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»Nun sag schon, Jen, wo wohnt er in Langley?« fragte Greg. »Seine Telefonnummer hab ich, jetzt brauche ich noch seine Adresse.«
»Frag ihn doch selbst. Wenn er sie dir geben will, wird er sie dir schon sagen.«
»Oh, ich bezweifle sehr, daß er sie mir geben will. Aber ich will sie haben.«
Jenny seufzte ungeduldig und blickte über die Schulter, um zu sehen, ob Mr. Stoddard in der Nähe war. Er mochte nicht, daß seine Angestellten Privatanrufe bekamen, das hatte sie Greg schon oft genug gesagt. »Greg, ich muß jetzt aufhören.«
»Es ist mein gutes Recht, zu wissen, wo er wohnt, und auch mit ihm zu sprechen, wann ich will.«
»Ich weiß nicht, wie du es fertigbringst, dir das alles in vierundzwanzig Stunden auszudenken. Du bist einfach kindisch.«
»Und du bist ein Feigling, Jenny. Das hätte ich nie von dir gedacht. Und Mr …«
»Nenn es, wie du willst. Mir ist das völlig schnuppe.« Sie legte auf.
Greg ist bestimmt in Rittersville, dachte sie. Dorthin fuhr er gewöhnlich Montag nachmittags — zum Drugstore in der Stadt und zu dem im Einkaufszentrum. Falls Greg Robert tatsächlich anrufen sollte, um halb sechs oder um sechs oder wann Robert eben nach Hause kam, dann würde dieser ihm zweifellos versichern, daß sie nicht die Absicht hätten, einander wiederzusehen. Jenny hatte es Greg nicht selbst sagen wollen. Das hätte Greg als Sieg für sich gebucht, und sie fand, daß er sich schändlich benommen hatte und keinen Sieg verdiente, noch nicht mal einen kleinen. Und dies war doch wirklich ein kleiner Sieg, denn ihre Gefühle für Greg und für Robert waren davon nicht im geringsten beeinflußt worden.
Jetzt mußte sie das Geld in ihrer Schublade noch einmal nachzählen, weil sie nicht angemerkt hatte, wo sie war, als Steve sie ans Telefon gerufen hatte. Sie begann noch einmal mit den Fünfhundert-Dollar-Scheinen.
»Buh!« machte Steve und faßte sie von hinten um die Taille. »Mit wem hast du denn eben telefoniert?«
»Hör auf, Steve, ich bin doch am Zählen!«
»Greg kann’s wohl nicht abwarten, wie?« fragte er und ging weiter.
Jenny zählte verbissen weiter, den Kopf gesenkt. Aus der Lüftungsklappe unter ihren Füßen strömte es heiß. Daheim würde es kalt sein, wenn sie kam. Sie würde den Thermostat einstellen, und in zehn Minuten würde das ganze Haus mollig warm sein. Aber sie würde allein sein heute abend, ohne einen Menschen, der ihr beim Essen Gesellschaft leistete. Und dabei war Robert so nah, war in Langley, keine fünfzehn Meilen von ihr entfernt. Er hatte nicht gesagt, daß er nach New York zurückkehren wolle. Jenny überlegte, ob sie ihm glauben sollte, was er über seine Frau gesagt hatte. Aber eigentlich glaubte sie nicht, daß Robert log, und wenn, dann sehr geschickt, so geschickt wie gestern — falls er gestern gelogen hatte —, so geschickt, daß sie glauben mußte, daß er verheiratet war. Vielleicht würden sie sich nicht wieder versöhnen, überlegte sie. Wer konnte sagen, was geschehen würde? Niemand. Sie wünschte weder, daß Robert zu seiner Frau zurückkehrte, noch das Gegenteil, denn es war sinnlos, los, in diesem Fall irgend etwas zu wünschen. Und überhaupt, im Grunde wünschte sie nur, daß Robert glücklich war. Komisch, daß er dauernd behauptete, er wünsche dasselbe für sie.
Jenny addierte die Endsumme — elftausendfünfundfünfzig Dollar und sieben Cent — , schob die Geldlade in den Tresor und verschloß ihn mit dem Schlüssel an ihrem Schlüsselbund. Dann trug sie die Einzahlungsformulare, die ungültig gemachten Schecks, die Kreditrückzahlungen und -verlängerungen und die Einzahlungen für die Weihnachtssparkonten hinüber zu Rita, die im hinteren Büro an der Kontrollmaschine saß.
