Der Lateinlehrer
Kommen wir nun zu einer Spezies Lehrer, deren Beschreibung
ein besonderes Fingerspitzengefühl verlangt, dem Lateinlehrer. Das
Selbstvertrauen des gemeinen Lateinlehrers speist sich einerseits
zwar daraus, dass er ein besonders altehrwürdiges und klassisches
Fach unterrichtet, ist andererseits aber auch stark davon
angekratzt, dass sein Lehrgegenstand in etwa die gleiche
Alltagsnähe und Relevanz hat wie das Erlernen des Morsealphabets
oder der Schädelvermessung. Der Lateinlehrer lebt ständig in der
Grauzone zwischen selbst empfundener Wichtigkeit der lateinischen
Sprache (»Allein schon für die humanistische Bildung, mein Kind!«)
und dem aufkeimenden Bewusstsein, dass man ebenso gut
Hirschpaarungslaute oder Klingonisch lehren könnte. Als Reaktion
auf diese innere Dissonanz versucht sich der Lateinlehrer im
Schulalltag durch das Tragen von Filzjacken-Cordhosen-Kombinationen
in Taubenkotdunkelgrün zu tarnen und so die vierzigjährige
Dienstzeit in der Lauerhaltung eines Kieselsteins einfach
auszusitzen.
In der Zwischenzeit wird auf Lehrerseite dekliniert und
konjugiert, was das Zeug hält, während auf Schülerseite eher
malträtiert und defloriert wird. Der Lateinlehrer hangelt sich mit
dem andauernden Bewusstsein der eigenen Obsoleszenz durch den
Schuldienst, was eigentlich den Sportlehrern gut zu Gesicht stehen
würde, von diesen aber (leider!) so nicht empfunden wird. (Warum
das so ist, erkläre ich später.)
Den Hinweis der Schüler, dass Latein »so tot wie Napster«
sei, überhört der nicht gerade technikaffine Lateinlehrer gern,
ebenso wie die Frage, warum in »Ben Hur« und
»Gladiator« denn kein Latein gesprochen werde, wenn die
Sprache doch so bedeutsam sei?
Eigentlich wäre es sinnvoller, Jugendliche in der
Mammutjagd und der Wartung von Gaslaternen zu unterrichten, anstatt
jahrelang über eine Sprache zu dozieren, die höchstens bei einer
Berufung in den Vatikan noch vonnöten ist.
Natürlich muss erwähnt werden, dass viele Hochschulfächer,
allen voran Medizin und Theologie, das Latinum voraussetzen,
allerdings ist auch hier in der alltäglichen Praxis die wirkliche
Verwendung der lateinischen Sprache fraglich.
Als mögliches Beispiel für die Alltagsfremde der
lateinischen Sprache sei folgendes Gespräch zwischen einem Arzt und
seinem Patienten als Beispiel gegeben:
Der junge Assistenzarzt Ingo Hullermann,
gerade aus dem lateingeprägten Medizinstudium entlassen, klärt
Herrn Göller, 72, gerade aus dem jahrelangen Vollrausch entlassen,
über ein akutes medizinisches Problem auf.
Dr. Hullermann: »So, Herr Göller, nach eingehender
medizinischer Diagnostik muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie an
Steatosis hepatis leiden.«
Herr Göller: »Watt?« (Dreht sich eine Zigarette, speichelt
hustend das Filterblättchen ein und wirkt im Gesamten leicht
genervt.)
Dr. Hullermann: »Es ist so, Sie müssen gewisse
Modifikationen Ihrer Lebensweise dulden, wenn Sie diesen Morbus gut
überstehen und rekonvaleszent werden wollen.«
Herr Göller: »Watt is Doktor? Ich versteh nix!« (Herr
Göller hustet gelben Rotz, der die Konsistenz von Theodor zu
Guttenbergs Haarpomade hat.)
Schnitt. Hier endet die Praktikabilität der lateinischen
Sprache.
Dr. Hullermann: »Okay, alter Junge, wenn Sie nicht mit dem
Saufen aufhören, sind Sie, mit Verlaub, am Arsch.«
Herr Göller lässt die Kippe fallen und bekommt
Schnappatmung.
Unter der Cordrüstung des Lateinlehrers, die
von einem leicht schmuddeligen Stoppelbart und
Postbotenledermokassins komplettiert wird, schlummert (insbesondere
im Vergleich zu anderen Pädagogen, die sich ja eigentlich dauerhaft
innerberuflich paaren, was wiederum die vielen Lehrerkinder
erklärt) außergewöhnlich oft ein Single. Lateinlehrer sind
statistisch signifikant oft alleinstehend, was wahrscheinlich auch
daran liegt, dass es neben Atomphysik und Informatik kaum ein
Themengebiet gibt, das Frauen so zielsicher bis ins Wachkoma
langweilt.
