Die Bundesjugendspiele
Befürworter der Bundesjugendspiele argumentieren, die Veranstaltung habe durchaus eine Existenzberechtigung, da leistungsschwache Schüler mit ihrer Hilfe fernab des schulischen Alltags einmal ein Erfolgserlebnis feiern könnten. Übersetzt heißt das: »Das Kind ist zwar doof wie drei Meter Feldweg, kann aber weit springen, also gebt ihm die Medaille!«
Für mich waren die Bundesjugendspiele immer der Anlass für öffentliche Schmach, seit meiner ersten Teilnahme in der Grundschule verfluchte ich diesen Tag. Auch auf dem Gymnasium gab es sonst kaum eine Gelegenheit, die so viele Möglichkeiten bot, ausgiebig zu versagen. Nicht nur eine, gleich eine Handvoll Disziplinen gaben mit Blick auf meinen Körper, der eher wie eine menschgewordene Puddingbrezel wirkte, Anlass zur Sorge. Ich war überdurchschnittlich groß, überdurchschnittlich breit und überdurchschnittlich beschissen in jeder Art von Sport. Ich warf wie eine Vierjährige, sprang so weit wie eine Oma in seniler Bettflucht, und beim Laufen schleuderten die Zentrifugalkräfte mein teigiges Speckbäuchlein hin und her wie einen Pizzafladen. Außerdem gab es kaum einen Sportanzug in meiner Größe, der nicht das Attribut »entwürdigend« verdiente hätte und von meinen Eltern nicht mit einem herzhaften Lachen belohnt worden wäre. Einmal druckte mein Vater sogar ein Bild von mir im Sportanzug auf eine seiner Neujahrsgrußkarten und setzte den Satz »Im nächsten Jahr wird alles besser« darunter.
Die Bundesjugendspiele waren eine Farce für dicke Kinder wie mich. Einmal im Jahr bekam man die verbriefte Bestätigung, eine arme Wurst zu sein, immer in Form eines blanken Stück Papiers, auf dem statt »Du kannst nix und bist blöd« einfach »Teilnehmerurkunde« stand.
»Teilnehmerurkunde« war sowieso der euphemistischste Begriff aller Zeiten, warum bekam man eine Urkunde, wenn man einfach nur »da« gewesen war. Anwesenheit ist keine Leistung, man bekommt ja auch keinen Pokal dafür, dass man geboren wird oder mit dem Bus nach Hause fährt. Auf dem billigen Vordruck stand immer krakelig mein Name mit Filzstift in ein freies Feld eingetragen, meist hatte der Sportlehrer, der mich mit fast schon bemerkenswertem Engagement verachtete, ihn sogar falsch geschrieben. Da stand dann »Sebastian Bielendörfer« oder »Bastian Bielefeld«. Ich war also noch nicht einmal ein Teilnehmer, nein, mein Beisein in der Veranstaltung war nicht einmal die Erwähnung meines Namens wert.
Natürlich gab es auch höhere Ehren als die schnöde Teilnehmerurkunde, anderen Kindern winkten die zweifelhaft benannte »Siegerurkunde« oder, in Einzelfällen, sogar die persönlich vom Bundespräsidenten unterschriebene »Ehrenurkunde«.
Eigentlich traurig, dass das einzige Dokument in einer gesamten Schullaufbahn, das vom Bundespräsidenten signiert wird, eine Bestätigung darüber ist, dass man einen Klops aus Leder über 30 Meter geschleudert hat. Ich hätte mich gefreut, mal unter einer besonders guten Deutschklausur zu lesen: »Sehr gut, Bastian, vielen Dank für die tolle Klausur, weiter so! Dein Richard von Weizsäcker.« Nichts da, weder der Bundespräsident noch die restlichen Zuschauer der Veranstaltung schienen sonderlich viel für mich übrig zu haben.
Besonders fürchtete ich den Staffellauf. Bei den anderen Disziplinen bestand zwar auch die Gefahr, als Vollhorst dazustehen, beim Staffellauf zog man aber gleich noch den Zorn aller Mitläufer auf sich. Der Staffelstab war ein glänzendes, dildogroßes Metallstöckchen, an dem die zerplatzten Hoffnungen von Generationen von Schülern klebten, die Handabdrücke von meinen vielen erfolglosen Vorgängern.
Obwohl man die Bundesjugendspiele immer im Sommer veranstaltete, pisste es im Regelfall wie aus Eimern, nach einer halben Stunde stand der Sportplatz knietief unter Wasser und die paar Elternpaare, die ihren Kindern zujubeln wollten, hatten sich durchnässt mit ihren dösigen Fähnchen unter ein Vordach gestellt. Meine Eltern erschienen in sicherer Erwartung meiner Blamage von vornherein nicht, und ich hätte es ihnen gern gleichgetan.
Vor dem Termin erkrankte ich wie auf Kommando an einer Menge exotischer Krankheiten. Ich suchte mir die entsprechenden Begriffe aus diversen Lexika heraus, am besten waren immer Krankheiten, deren Diagnose äußerst schwierig und deren Symptomatik maximal mehrdeutig war. Doch weder meine Imitation trockener Lepra mit Spielknete noch meine am Glühlampenrand auf Fieberhöchstmaße geschraubten Thermometerwerte hielten meine Eltern davon ab, mich zur Teilnahme zu zwingen.
So stand ich da, der Regen prasselte auf mein knabenbebustes Leibchen herab, als wollte Gott mich anpinkeln, und meine welligen Haare lagen angeklatscht an meinem Kopf wie der Damenbart der Queen.
Nur noch wenige Sekunden konnte es dauern, dann würde Ingo Holzmann, ein Junge, der zwar auch unsportlich und unansehnlich war, aber das stille Glück hatte, in beiden Dimensionen von mir übertroffen zu werden, mir den Staffelstab überreichen. Ich sah ihn schon am grauen Horizont der rotsandigen Laufbahn erscheinen. Seine Wangen labberten wie pinke Airbags an seinem Gesicht auf und ab, seine picklige Stirn erinnerte stark an die klobige Masse von Puffreis, und sein Kopf sah aus, als würde er bald platzen.
Neben ihm lief Julian Schlender, der Klassenschönling, ein guter Sportler, ein guter Schüler und bei allen Mädchen sehr beliebt. Kurz gesagt, ein Riesenarschloch. Schlender war deutlich schneller als das plumpe Häufchen namens Holzmann, und er erreichte die Staffelübergabe einige Sekunden früher. Nun lag es an mir, ich musste die verlorenen Sekunden wieder gutmachen, Schlender überholen und das erste Mal in meinem Leben einen sportlichen Wettbewerb gewinnen. Holzmann streckte mir prustend den Staffelstab entgegen, ich griff zielsicher an dem nassen Stück Metall vorbei und packte mit voller Wucht in Holzmanns mickriges Säckchen, das von einer blauen Adidas-Sporthose verhüllt war. Der Staffelstab fiel klirrend zu Boden. Nicht nur, dass das Wettrennen damit eindeutig gelaufen war, ich hatte auch den armen Ingo Holzmann in aller Öffentlichkeit beinahe entmannt. Er fing abrupt an zu weinen und schnaufte dabei wie ein Frettchen, das sich an einer toten Ente verging.
Anstatt den Staffelstab noch aufzuheben und Julian Schlender hinterherzurennen, trat ich das dämliche Stück Metall über den halben Sportplatz. Schade, dass es dafür keine Disziplin gab, die Entfernung hätte keiner geschlagen.