Der Mathematiklehrer

Der Mathematiklehrer ist eine eigenartige Persönlichkeit. Wer sich die Hälfte seines Lebens damit befasst hat, möglichst simple Erklärungen für mathematische Probleme zu finden, und sich selbst völlig der Herrschaft einer allumfassenden Logik verschrieben hat, kann in der Schule eigentlich nur scheitern. Denn in der Schule gibt es keine Logik. In der Schule ist nicht derjenige angesehen, der es besser weiß, sondern der, der eine passendere Beleidigung auf Lager hat und dessen Handy mehr Klingeltöne abspielen kann. So steht der Mathematiker, der sich zeit seines Studiums mit schwersten Fragestellungen der gehobenen Mathematik beschäftigt hat, nur um in seinem Job jetzt einen Großteil der Zeit mit dicklichen Schülern das Wurzelziehen zu üben, plötzlich vor einer geradezu unlösbaren Gleichung. Noch schlimmer ist es nur für die Grundschullehrämter, die sich durch den gleichen steinharten Bockmist gefressen haben wie die Gymnasiallehrer, dann im Laufe ihrer Schulzeit aber feststellen müssen, dass Zweitklässler keine höhere Algebra benötigen und der Satz des Pythagoras vor einer Gruppe von Sesamstraßenguckern auch nicht viel nützt.

Meist führt die erste Stunde eines neuen Lehrers an eine Weggabelung, hinter der sich seine Zukunft in zwei alternative Entwürfe teilt. Entweder der betreffende Lehrer versprüht ein wenig Autorität, verkauft sich selbst als zumindest halbwegs zurechenbares Wesen und betoniert dadurch seinen Weg in ein einigermaßen erträgliches Lehrerleben – oder er macht sich komplett zum Horst.

Frau Marxloh hatte schon beim Betreten des Klassenraums nicht die besten Karten, denn sie sah aus, als wäre sie gerade in einem Kofferraum über die Grenze geschmuggelt worden. Ihr Anblick, ihr Ausdruck, ja selbst ihr Geruch, der irgendwo zwischen halb vollem Katzenklo und Moschusochse lag, waren wie ein Reise in die Zeiten der VEB Robotron. Frau Marxloh war wie der böse Bruder des Wortes »Oldschool«, sie war nicht altmodisch, sondern direkt aus einer Zeitmaschine gepurzelt und in unseren Klassenraum gestolpert. Ihre laternenpfahlhohe Erscheinung mit Igelfrisur und Batikbluse war ein Relikt des Ostblocks, eine Trotzgeburt der DDR, die immer noch unter einer Hammer-und-Sichel-Fahne schlief und ihre letzten Ostmark nie umgetauscht hatte.

Allein ihre kurzen Worte der persönlichen Vorstellung, die jeder Lehrer traditionell an die Klasse richtet, erinnerten eher an die Einführung des neuen »Beauftragten für Verteidigung gegen die dunklen Künste« als an eine Pädagogenansprache:

»Mein Name ist Monika Marxloh, isch komme aus dem wunderschönen Brandenburg, habe im malerischen Leipzsch Mathematik schtudiert und bin nun eure neue Lehrkraft. Meine Hobbys sind die Lektüre von Kriminalromanen, besonders den Schärlock Holmes, und das Sammeln von Hummelfiguren. … Außerdem spresche isch fließend Klingonisch und habe Spaß daran, mich auf jährlichen Star-Trek-Conventions als Leutnant Uhura zu verkleiden … »Lascht uns zusammen die Untiefen der Gleichungen erkunden, an den Geheimnissen der Geometrie forschen und in die Leitsätze der höheren Algebra abtauchen!«

In meinem Kopf schwoll ein Bild an, wie Frau Marxloh als eine menschgewordene Teewurst in einem roten Overall Sex mit Captain Kirk hatte. Die Vorstellung allein machte mich fast schwul.

Frau Marxloh hätte sich auch vor der ganzen Klasse ein Glas Spreewaldgurken in die Pumphose schütten und dazu »Hänschen klein« singen können, schlimmere Prognosen als nach dieser Antrittsrede hätte es auch dann nicht gegeben. Sie war das geborene Opfer, wie ich fand, das Foto im Lexikon neben dem Wort »Loser« würde umgehend durch ein Bild von ihr ersetzt werden müssen.

Doch ich hatte mich geirrt. Frau Marxloh war nicht im Geringsten so wehrlos, wie ihre plumpe Erscheinung zuerst vermuten ließ.

Sie war nicht nur eine optische Obskurität, auch ihre Lehrmethodik hatte mehr von der allherrlichen Autorität einer Leninkundgebung als von einer normalen Unterrichtsstunde. Sie trug immer einen fingerlangen Stift mit sich, der sich bei Bedarf zu einer goldenen Rute teleskopieren ließ. Diesen nutzte sie nicht nur als Zeigestock, sondern auch um in der Frequenz eines blähenden Dackels zu tadeln und auf die Tische zu trommeln. Frau Marxloh hätte, wenn sie nicht wie eine verirrte Leuchtturmwärterin ausgesehen hätte, locker in einer Rockband spielen können, denn das, was sie teilweise mit ihrem Stöckchen in das blanke Holz trommelte, hätte auch einer Gruppe Galeerensklaven zur Motivation gereicht. Ich möchte nicht behaupten, dass Frau Marxloh das personifizierte Böse war, sie war aber sicherlich so etwas wie die heimliche Urlaubsvertretung des Bösen: Wenn der Teufel mal im Führerbunker Urlaub machte, sprang sie gerne ein.

Frau Marxloh war der Ausgangspunkt meiner lebenslangen Ablehnung gegen die Spezies der Mathematiklehrer, da es viele Eigenheiten an ihr gab, die ich später an anderen Lehrern dieses Ausnahmefachs wiederentdecken konnte. So war sie trotz ihrer Eigenheit, sich wie ein adipöses, japanisches Schulmädchen zu kleiden, zu einem Grad akkurat, dass man eine Atomuhr nach ihr stellen konnte. Jede Gleichung saß perfekt, jede mathematische Formel konnte sie aus dem Gedächtnis fehlerfrei wiedergeben, und oft genug bekamen begriffsstutzige Schüler bei einer Unterhaltung mit Frau Marxloh das Gefühl, einen Hirnlappen zu wenig zu haben. Frau Marxloh war vielleicht ein Exot im Lehrkörper und befolgte nicht unbedingt alle Regeln des menschlichen Umgangs, ihrer fachlichen Eignung tat das aber keinen Abbruch. Sie war, wie es viele Mathematiklehrer sind, weit überqualifiziert und hätte es in der Entwicklungsetage eines Softwareriesen oder einer Sternwarte besser gehabt. Natürlich nur, wenn man ihr den goldenen Schlagstock gelassen hätte.

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