»Der Doof ist dem Genitiv sein Tod«
Timo Krause grinste mich verloren durch das dicke Glas seiner Brille an, hinter ihm schnitt ein Siebzigerjahre-Tapetenalbtraum den Raum in käsebrotgroße Teile, alles war braun und ocker. Die Schränke aus kackfarbenem Eichenfurnier wurden durch eine Gruppe auf Holz geklebter Waldtiere ergänzt, die unter den Fußballwimpeln des FC Schalke eine Szene aus Bambi nachspielten. Auf der Sofalehne war vor Jahren einmal ein Harlekin mit Keramikgesicht drapiert worden, er sah verloren aus. Wenigstens die Schalkewimpel waren blau, vielleicht auch eher gelb, Timos Eltern, Jutta und Arnold, rauchten nämlich mehr als Helmut Schmidt. Alles war mit einer blass-gelben Schicht aus Nikotin überzogen, die Wohnung war in jahrzehntelanger Arbeit erfolgreich eingeräuchert worden, wodurch der grenzwertige Gelsenkirchener Barock unter einer Schicht Lungenteer nun für immer konserviert lag. Selbst Timo, der einzige Junge meiner Grundschulklasse, der lebensmüde genug war, mit mir befreundet zu sein, wirkte wie in Wachs getaucht. Die wenigen Jahre seines Lebens, die er dieser Abgashalle mit Kleintierfriedhof bereits ausgesetzt gewesen war, hatten ihm nicht gutgetan. Er war zu klein, zu dick, sah schlecht und hörte gerade mal jedes zweite Wort, das man zu ihm sprach. Doch Timo war clever, zu clever für Arnold und Jutta und ihr Prekariatsbewusstsein, das ständig irgendwo zwischen Vollrausch, Fußball und Frittenbude oszillierte.
In der Schule schrieb er fast nur gute Noten, was seinen Eltern jedoch kaum auffiel, da er als Schlüsselkind relativ früh zur Selbstversorgung übergegangen war. Mikrowellennudeln, Mikrowellenauflauf, Mikrowellensamstagabendunterhaltung, alles in Timos Leben war irgendwie schäbig und zweitklassig. Wie er es geschafft hatte, in einer so schlaffen Hülle einen so wachen Geist zu errichten, war ein Geheimnis, das bis heute kein konservativer Bildungspolitiker auf Anne Wills Betroffenheitscouch erklären könnte. Mit seiner dicken Brille und dem wächsernen Gesicht sah Timo immer ein wenig wie ein jugendlicher Hans-Jürgen Wischnewski aus.
Jutta war Justizvollzugsbeamtin a.D., was bei ihr für »akut desolat« stand, den Job des täglichen Türabschließens übte sie schon länger nicht mehr aus. Als sie sich in Arnold verliebte, war es vorbei, das kam im Knast nicht gut an. Mit einem Mann wie Arnold kommt man eigentlich nirgendwo gut an. Arnold war Langzeitgefängnisgast gewesen, sah wie ein ukrainischer Hühnerwürger aus und hatte das Gemüt eines Zementsacks. Das Leben war nicht gnädig mit ihm gewesen, und die tätowierte Träne unter seinem Auge erhöhte die Chancen für eine Anstellung bei der Sparkasse auch nur unwesentlich. Timos leiblicher Vater Jürgen war schon ewig verschollen, er hatte, als er von der Affäre seiner Frau erfuhr, rechtzeitig die Reißleine gezogen und sich aus dem heimischen Muff in die Vergessenheit katapultiert. Jetzt war Arnold da, sein plumper Körper weilte den Großteil des Tages am Couchtisch und sah Al Bundy dabei zu, wir er es ihm gleichtat. Sein Leben war ein hirnfreies Perpetuum mobile.
Timo war in diesem traurigen Lebensentwurf nur Zaungast. Arnold schlug oder kommandierte ihn nicht herum, aber er beachtete ihn auch nicht – in seinem Mikrokosmos aus Leberwurstbrot und Wimpeln war wenig Platz für ein Kind.
Nebenbei sprachen Jutta und Arnold ein Deutsch, bei dem Bastian Sick spontan eine Badewanne vollgekotzt hätte. Ihre Sprache war eine krude Mischung aus grammatikalischer Körperverletzung, Husten und diversen Wortfehlstellungen.