»Mrs. McGrath glaubt, sie hat zehn Dollar zuwenig bekommen«, sagte Jenny. »Sieh doch mal nach! Hier ist die Abrechnung.«
»Ach, die McGrath. Die denkt dauernd, sie hat zuwenig bekommen«, sagte Rita, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
Jenny verließ die Bank um zwanzig nach vier. Sie hoffte, Robert würde kurz und bündig ein Zusammentreffen mit Greg ablehnen. Sie konnte sich gut vorstellen, daß sich Greg in eine derartige Wut hineinsteigerte, daß er Robert schlagen, ja sogar zusammenschlagen würde. Greg hatte in einem Sportverein geboxt und war stolz auf seinen harten Schlag. Furchtbar, auf so etwas stolz zu sein, dachte Jenny. Jeder Idiot kann lernen, einem anderen ins Gesicht zu dreschen … Sie konnte sich nicht vorstellen, daß Robert die Hand gegen einen Menschen erhob. Er sah so sanft aus, und für Jenny war Sanftheit die männlichste aller Tugenden. Sie sah Roberts Gesicht vor sich, sein dichtes, braunes Haar, seine hellbraunen Augen, seinen Mund, ein wenig nach links herabgezogen, das Kinn mit dem winzigen Grübchen, sie sah ihn, wie er gestern nach dem Skilaufen ausgesehen hatte, in weißem Hemd und dunkelgrauer Hose, wie er sich bückte, um Holz aufs Feuer zu legen. Es schien ihr, als würden ihre Glieder zu Wachs, und sie mußte sich fest ans Lenkrad klammern, um den Wagen auf der Straße zu halten.
Zu Hause verstaute sie Salat und Schweinskoteletts, die sie zum Abendessen gekauft hatte, im Kühlschrank und nahm erst einmal ein Bad. Es war zwar nicht die gewohnte Zeit für ihr Bad, aber sie dachte, ein Bad würde sie entspannen und ihr die Zeit vertreiben, bis später der unvermeidliche Anruf von Greg kam. Warum machten sich die Menschen nur das Leben so schwer? Als Fritzie Schall in Scranton, der Junge, in den sie so verliebt gewesen war, sie wegen einer anderen hatte sitzenlassen, hatte sie sich damit abgefunden und nicht versucht, ihn noch einmal zu treffen oder anzurufen. Greg hingegen …
Sie zog einen alten Rock, Pullover und flache Schuhe an und goß ihre Blumen. Dann wischte sie im Wohnzimmer Staub und spülte das wenige Geschirr, das sie am Morgen hatte liegen lassen müssen, weil sie sonst zu spät ins Büro gekommen wäre. Sie setzte sich mit einer Tasse Kaffee und ihrer Modern-Library-Ausgabe von Keats und Shelley ins Wohnzimmer. Sie schlug zunächst Keats auf, aber Keats lag ihr jetzt nicht, schon eher Blake. Sie zog den großen Band mit Werken von Donne und Blake aus dem Regal. In Verse und Fragmente hatte sie einige Passagen unterstrichen:
Zwischen alle Not und Pein
Mischt sich Freude mit hinein.
Sie erinnerte sich, daß sie früher diesen Vers nie ganz ver—- standen hatte.
Wer Spott mit Kinderglauben treibt
Selbst bis ins Grab verspottet bleibt.
Und dem, der Kinder zweifeln lehrt,
Sei Auferstehung ganz verwehrt.
Wer Kinderglauben respektiert,
Vor Höll und Tod stets siegen wird.
Der straffe Rhythmus der Zeilen war ebenso tröstlich wie ihr Inhalt.
Sie fuhr zusammen; das Telefon hatte geläutet. Es war erst fünf nach sechs.
»Ein Ferngespräch. Bitte sprechen.«
Es war Jennys Mutter; sie rief aus Scranton an. Sie war furchtbar aufgeregt, daß Jenny Greg nun nicht heiraten wolle, wie sie nach Scranton geschrieben hatte.
»Was ist denn nur los, Jenny? Sogar dein Vater macht sich Sorgen.«
Sie sah ihre Mutter genau vor sich, wie sie steif auf dem unbequemen Stuhl in der Diele saß, vermutlich noch in der Schürze, denn zu Hause wurde um sechs gegessen, und Mutter hatte bestimmt das Abendessen um ein paar Minuten aufgeschoben, weil nach sechs Ferngespräche billiger waren.
