10

Als Jenny am Montag abend zur Tür hereinkam, spürte Robert sofort, daß mit Greg etwas passiert sein mußte.

»Ich hab eben mit Greg gesprochen«, sagte sie und ließ ihre Handtasche und eine Tüte auf den Stuhl neben der Tür fallen.

Robert half ihr aus dem Mantel und hängte ihn auf. »Bei dir zu Hause?« Er wußte, sie hatte nach Büroschluß nach Hause fahren wollen, um etwas zu holen.

»Er ist um halb sechs gekommen. Er hat wieder deine Frau angerufen. Er sagt, deine Frau hätte gesagt, du seist ein Psychopath.«

Robert stöhnte. »Jenny, was soll ich denn dagegen tun? Sie ist nicht mehr meine Frau, vergiß das nicht.«

»Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen?« fragte Jenny, als erwarte sie von ihm eine Antwort.

»Was hat Greg noch gesagt?«

Jenny setzte sich auf die rote Couch, mit hängenden Schultern, die Hände schlaff im Schoß. »Er hat gesagt. du würdest mich in ein paar Wochen satt haben, das hätte deine Frau gesagt. Mein Gott, ist es denn zuviel verlangt, wenn man in Ruhe gelassen werden will?«

Robert ging in die Küche, leerte einen Eisbehälter in eine Schale und nahm sie mit ins Wohnzimmer. »Nun ja, Jenny, wir wollen mal ehrlich sein: Du hast schließlich jetzt vier Nächte hier bei mir verbracht. Selbstverständlich wird sich Greg seine Gedanken darüber gemacht haben. Du kannst doch nicht von ihm verlangen, daß er glaubt, hier geht es zu wie im Kloster, ich oben und du unten, nicht wahr?«

»Der Gedanke allein, daß er dauernd herumspioniert, wo mein Wagen ist! Er hat mir gesagt, daß er genauso hinter dir herspioniert hat, bis er deine Adresse herausgebracht hat. Auf der Post hat er gefragt!«

»Nun ja, manche Leute spionieren eben gern hinter anderen her.« Robert nahm eine Zigarette aus dem Kästchen auf dem Tisch.

»Aber es geht sie doch überhaupt nichts an!«

Er sah sie an. »Ich nehme an, er hat Nickie auch gesagt, daß du einige Male nachts hiergeblieben bist, wie?«

»Oh, bestimmt«, sagte Jenny.

Der Blick, den sie ihm zuwarf, zeigte Überraschung. Er spürte, sie las ihm die Gedanken vom Gesicht ab.

»Nein, es geht sie nichts an«, sagte er. »Und Nickie schon gar nicht.«

Sie stand auf und nahm sich auch eine Zigarette. Robert sah ihr zu, wie sie sie ansteckte. Sie zog die Brauen zusammen und blickte zu Boden. Sie war wie ein Kind, dem man ein Spielzeug, das es für harmlos hält, wegzunehmen droht. Freitag abend, als sie zum zweitenmal zusammen zu Abend aßen, hatte sie gesagt: »Robert, darf ich übers Wochenende bei dir bleiben? Ich werde kochen, und ich störe dich bestimmt nicht, wenn du arbeiten willst.« Er ahnte, daß sich das Wochenende für sie endlos hinziehen würde, wenn er jetzt nein sagte. Außerdem fiel ihm einfach kein plausibler Grund für ein Nein ein. Er war ein freier Mann, und wenn er sich für das Wochenende ein Mädchen einlud, so war das schließlich nicht mehr als sein gutes Recht. Gregs Drohungen, von denen er Jenny nichts gesagt hatte, ärgerten ihn, und wenn er sie fortschickte, würde das heißen, daß er, unter anderem, vor Greg klein beigab. Doch während dieses Wochenendes hatte sich Robert ein-, zweimal bei dem Wunsch ertappt, ein paar Stunden allein zu sein. Nicht etwa, weil sie ihn beim Arbeiten störte, aber er fürchtete, daß sie sich immer mehr auf ihn einstellen würde, daß sie ein Mädchen war, das einzig für den Mann lebt, den es liebt, und er bereute, sie doch nicht fortgeschickt zu haben. Auch daß er heute wieder nachgegeben hatte, bereute er, einfach, weil es für sie schon zur Selbstverständlichkeit geworden war, den Abend mit ihm zusammen zu verbringen. Der Samstagabend fiel ihm ein. Nach dem Essen hatte sie auf der roten Couch gelegen und er im Sessel gesessen, und im Kamin verglühte langsam das Feuer. Das Licht war ausgeschaltet, weil Jenny es so gewollt hatte. Sie hatte auf dem Rücken gelegen und zur Decke geschaut. »Robert«, hatte sie gesagt, »ich bin sehr glücklich jetzt. So glücklich, daß ich sterben könnte.«