Timo und ich trafen uns täglich, um He-Man zu spielen. Für Kinder der Achtziger gab es eigentlich nur zwei Alternativen, sich mit Weichmachern zu vergiften: He-Man und die Transformers. Für heutige Verhältnisse, wo die effektverwöhnte Jugend nur in Verzückung zu versetzen ist, wenn Pikachu Funken furzt oder sich aus einem Spielzeug gleichzeitig eine funktionsfähige Handfeuerwaffe bauen lässt, waren unsere damaligen Spielfiguren vorsintflutlich. He-Man war eine fleischfarbene Muskelmannpuppe mit einem blonden Topfhaarschnitt, wie man ihn heute höchstens noch an Transvestiten oder Günter Netzer findet. Er ritt den Großteil des Tages durch sein erstaunlich homoerotisch aufgeladenes Königreich und bekämpfte den düsteren Skeletor, der ein wenig wie Dieter Bohlen in lila Spandex aussah und völlig grundlos böse war. Er war wie alle Kindheitsbösewichte einfach ein Drecksack ohne Begründung. Jedenfalls beherrschte dieser eigenartig hohle Kampf von Steroidklumpen unsere Kindheit, wir schlugen die Figürchen aneinander, imitierten dazu das klirrende Geräusch der Schwerter und ließen sie durch einen Parcours von Haushaltsgegenständen wackeln. Dazu lief auf einem kleinen Kassettenrecorder die Mauerfallhymne »Looking for freedom« des Brustfellbarden David Hasselhoff, der von Kindern meiner Generation gemeinschaftlich als »wichtigster Mensch der Welt« (neben Michael Jackson) anerkannt wurde. Regelmäßig sprang die Tür auf, und Jutta hatte uns etwas mitzuteilen, das jedem Deutschlehrer eine Träne der Rührung entlockt hätte:
»Mach dat Geplärre aus, sonst hat den Arsch aber Kirmes, Timo!«
Timo musterte das vergilbte Antlitz seiner Mutter mit angemessener Verachtung, schob seine Brille über den Nasenrücken und drückte die Stop-Taste des Recorders, Hasselhoff verstummte.
»Das heißt aber ›der Arsch‹, das ist das Maskulinum«, schnitt ich die Stille in kleine Teile. Das Deutschlehrergen, das irgendwo in meinem kleinen Körper schlummerte, hatte sich entschieden, die Situation der totalen Eskalation entgegenzuführen.
Jutta schaute mich an, der kleine dicke Junge, der seit so vielen Wochen schon die Nachmittage unbeachtet in ihrer Wohnung zugebracht hatte, wagte gerade wahrhaftig, ihr die Kriterien ihrer Muttersprache zu erläutern.
»Was bist du denn für ein Kackstöpsel? Timo, wem sein Balg ist das?«, geiferte sie ihren Sohn an.
Jutta, dieses neurologische Minenfeld, hatte mich herausgefordert. Ihre Grammatik war einfach nicht zum Aushalten.
»In diesem Fall sollten Sie den Genitiv anwenden, ›Wessen Balg ist das‹ wäre grammatikalisch richtig, Frau Krause«, versuchte ich ihr zu erläutern.
Juttas Kopf schwoll rot an wie die Analdrüse eines läufigen Terriers, die Verhandlungen um meinen Verbleib schienen endgültig gescheitert.
»Das ist Bastian Bielendorfer, Mama«, murrte Timo kleinlaut.
»Sag mich sofort die Nummer von deine Eltern!«, forderte Jutta die Kontaktmöglichkeit zu meinen Erziehungsberechtigten ein, die ich bereitwillig preisgab, aber nicht ohne noch einmal darauf hinzuweisen, dass es »deinen Eltern« heißen müsse, da es sich um ein Possessivpronomen Plural im Dativ handele, was Jutta mit einem Kopfschütteln quittierte. Dazu machte sie ein prustendes Geräusch, das entfernt an einen Bierkutschergaul erinnerte.
Im Wohnzimmer röhrte sie sogleich Gift und Galle in den Hörer, mein verdutzter Vater sicherte umgehend meine Abholung zu, und wenige Minuten später klingelte es an der Tür der Krauses.
Timo schaute mich traurig an, uns war beiden klar, dass es ein Abschied auf nicht absehbare Zeit sein würde. Ich sammelte meine Figuren ein, verstaute sie in meinem Rucksack und ging zur Haustür, an der schon mein Vater wartete, der sich gerade in einem Dialog mit Frau Krause befand.
Sie hatte sich immer noch nicht abgeregt und erläuterte bildreich den Grund meiner Verbannung.
»Ihr Sohn is ja wohl dat Allerletzte, haunse dem mal kräftig watt auffe Buchse. Der glaubt wohl, er wär was Besseres wie ich!«, sagte sie.
Das Gesicht meines Vaters verfinsterte sich, ein paar noch nie da gewesene Falten gruben sich in die Haut um seine Augen, er schaute strafend und im angemessenen Maße empört … Frau Krause an.
»Als! … Etwas Besseres als ich«, sagte er. »Das ist der Komparativ, Frau Krause. Sie wollen ja eine Ungleichheit ausdrücken, also müssen Sie ›als‹ verwenden.« Selten war mein pedantischer Vater für mich ein größerer Held. Ein strahlender Ritter auf einem weißen Ross, im Kampf für gute Sprache mit dem Duden in der Hand.
Heute würde man sagen: Jutta Krause sah aus, als stände sie vor der letzten Dschungelprüfung. Ihr Kopf bekam eine völlig unnatürliche Farbe, und die Tirade an Beschimpfungen, die sie vor dem Zuschlagen der Tür von sich gab, hätte jeden Gangsterrapper zum Erröten gebracht.
»Eine gänzlich unmögliche Frau, Bastian, da hast du nichts zu suchen«, sagte mein Vater, dann musste er lachen.
Hinter der Tür verschwand auch das bleiche Gesicht von Timo Krause. Ein paar Monate später verließ er unsere Klasse und kam in Obhut einer Pflegefamilie.
Er ist heute Deutschlehrer.