19

Am Dienstag klingelte wenige Minuten vor Mitternacht Roberts Telefon.

»Hier ist Ralph Jurgen«, sagte die ruhige Stimme. »Ich rufe an, um Ihnen zu sagen, daß Wyncoop sich seit … seit einigen Tagen unter dem Namen John Gresham im Sussex Arms Hotel in New York aufhält.«

»Ach? Ist er jetzt dort?«

»Nein, er ist ausgezogen. Sonntag nacht. Das weiß ich.« »Aha.« Roberts Hand umklammerte den Hörer. »Weiß Nickie, wo er jetzt ist?«

»Das weiß ich nicht. Keine Ahnung. Und wenn, würde sie’s mir bestimmt nicht sagen.«

»Ich weiß, ich weiß. Seit wann …«

»Hören Sie, Bob, ich möchte Sie um eines bitten. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie es der Polizei mitteilen. Darum habe ich Sie ja angerufen. Aber ich möchte nicht, daß mein Name erwähnt wird als …«

»Natürlich. Geht in Ordnung«, sagte Robert.

»Sie haben Verständnis dafür, nicht wahr?«

»Ja. Ja, ich habe Verständnis dafür. Keine Sorge.«

»Mehr wollte ich nicht. Auf Wiedersehen, Bob.«

Langsam legte Robert den Hörer auf die Gabel zurück. Er lächelte. Dann schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. »John Gresham!« Er nahm den Hörer und wählte Jennys Nummer. Er ließ es einige Male klingeln, legte auf und wählte von neuem in der Annahme, er habe falsch gewählt. Jenny meldete sich nicht. Er überlegte, ob er Susie Escham anrufen sollte. Vielleicht war Jenny bei ihr. Doch er verwarf den Gedanken wieder. Die gute Nachricht hatte bis morgen Zeit. Robert legte den Hörer auf, blieb ein paar Sekunden in Gedanken versunken stehen, nahm den Hörer wieder in die Hand und rief das Polizeihauptquartier in Rittersville an.

Knminalinspektor Lippenholtz war nicht zu erreichen. Robert hatte nicht gewußt, daß er Kriminalinspektor war.

»Ich habe eine wichtige Mitteilung für ihn«, sagte Robert und wiederholte dem Beamten, was Ralph ihm berichtet hatte.

Der Beamte fragte, wie viele Tage Greg im Sussex Arms gewohnt habe.

»Ich weiß es nicht, aber das wird sich leicht feststellen lassen. Fragen Sie doch im Hotel nach.«

»Wer ist der Freund, der Ihnen das gesagt hat?«

»Ich möchte seinen Namen lieber nicht nennen. Er hat mich darum gebeten.«

»Aber es ist wichtig für uns, Mr. Forester. Wie sollen wir denn nachprüfen …«

»Fragen Sie im Sussex Arms, wie Gresham ausgesehen hat. Genügt Ihnen das nicht?«

»Nun, eigentlich nicht. Dieser Freund von Ihnen kann ja jemand gesehen haben, der Wyncoop ähnlich sieht. Kennt Ihr Freund Wyncoop überhaupt?«

»Ja. Das heißt, ich weiß nicht, ob er ihn je gesehen hat. Bestimmt aber hat er mit ihm gesprochen.« Doch ganz genau wußte Robert auch das nicht.

Die Fragerei ging weiter. Wußte Robert überhaupt, wie sein Freund hieß?

»Ja, ich weiß, wie er heißt, aber ich habe ihm versprochen, seinen Namen nicht zu nennen. Tut mir leid, aber es läßt sich nicht ändern.«

»Sie würden uns und auch sich selbst einen Gefallen tun.«

»Aber nicht meinem Freund in New York.«

Der Beamte am anderen Ende des Drahtes gab es schließlich auf und sagte verdrießlich, er werde den Bericht an Kriminalinspektor Lippenholtz weiterleiten.

Er muß doch begriffen haben, dachte Robert, daß dieser Freund in New York Wyncoop geholfen hat. Lippenholtz würde das bestimmt vermuten. Wenn die Sache auf Ralph zurückfiel, weil Lippenholtz Nachforschungen über Nickie anstellte, dann hatte Ralph eben Pech gehabt. Der gute Ralph, der wahrscheinlich schon seit einer Woche und drei Tagen ganz genau wußte, wo Greg steckte.