»Glaubst du, daß du mich je lieben könntest?« fragte sie dann.

In diesem Augenblick liebe ich dich, dachte er. Aber nicht so, wie die Menschen einander gewöhnlich lieben. Nicht so, wie er Nickie geliebt hatte. »Jenny, ich weiß es nicht. Es kann möglich sein. Ich möchte dir keinerlei Versprechungen machen.«

Sie schwiegen mehrere Sekunden lang.

»Du fürchtest dich vor Versprechungen? Vor Worten?« fragte sie.

»Ja. Sie ändern nichts an meinen Gefühlen zu … Aber ich fürchte mich vor Versprechungen, die ich nicht halten kann. Wenn Menschen einander lieben, dann können Worte diese Liebe nicht vertiefen — oder ändern.« Er dachte an Nickie, dachte daran, daß alles zerstört werden war, trotz aller Worte und Versprechungen. »Wenn ich dich jetzt liebte, würde ich es nicht sagen. Ich kann nicht versprechen, daß ich dich lieben werde. Sollte ich es eines Tages doch tun und es nicht aussprechen, so ändert das überhaupt nichts an der Tatsache an sich. So etwas geschieht, oder es geschieht nicht.«

Sie rührte sich nicht. »Ich liebe dich, Robert, und alles andere ist mir gleichgültig. Ich möchte nur wissen, was du für mich empfindest.«

»Nun, ich … ich bin gerne mit dir zusammen. Du bist ein Mensch, den man gut um sich haben kann, sogar beim Arbeiten. Deine Gegenwart macht mich zufriedener.« Mehr konnte er nicht sagen.

»Und weiter?«

»Aber es kann nicht so weitergehen, Jenny. Du kannst nicht immer nachts hierbleiben. Die Leute werden anfangen zu klatschen. Wenn nicht Greg, dann bestimmt die Kolbes von nebenan. Sie wissen, daß ich nicht verheiratet bin. Sie werden deinen Wagen sehen und bemerken, daß du ein äußerst hübsches Mädchen von dreiundzwanzig jahren bist. Und dann deine Freunde, die Tessers, und so weiter. Wenn die einmal anfangen, Bemerkungen zu machen … Wir sollten uns nicht jeden Abend treffen, Jenny. Greg hast du doch auch nicht jeden Abend gesehen, oder?«

»Greg habe ich auch nicht geliebt«, sagte sie trocken. Die Asche ihrer Zigarette fiel zu Boden. Sie bemerkte es, beugte sich über den Teetisch und drückte die Zigarette aus.

Robert betrachtete ihre schmale Gestalt in dem schwarzen Kostüm mit der kurzen Jacke. Selbst in den flachen Schuhen, die sie trug, weil sie sich für zu groß hielt, war sie graziös, ja sogar schön. Auch am Freitag hatte sie das schwarze Kostüm getragen, das, wie sie sagte, uralt war — vier ganze jahre! —, aber ihm gefiel es, und so hatte sie es heute wieder angezogen.

»Also gut, ich muß dich ja nicht jeden Abend sehen«, sagte sie traurig. »Und ich lasse dich auch allein, wenn du allein sein willst, aber bestimmt nicht wegen Greg. Höchstens, weil wir beide es so wollen. Morgen abend, zum Beispiel, komme ich nicht, wenn es dir lieber ist. Erst Mittwoch wieder.«

Robert lächelte. »Okay.«

Sie erwiderte sein Lächeln nicht.

»Wollen wir heute zum Essen ausgehen?« fragte er.