»Gar nichts ist los, Mammi. Ich liebe ihn einfach nicht genug. Ich hab’s schon seit Wochen gewußt, aber jetzt …«
»Du hast doch nicht etwa einen anderen, Häschen?«
Jenny war froh, daß Greg ihre Eltern noch nicht angerufen hatte. Sie hätte ihnen so gerne von Robert erzählt und andererseits auch wieder nicht. Ein verheirateter Mann! Sie würden entsetzt sein. Aber sie hatte sich auch vorgestellt, wie sie mit ihnen bei Tisch sitzen und erzählen würde, was Robert sprach und was er tat und wie er aussah und wie reif er war — genau, wie sie immer von den Jungen und Mädchen in der Schule erzählt hatte, die sie mochte. Sie mußte einfach über die Menschen sprechen, die sie gern hatte, und wenn es vielleicht auch naiv war.
»Nicht wahr, Jenny, es ist doch ein anderer im Spiel, nicht?«
»Ja, aber ich glaube nicht, daß ich ihn wiedersehen werde, weil das unmöglich ist. Mein Gott, Mammi, du tust, als wäre ich ein Kind!«
»Na ja, was erwartest du denn von deinen Eltern? Wir schicken schon beinahe die Einladungen zur Hochzeit raus, und dann kriegen wir so einen Brief! Wer ist es denn?«
»Er heißt Robert.« Es erfüllte sie mit kindlicher Freude, seinen Namen ins Telefon sprechen zu dürfen, daß man ihn bis nach Scranton hörte.
»Robert — und wie noch?«
»Mammi, das ist doch unwichtig. Ich werde ihn ja doch nicht wiedersehen.«
»Ich glaube, Kind, das ist auch besser so. Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Ich habe ihn auf ganz normale Art und Weise kennengelernt«, sagte sie mit hartem R, wie immer, wenn sie Entschiedenheit in ihre Stimme legen wollte. »Aber wir haben beschlossen, uns nicht mehr zu treffen, und damit ist die Sache erledigt.«
»Nun, er kann sich wohl nicht allzuviel aus dir machen, sonst würde er dich ja wiedersehen wollen. Also, ich schlage vor, du beruhigst dich erst mal ein bißchen, und dann schaust du dir Greg noch mal ganz gründlich an. Greg ist ein netter, zuverlässiger Mensch, Häschen, und er hat dich sehr, sehr gern, das merkt man. Dein Vater mag ihn auch«, fügte sie hinzu, als sei das ein Argument. »Und jetzt müssen wir Schluß machen, es ist ja schließlich ein Ferngespräch. Aber ich hab gedacht, es ist so wichtig, daß ich dich noch heute abend spreche.«
»Wie geht’s Don, Mammi?«
»Don geht’s gut. Er macht seine Schularbeiten bei einem Freund und bleibt zum Essen dort, sonst hätte er dir guten Tag gesagt.«
Schularbeiten, dachte Jenny. Und Don ist Senior im College! Ihre Mutter tat so, als wäre er zehn Jahre alt.
Schließlich versprachen sie, einander zu schreiben und legten den Hörer auf.
Jenny stellte die Koteletts auf den Herd. Wenn sie jetzt nicht damit anfing, würde sie heute abend bestimmt nichts Rechtes mehr in den Magen bekommen. Ihr Lieblingsessen waren Salate, und wenn es nach ihr ging, hätte es nichts anderes zu geben brauchen. Kopfsalat, Salat aus Radieschen, Sellerie, Tomaten, Böhnehen, Karotten, aus allem, was da grün ist. Darum hatten ihre Eltern sie Häschen getauft. Ihr Vater hatte immer befürchtet, sie könnte Anämie bekommen. Ihre Eltern fürchteten ständig irgend etwas. Nach einer Minute nahm Jenny ein Kotelett wieder heraus. Eins war genug für sie. Sie schob es ins Kühlfach und fing an, den Salat zu machen.
Kurz vor sieben rief Greg an.