Robert ging zu Bett, und nachdem er sich eine Stunde schlaflos herumgewälzt hatte, stand er auf, um ein Seconal zu nehmen. Die Flasche war nicht im Apothekenschränkchen. Er ging wieder nach oben und suchte auf seinem Nachttisch, dann im ganzen Schlafzimmer, stieg dann noch einmal die Treppe hinunter und sah in der Küche nach. Zuletzt suchte er das Wohnzimmer ab. Dann gab er es auf. Es würde schon wieder zum Vorschein kommen, vermutlich an einem völlig unwahrscheinlichen Platz, wo er es irgendwann gedankenlos abgestellt hatte, zum Beispiel im Kühlschrank. Aber im Kühlschrank war es nicht. Er legte sich wieder ins Bett.

Am nächsten Morgen, kurz nach neun, winkte Robert Jack Nielsen zu, auf eine Zigarettenlänge in den hinteren Flur zu kommen. Das Rauchen an den Zeichentischen war zwar erlaubt, doch für ein ungestörtes Schwätzchen zogen die Angestellten den hinteren Flur an der Feuertreppe vor. Denn wie Jack ganz richtig sagte, es war der einzige Platz im ganzen Gebäude, wo man sich nicht wie ein Goldfisch im Aquarium fühlte. Robert berichtete Jack, was er letzte Nacht von Ralph erfahren hatte. Er hatte eigentlich vorgehabt, ganz unbeteiligt zu tun, aber schon beim ersten Satz fing er an zu grinsen wie ein kleiner Junge.

»Na, was sagste nu!« meinte Jack. Auch er grinste. »Teufel noch mal, denen geht aber bestimmt bald die Puste aus. Die Polente findet den sicher. Muß sie ja. Wer ist denn dein Freund in New York?«

»Das darf ich nicht sagen. Ein ziemlich großes Tier, weißt du. Er will nicht, daß sein Name in die Zeitungen kommt.«

Jack nickte. »Hat Wyncoop zufällig gesehen, oder wie?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, daß man sich auf seine Angaben verlassen kann.«

»Ich muß sofort Betty anrufen und ihr Bericht erstatten«, sagte Jack.

Kurz nach zehn wurde Robert ans Telefon gerufen. Er war gerade zu einer Besprechung mit dem Produktionsleiter in Jaffes Büro, als Nancy anklopfte, um ihn zu holen. Robert, der wußte, daß Jaffe Unterbrechungen haßte, bat Nancy, sich die Nummer geben zu lassen, er werde später zurückrufen. Nancy ging, war aber in knapp einer Minute wieder da.

»Es heißt, es ist sehr dringend.«

Robert entschuldigte sich. Jaffes zusammengezogene Brauen machten ihn unsicher. Es war zweifellos die Polizei, und Jaffe wußte das.

Es war Lippenholtz.

»Mr. Forester, wir haben im Sussex Arms Hotel in New York nachgefragt, und die Beschreibung, die man uns dort von John Gresham gegeben hat, trifft zu«, sagte Lippenholtz mit seiner ruhigen, schleppenden Stimme. »Das heißt, sie könnte auf Wyncoop zutreffen.«

»Gut. Wissen Sie, ob die New Yorker Polizei überhaupt nach Wyncoop sucht? Und wenn ja, wie intensiv?«

»Sie suchen«, sagte Lippenholtz. »Aber ein Beweis ist das noch nicht, Mr. Forester. Wenn Sie uns den Namen Ihres Freundes nennen könnten, der …«

»Ich habe doch schon Ihrem Beamten erklärt, mein Freund wünscht nicht, daß sein Name genannt wird.«

»Selbst wenn wir versprechen, daß er nicht in die Presse kommt?«

»Selbst dann nicht. Auf keinen Fall.«

Lippenholtz grunzte. »Hat dies irgend etwas mit Ihrer Frau zu tun? Mit Ihrer früheren Frau?«

»Nicht, daß ich wüßte. Nein.«

Wieder ein Grunzen. »Mr. Forester, wir haben heute morgen eine schlimme Nachricht erhalten. Sie haben es sicher noch nicht gehört. Oder?«

»Nein. Was denn?«

»Jennifer Thierolf ist heute morgen um acht Uhr tot aufgefunden worden, und zwar von …«

»Jenny?«

»Sie hat eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Der Milchmann fand sie heute morgen auf der Wiese hinter ihrem Haus. Sie war seit drei, vier Stunden tot, sagte der Arzt. Sie hat einen Brief hinterlassen.«

»Mein Gott«, sagte Robert. »Und ich habe gestern abend versucht, sie anzurufen, so um … um …«