Wenn es dann doch zu Verbindungen kommt, bewahrheitet sich
wieder die alte Regel, dass berufsinterne Verpaarung meist die
höchsten Erfolgsaussichten hat. Wie auch Mediziner und Juristen
haben Lehrer die Tendenz, sich hauptsächlich im Kollegium zu
verlieben. Dies untermauert nicht nur die alte Binsenweisheit
»Gleich und Gleich gesellt sich gern«, sondern führt auch zu manch
erheiternder Episode, wenn man Lehrer dabei beobachtet, wie sie
versuchen, sich an Vertreter anderer Berufsgruppen ranzumachen.
Ungelenk wie ein Königspinguin, der ein Shetlandpony besteigen will
und vor der fremden Spezies steht, doof guckt und sich fragt, wie
er da bloß jemals hochkommen soll, sind auch Lehrer in der
Beziehungsanbahnung gegenüber fremden Berufsgruppen so locker wie
Gießbeton. Es passt einfach nicht, der fremde Geruch des
potenziellen Opfers, der so gar nicht an Kaffeesatz, frisches
Kopierpapier und Filterzigaretten erinnert, die fremden Bewegungen,
die ohne erhobenen Zeigefinger auskommen und auf den belehrenden
Duktus verzichten, schließlich das fehlende Wissen über den Feind,
den gemeinen Klassenfeind, den Schüler, ohne das der Lateinlehrer
niemals durchs Leben kommen würde. Worüber soll man da schon reden?
Kommunikation in Beziehungen reduziert sich über die Jahre immer
auf das Wesentliche, und es gibt nun mal nicht viele Schnittpunkte
zwischen einer entnervten Mathematiklehrerin und einem Orthopäden,
der alltäglich schlaffe Seniorengelenke zum Einrasten
bringt.
Unser Lateinlehrer Herr Fischer war ein Paradeexemplar
eines Lateinlehrers, das feiste Wohlstandsbäuchlein immer unter
grob gehäkelten Pullundern verborgen, auf denen sich rote Rentiere
auf ewig wie irre im Kreis drehten. Herr Fischer ernährte sich
eigentlich nur von Bananen, was ihn im Zusammenhang mit seiner
wuchernden Körperbehaarung (manchmal war man sich nicht sicher, ob
das noch Pullunder oder schon Oberkörper war) zu einer Art Missing
Link zwischen Primat und Oberstufenpädagogen machte. Wegen seiner
leicht feuchten Aussprache verlangte es den Schülern der ersten
Reihe doch einiges an Mut ab, ohne Regencape eine ganze
Unterrichtsstunde durchzustehen. Die Bananenstücke flogen bei
seinen häufigen Monologen manchmal meterweit in den Klassenraum,
gierende Tauben wackelten vor den Fenstern auf und ab und hätten
sich zu gern auf Herrn Fischers Hinterlassenschaften gestürzt. Die
lateinische Sprache ist so schon nicht arm an S-Lauten, besonders
gefürchtet waren jedoch die Unterrichtsstunden, in denen Herr
Fischer über »Scipios Feldzug« berichtete und die Bananenreste
manchmal in olympischen Rekordweiten durch den Klassenraum
schleuderte.
Trotzdem muss man Herrn Fischer enormes Bemühen um sein
Fach und die Schüler attestieren. Er verbrachte nicht nur seinen
beruflichen Alltag in der Schule, sondern auch seine Freizeit.
Häufig wenn sich ein durchgefrorener Trupp an Sechstklässlern durch
die nasskalte Dunkelheit eines Dezembermorgens zum Schulgebäude
vorgekämpft hatte, saß er schon mit einer Thermoskanne und der
Tageszeitung in seinem Volvo 80 und wartete auf den
Unterrichtsbeginn. Wo andere Lehrer sich morgens völlig entmutigt
aus den Laken schälten, schon bei der Hinfahrt zur Schule von der
Unlust gepackt den nächsten Baum anvisierten und nur im letzten
Moment noch das Steuer herumrissen, gab es bei Herrn Fischer nur
Frohsinn und Begeisterung über das eigene Schulfach. Herr Fischer
war einer der wenigen Lehrer, die sich der humanistischen Bildung
mit Leib und Seele verschrieben hatten.
Die Splittergruppe der weiblichen Lateinlehrer wird hier
nicht ausführlich erwähnt, erstens weil die Lehrerinnen viele
Grundeigenschaften mit ihren männlichen (Leidens-)Genossen teilen
(abgesehen von dem Hang zur speckigen Lederjacke, die man sonst
ohnehin nur bei Männern findet, die in den hintersten Ecken der
Bahnhofsbuchhandlung nach Heften über Sex mit dicken, haarigen
Frauen suchen), zweitens weil sie einen so geringen Teil der
Gesamtpopulation ausmachen, dass sie kaum eingehend zu analysieren
sind.