Vom Lehrerkind … zum Lehrerkind
Als wir das Haus betraten, war alles so wie immer, die moderne Kunst meiner Mutter (vor der mein Vater immer nur kopfschüttelnd herumstand und sich über den Preis ärgerte) war genauso noch da wie das Loch in der weißen Ledercouch, das ich als Kind mit einer Lupe hineingebrannt hatte.
»In deinem Zimmer schlafen jetzt die Hunde, das stört dich doch nicht?«, fragte meine Mutter rhetorisch und erwürgte spontan das Gefühl von Nostalgie, das ich beim Eintreten in mein früheres Zuhause kurz verspürt hatte. Meine Eltern waren keine besonders sentimentalen Menschen, wobei es auch nicht sonderlich gut zu diesen beiden westfälischen Pragmatikern gepasst hätte, nachts in meinem leeren Kinderzimmer zu sitzen und in der guten alten Zeit zu schwelgen.
Stattdessen wohnten jetzt die Doggen Adenauer und Adorno in meinem Kinderzimmer und schliefen auf meiner ausklappbaren Couch, auf deren ausgeblichenem Muster fröhliche Comic-Pinguine Schlittschuh fuhren.
Es roch nach nassem Hund und alten Socken– zumindest Ersteres war anders als damals, als dieser Fünfzehn-Quadratmeter-Raufasertapetenblock noch mein persönliches Refugium gewesen war. Hier hatte ich das erste Mal mit Wachsmalkreide gemalt, das erste Mal mit He-Man gespielt und mir das erste Mal beim Basteln eine Schere in die Hand gerammt. Auf der Tapete neben dem Türrahmen waren noch Kritzeleien zu erkennen, die ich in einem Anfall kindlichen Aufbegehrens an die Wand geschmiert hatte. Ganz deutlich lesbar stand dort »Shule ist dof« in schwarzen Buchstaben auf der Tapete. Mein Vater hatte seine Korrekturen in roten Buchstaben danebengeschrieben.
Die Hunde observierten mich wie einen Eindringling und blieben hechelnd auf der Couch sitzen. Ich nahm neben ihnen auf einem Stuhl Platz und schaute aus dem Fenster. Hinter dem Garten lag das Haus der Fennermanns. Einen Augenblick glaubte ich die Umrisse der Shining-Zwillinge am Fenster ausmachen zu können.
Meine Mutter klopfte und bat mich, zum Abendessen zu kommen. Ich fühlte mich wie ein Kronzeuge, der gerufen wurde, um gegen die Mafia auszusagen, und das passte auch ganz gut, denn es gab Nudeln.
Erst rührten wir alle betreten in unseren Spaghetti herum, mein Vater zerschnitt sie zu kleinen Fäden, was jeden waschechten Italiener wahrscheinlich an den Rande des Nervenzusammenbruchs geführt hätte.
»Was ist denn eigentlich passiert«, fragte meine Mutter schließlich und sah von ihren Nudeln auf.
»Mmh«, gurgelte ich und schluckte ein wenig Nudelpampe herunter. Diese Antwort war mir lieber als: »Ich bin ein Versager, vierteilt mich bitte vor dem Haus.«
»Aha«, sagte mein Vater etwas fordernd.
Ich war auf der Sinnsuche gestrandet und hatte mit mittlerweile vierundzwanzig Jahren nichts in meinem Leben wirklich durchgezogen. Der Silberstreif am Horizont entpuppte sich als Auspuffabgas des neuen Porsche Cayenne meines Cousins Sören Malte, der gerade den Gewinn seiner Firma verdoppelt hatte. Ich wäre wirklich gerne Lehrer geworden, auch wenn meine Eltern mich für komplett verrückt erklärt hatten. Aus irgendeinem Grund dachte ich, dass ihr Talent auch in mir schlummern würde. Jetzt war da, wo ich das Talent vermutet hatte, nur ein kleines Schild, auf dem »Bitte weitergehen« stand.
»Und was willst du jetzt machen?«, brummte mein Vater.
»Ich weiß nicht, ich will mich erst mal neu orientieren«, log ich, eigentlich war mein Plan, mich vor Scham einige Zeit in eine Kolonie von Königspinguinen an den Südpol zu stellen und einsam festzufrieren.