»Ich hab doch die Suppe gekocht, weißt du nicht mehr?« Sie ging zu dem Stuhl, auf dem die große Tüte lag.

Die Suppe hatte er ganz vergessen. Sie war gestern abend extra nach Hause gefahren, um die Suppe vorzukochen, da sie alle Zutaten zu Hause hatte. Erst später war sie gekommen, um die Nacht bei ihm zu verbringen. Heute war sie ebenfalls nach der Arbeit erst heimgefahren, um sie fertigzukochen. Jetzt wirtschaftete sie eifrig in der Küche herum, um alles fertig zu machen: Lauch und Kartoffelsuppe und eine Riesenschüssel grünen Salat. Als wären sie seit Jahren verheiratet.

Er nahm eine Postkarte vom Schreibtisch. »Möchtest du einen gelbbäuchigen Daumenlutscher sehen?« Er ging zu ihr in die Küche.

»Einen was?« Ihre gerunzelte Stirn glättete sich. Sie nahm die Karte, betrachtete sie und lächelte strahlend. »Wo hast du denn den komischen Vogel gefunden?«

»Ach, weißt du, der hockt dauernd auf meiner Fensterbank. Hier ist noch einer, der Wäscheleinenvogel. Er ruft ›Abi! Ahi!‹, genau wie ein verrosteter Rollenzug auf der Wäscheleine.«

Robert hatte zwei Vögel mit einer Wäscheleine voll winziger Höschen und Hemdchen gezeichnet.

»Den Vogel kenne ich. Den hab ich schon oft gehört«, sagte Jenny. »Aber gesehen hab ich noch nie einen.«

Er lachte. Jenny nahm seine Vögel so ernst, als existierten sie wirklich.

»Hast du noch mehr?« wollte sie wissen.

»Nein. Aber ich kann noch welche machen. Soll die Suppe kochen?«

»Huuch, nein!« Sie drehte die Flamme ab und schob den Topf zurück. »Ich glaube, wir sind fertig. Nur noch den Tisch decken.«

»Das mache ich.«

Jenny nahm sich dreimal vom Salat. Robert hielt sich an die Suppe und aß dazu mehrere Butterbrote. Dann tranken sie am Kamin Kaffee und Cognac. Jenny saß, in ihren Sessel gelehnt, still und nachdenklich, und Robert blickte das schmale Gesicht an, das umgeben war von Schwarz, vom dunklen Ton ihres Kleides und von den Schatten im Zimmer. War sie glücklich? War sie traurig? Unvermittelt stand er auf, berührte sie ganz leicht an der Schulter und küßte sie auf die Wange.

»Tut mir leid, daß ich heute abend mißmutig war«, sagte er.

Sie sah mit wachen, ernsten Augen zu ihm auf. »Du warst nicht mißmutig. Höchstens ich.«

Sie hatte sich nicht geregt, ihre Hände hatten sich nicht von den Armlehnen des Sessels gerührt. Und das war gut so, fand Robert, denn er bereute schon, sie geküßt zu haben, auch wenn der Wangenkuß mehr wie ein Bruderkuß gewesen war. Doch ihre Augen ließen nicht von ihm ab. Er warf seine Zigarette ins Feuer und begann, den Tisch abzuräumen. Dann ließ er zum Geschirrspülen Wasser in den Spülstein laufen, doch Jenny vertrieb ihn mit einer Handbewegung und einem Lächeln. Sie band eine Schürze um und wusch selbst ab, sehr vorsichtig, um sich nicht die Ärmel naß zu machen. Robert trocknete ab. Er war zufrieden ohne Sorgen. Greg kam ihm unwichtig und ein wenig dumm vor. Er war nur wichtig, wenn Jenny ihn wichtig nahm, und Jenny wollte, daß er ganz aus ihrem Leben verschwand und damit basta. Jenny und er waren schließlich beide freie Menschen. Er betrachtete ihr Haar, das weich das Gesicht umrahmte. Eine Strähne war aus der Klammer hinter ihrem Ohr herausgerutscht, und er verspürte den Wunsch, noch einmal ihre Wange zu küssen. Sie wischte den Spülstein aus. Dann richtete sie sich auf und band die Schürze ab. Sie warf sie auf den Tisch und öffnete ihm weit die Arme. Ihre Lippen berührten sich, preßten sich aufeinander, und als ihre Zungenspitze auf die seine traf, durchzuckte es ihn wie ein heißer, elektrischer Schlag. Er preßte sie fest an sich — diesen fremden, warmen Körper, sie war größer als Nickie und schlanker und duftete nach einem anderen Parfüm. Das erste Mädchen nach Nickie, das er im Arm hielt. Dann riß er sich los und ging ins Wohnzimmer. Er spürte, wie sie ihm mit den Augen folgte. Er blieb eine Weile vor dem Kamin stehen und starrte in die Flammen, dann ging er zum Grammophon und legte die erste Platte auf, die ihm in die Hände kam.