»Guten Abend«, sagte er. »Ich hab interessante Neuigkeiten. Mr. Forester geht nach New York zurück.«
»Ach, wirklich?« fragte Jenny. »Ich glaube, das ist für dich interessanter als für mich.«
»Vielleicht genauso interessant. War ‘n ziemlich plötzlicher Entschluß von ihm. Und dann war er auch noch zu feige, mir zu sagen, wo er wohnt. Ich dachte, das interessiert dich vielleicht doch.«
»Ganz und gar nicht.«
»Und dann hab ich dir noch was zu sagen: Ich hab seine alte Nummer in New York angerufen, einfach auf gut Glück, und da ist seine Frau rangekommen. Sie lassen sich scheiden, Jenny, und nach allem, was sie mir erzählt hat, kann ich gut verstehen, warum. Der hat nicht alle Tassen im Schrank!«
»Was du nicht sagst! Wirklich?«
»Ja, es ist so.«
»Und das ist der Grund für die Scheidung? Das möchte ich doch sehr bezweifeln.«
»Nein, nur Ehebruch in New York. Ich möchte annehmen, daß Mr. Forester davon auch ein bißchen auf dem Kerbholz hat. Aber seine Frau hat mir sehr deutlich erklärt, daß es bei ihm nicht ganz stimmt. Es ist wohl kaum anzunehmen, daß Mr. Forester das zugeben wird, wie? Weißt du, daß du mit deinem Leben gespielt hast, als du ihn zum Essen eingeladen hast? Großer Gott! Manchmal glaube ich fast, du solltest dich auf deinen Verstand untersuchen lassen, Jenny.«
»Du kannst mir mit deinen Ratschlägen gestohlen bleiben!« sagte Jenny außer sich. Sie war noch nie so wütend auf ihn gewesen. »So eine Schnapsidee, seine Frau in New York anzurufen! Mein Gott, heißt das vielleicht nicht, die Nase in anderer Leute Angelegenheiten stecken!«
»Ich nenne das: Nachforschungen anstellen, und ich bin froh, daß ich’s getan habe. Daß diesem Lumpen hier der Boden zu heiß geworden ist, das hast du mir zu verdanken, Jen. Übrigens, deine Freundin Rita hat noch nie etwas von ihm gehört. Was hast du dazu zu sagen?«
»Junge, Junge, du hast wirklich die Telefonitis gehabt heute, wie?«
»Warum hast du behauptet, er ist ein Freund von Rita?«
»Weil du so neugierig bist. Ich mußte doch was sagen, damit du Ruhe gibst.«
»Ich bin ganz und gar nicht ruhig, mein Mädchen.«
»Wenn du glaubst, du machst dich mit all dem bei mir beliebt, dann bist du auf dem Holzweg.«
»Vielleicht doch nicht ganz. Jedenfalls ist es besser, wenn man die Wahrheit weiß, findest du nicht? Mr. Forester hat sich nicht getraut, die Wahrheit zu sagen. Er wollte weder zugeben, daß du in ihn verknallt bist, noch daß er davon was gemerkt hat.«
»Gemerkt? Wovon?« fragte sie.
»Jenny, wir wollen uns doch nicht zanken. Als seine Frau sagte, daß er verrückt ist, da hab ich angefangen, zwei und zwei zusammenzuzählen. Sag mal, Jen, der Voyeur, das war doch nicht etwa er? Kennst du ihn daher? Antworte!«
»Ich glaube, du hast den Verstand verloren«, sagte Jenny.
»Weshalb weinst du denn jetzt? Um Gottes willen, Jenny, ich wollte doch nicht, daß du weinst! Hör zu, kann ich zu dir kommen? Ich bin in Langley. In spätestens einer halben Stunde kann ich da sein.«
»Ich will dich nicht sehen.«
»Hm, hm«, knurrte er. »Als ich Mr. Forester das von Rita unter die Nase rieb, hat er sich geweigert, mir zu sagen, wie ihr euch kennengelernt habt. Ich hab ihn gefragt, ob er es war, der sich um dein Haus rumgeschlichen hat, und hab ihm von den Geräuschen erzählt, die wir gehört haben. Und dann hab ich ihm erzählt, was seine Frau gesagt hat. Mr. Forester war mächtig empört, Miss Thierolf. Der haut ab von hier, darauf kannst du Gift nehmen. Und wenn er’s nicht tut, dann werd ich ihm Beine machen!«
Jenny legte auf. Sie ging zum Spülstein und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser. Dieser verdammte Greg! Er war noch schlimmer als Susie Escham, die auch immer ihre Nase in alles hineinstecken mußte, was sie nichts anging. Rita hätte ja auch schlauer sein können und sagen, ja, sie habe ihr Robert vorgestellt, aber Greg hatte vermutlich immer weiter gebohrt. Und Rita hatte die Weisheit eben nicht mit Löffeln gefressen, wenn sie auch nicht bösartig war. Sie hätte am liebsten Robert angerufen und ihm gesagt, das alles sei ganz und gar unwichtig, er solle sich nicht drum kümmern und nicht mehr dran denken. Aber Robert hatte ja gesagt, er wolle sie nicht mehr sehen. Es war besser, ihn nicht anzurufen, auch wenn sie ihm nur ein paar freundliche Worte sagen wollte. Sie fragte sich, was für eine Frau das wohl war, die zu einem völlig Fremden so schreckliche Dinge über ihren eigenen Mann sagen konnte.