»Vielleicht gehst du noch mal ins Berufsinformationszentrum …«, schlug meine Mutter vor, verstummte aber gleich wieder. Die Erinnerung, wie ich nach dem Tierarztpraktikum als menschgewordenes Exkrement in mein Zimmer gestürmt war, kam ihr wohl gerade wieder hoch. Angeekelt schob sie den Teller weg.
»Ja, Riesenidee, vielleicht schlägt mir Pilawa ja diesmal vor, ich könnte Pisspage oder preußischer Konsul werden.«
Meine Eltern schauten mich verständnislos an, sie kannten Pilawa gar nicht.
»Vielleicht hilft dir das ja«, sagte mein Vater und holte unter dem Tisch ein Buch hervor. Auf dem Cover strahlte mich ein braun gebrannter Mann im Armani-Anzug an, der seine Arme in Siegergeste in die Höhe streckte und lächelnd vor einem Sportwagen poste.
»›In 10 Schritten zum Erfolg – Wie ich ein Gewinner werde‹ von Sören Malte Hebeling«, las ich und erbrach fast meine Spaghetti auf den Tisch.
»Ist ein Bestseller …«, versuchte es meine Mutter noch einmal und schob den Hunden ihren Teller hin.
Ich erkannte meinen Cousin auf dem Cover-Foto sofort wieder, auch wenn ich ihn zum Glück seit Ewigkeiten nicht gesehen hatte. Sören Malte, dieser Untergang der Spaßgesellschaft, das destillierte Grauen des Kapitalismus, der geheime Gradmesser für die Erwartungen meiner Eltern. Er hatte einen Lebensratgeber für den Weg zum schnellen Geld geschrieben, der seinen rapiden Aufstieg vom humorfreien Musterschüler zum braun gebrannten Großverdiener illustrierte. Dieser seelenlose Zombie verkaufte seine hohle Botschaft nun auch noch gewinnbringend an hilflose Versager. Hilflose Versager, die wahrscheinlich einiges mit mir gemein hatten.
»Das ist doch nicht euer Ernst«, maulte ich und schob das Buch angeekelt beiseite.
»Schritt 1 besteht darin, die Ablehnung zu überwinden«, dozierte mein Vater, er hatte den Mist wahrhaftig gelesen, anstatt ihn als Dämmmaterial oder Türstopper zu benutzen.
»Die Ablehnung!«, kreischte ich. Ich war nicht mal zwei Stunden da und schon wieder kurz davor, mich selbst zum Vollwaisen machen zu wollen.
»Ich lehne das nicht ab, ich verabscheue es. Diese Kapitalistenbibel für angehende Arschgeigen. Was ist denn Stufe 2? Dass man Sören Malte sein gesamtes Erspartes aufs Schweizer Bankkonto überweist?«
»Stufe 2: Seine innere Stärke finden …«, murmelte mein Vater leise.
»Es war ja auch nur ein Vorschlag«, sagte meine Mutter und nahm das Buch wieder an sich.
»Vielleicht kannst du was bei Sören Malte machen, die suchen ja immer Leute in der Firma«, schlug mein Vater vor und las den Grad der Ablehnung an meinem Gesichtsausdruck ab. Lieber hätte ich den Rest meines Lebens Kampfhunden Einläufe verpasst, als auch nur eine halbe Stunde Sören Malte beim Suhlen in der eigenen Gottherrlichkeit zuzusehen.
Meine Mutter griff noch einmal unter den Tisch. Was jetzt wohl kam? Ein Ausbildungsvorschlag zum Rabbi oder vielleicht eine Zwangsverpflichtung als Bundeswehrsoldat?
Die Wahrheit war viel schlimmer. Meine Mutter holte den ultimativen Nervenbalsam unter dem Tisch hervor: Scrabble.
»Es ist Mooontaaag«, surrte sie und zeigte auf den Kalender an der Wand.
Der Wochenrhythmus meiner Eltern hatte sich seit meiner Kindheit also nicht verändert. Die Hunde sprangen von ihren Stühlen und gingen freiwillig in ihr Zimmer. Hätte ich auch gern getan.