Schalker Nordkurve stellen, eine schwarz-gelbe Fahne schwenken und laut »Booooorrruuuussia« brüllen. Sollte das Lehrerkind der Stufe 3 nicht sofort durch die eigenen Eltern enttarnt werden, weil diese die privaten Probleme ihrer Kinder vor der Klasse ausbreiten (O-Ton mein Vater: »Mein Sohn hat derzeit so schlimme Akne, wir nennen ihn zu Hause nur noch Westerwelle.«), so sorgen die Lehrerkollegen früher oder später dafür. Sei es, weil sie selbst die Geschichten, die die Eltern im Lehrerzimmer verbreiten, vor versammelter Klasse wiedergeben oder weil sie sich nicht entblöden, die persönliche Korrespondenz zu überbringen (O-Ton meines Grundschulklassenlehrers: »Bastian, deine Mutter hat mir eben diese Einlagen gegen Schweißfüße mitgegeben, sie sagte, du hast sie heut Morgen im Flur vergessen.«). Die Standleitung der Eltern zum restlichen Lehrkörper führt natürlich auch dazu, dass sich keine schlechte Note oder Tadel verstecken lässt, meist sind die eigenen Eltern noch vor einem selbst über eine vergeigte Klausur informiert und dementsprechend sauer. Die Demütigung ist der engste Freund des Lehrerkindes der Stufe 3, sein ewiger, hinter jeder graugelb gestrichenen Klassenwand lauernder Begleiter, der sich, solange die Eltern an der gleichen Schule tätig sind, nicht von seiner Seite löst.

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