Er wollte nicht, daß sie über Nacht blieb, doch sie hielt es für selbstverständlich, das wußte er. Und er brachte es nicht fertig, zu sagen: »Jenny, um auf das zurückzukommen, was wir vorhin besprochen haben …« Und was schlimmer war: Er hätte mit ihr schlafen können, hätte sie heute abend ohne weiteres bitten können, in sein Schlafzimmer heraufzukommen. Es wäre alles so einfach gewesen, so natürlich, so selbstverständlich. Aber es wäre unfair. Denn wenn es heute nacht geschah, dann war es möglich, daß er nie wieder den Wunsch danach verspürte. Wenn es heute nacht geschah, würde sie vielleicht enttäuscht sein. Was ging überhaupt in ihrem Kopf vor? Welche unrealisierbaren Träume hegte sie! Oder aber sie erwartete es dann von ihm »Nacht für Nacht«, wie sie sich am Sonntag in bezug auf ihr Zusammensein ausgedrückt hatte. Das wollte Robert gar nicht erst einreißen lassen. Morgen würde sie nicht kommen, und das sollte der Anfang sein. Der Anfang vom Ende eines Zustandes, der niemals hätte einreißen dürfen.

Er stand da, die Hände in den Taschen seines Hausmantels, und sah auf sie hinunter, genau wie in der ersten Nacht, die sie hier verbracht hatte. Nach dem Duschen war sie folgsam wie ein Kind zu Bett gegangen. Doch nun blickten ihre Augen fragend, wartend zu ihm auf.

»Gute Nacht, Jenny.«

Sie lächelte zögernd, als wäre sie belustigt. »Bekomme ich keinen Kuß auf die Stirn? Keinen Kuß auf die Wange?«

Er lachte und wandte sich ab, um eine Zigarette zu suchen. »Nein.« Er fand die Zigaretten, steckte sich eine an und stieg langsam die Treppe zum Schlafzimmer hinauf. Dann zögerte er und wandte sich noch einmal um, um ihr ein letztes Mal gute Nacht zu sagen, doch noch ehe er den Mund aufmachen konnte, rief sie seinen Namen.

»Ich möchte …« begann sie, und dann kam eine lange Pause. Sie hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Augen geschlossen, als habe sie Schmerzen. Dann schlug sie die Augen auf und sagte: »Ich bin so glücklich, Robert. Darf ich etwas für dich tun?«

»Mir fällt nichts ein. Danke.«

»Gar nichts? Kann ich nicht mal einen Pullover für dich stricken?«

Er schüttelte den Kopf, »Doch, eines könntest du tun. Wenn du hier einen Arzt kennst, von dem du mir ein paar Schlaftabletten besorgen könntest. Ich nehme gewöhnlich Seconal.«

»Aber natürlich kann ich das. Natüüürlich.«

»Ich war einfach zu faul, einen Arzt aufzusuchen. Vielen Dank, Jenny. Gute Nacht jetzt.«

»Gute Nacht.«

Er stieg die Treppe hinauf, legte sich ins Bett und machte sofort das Licht aus. Jennys Licht brannte noch etwa eine halbe Stunde. Robert hatte zwei leichte Beruhigungspillen genommen, die er ohne Rezept in einem Drugstore gekauft hatte, doch er verspürte keinerlei Wirkung. Es war eine von den Nächten, in denen er etwas Stärkeres brauchte.