»Wollen Sie hören, was in dem Brief steht?«

»Ja.«

»Lieber Robert, ich liebe Dich. Aber anders jetzt und viel inniger. Jetzt verstehe ich Dich und alles«, las Lippenholtz mit ausdrucksloser Stimme. »Bis vor kurzem hatte ich nicht erkannt, daß Du den Tod verkörperst, wenigstens für mich. Es war mir vorbestimmt. Ich weiß nicht, ob ich glücklich oder traurig sein soll, aber ich weiß, was geschehen muß … Können Sie etwas dazu sagen, Mr. Forester?«

»Zu was?«

»Über das, was sie damit meint. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«

»Montag. Montag abend.«

»Wie war sie da?«

»Sie schien — bedrückt glaube ich. Sie sagte, sie wollte mich nicht mehr sehen.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht, warum. Es sei denn … es sei denn, weil sie plötzlich geglaubt hat, daß ich … daß ich Greg umgebracht habe.«

»Sie stottern ziemlich häufig, Mr. Forester«, sagte Lippenholtz scharf. »Sie hat drei Flaschen voll Tabletten geschluckt. Jedenfalls standen drei leere Flaschen im Badezimmer. Wissen Sie, woher sie drei Flaschen Seconal hatte?«

»Ja — eine hat sie von mir genommen. Gestern abend habe ich entdeckt, daß sie fehlt. Ich dachte, ich hätte sie verlegt. Sie hatte sie mir besorgt. Von ihrem Arzt, sagte sie. Vermutlich hatte sie die anderen auch von ihm.«

»Die Flaschen tragen weder den Namen des Arztes noch eine Rezeptnummer. Es sind ziemlich große Flaschen, solche, wie sie ihr Freund Greg immer in seinem Koffer gehabt hatte, und wir nehmen an, daß sie auch daher stammen.«

»Ja, das ist möglich«, sagte Robert mechanisch. Es spielte doch jetzt keine Rolle mehr, woher sie sie hatte. Er erinnerte sich, daß seine Flasche kein Etikett gehabt hatte. Warum hatte er Jenny nur nicht danach gefragt?

»Es ist jedenfalls recht interessant, Mr. Forester, daß Miss Escham sagt, Jenny Thierolf habe ihr erzählt, wie Sie sie kennengelernt haben. Beim Herumschleichen um ihr Haus. Stimmt das?«

»Ja«, sagte Robert.

»Warum haben Sie es denn vorher nicht zugegeben, na? Was ist los mit Ihnen, Mr. Forester?«

»Nichts.«

»Nichts?«

Robert legte auf. Er machte sich auf den Weg zum Zeichensaal, den Kopf gesenkt, und stieß mit der Stirn gegen die Pendeltür. Nancy kam herein. Robert trat zurück.

»Hallo«, sagte Nancy.

Robert sah ihr nach, sah ihre runde Kehrseite rasch den Flur hinunter verschwinden. Er stieß die Glastür auf und ging auf seinen Tisch zu. Mit zusammengekniffenen Augen blieb er neben der hellen Neonlampe stehen.

»Was war los, Bob?«

Jack Nielson legte Robert die Hand auf den Arm.

Robert sah ihn an und sagte: »Jenny ist tot.«

»Tot?«

»Schlaftabletten.« Robert wollte sich auf einen Stuhl fallen lassen, doch Jack nahm ihn beim Arm, und willenlos ließ sich Robert von ihm in die Empfangshalle ziehen.

Jack klingelte nach dem Lift.

»Jetzt trinken wir erst mal einen Kaffee. Oder einen schönen, steifen Whisky«, sagte Jack. »Wer hat es dir denn gesagt«

»Die Polizei hat eben angerufen. Heute morgen ist es passiert. Ganz früh.«

Sie nahmen Jacks Wagen. Robert achtete nicht darauf, wohin sie fuhren. Dann fand er sich in einer Bar wieder, eine Tasse schwarzen Kaffee vor sich, daneben ein Glas mit einer Flüssigkeit, die wie Scotch aussah, und ihm gegenüber Jack, auch mit einer Tasse Kaffee.

»Trink schnell aus, beides«, sagte Jack. »Du bist weiß wie die Wand.« Robert schluckte gehorsam Kaffee und Scotch. Auf einmal fiel ihm die Besprechung in Jaffes Büro ein. Er hätte zurückgehen müssen. Robert fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und lachte kurz auf. Und dann standen ihm die Augen auf einmal voll Tränen.

»Los, sprich«, sagte jack. »Genier dich nicht.«

»Das macht der Brief«, sagte Robert durch die Zähne. Er preßte die Hände zwischen die Knie. »Jenny hat einen Brief geschrieben. Sie hat gesagt, ich wäre der Tod.«

»Was? Sag das noch mal!«

»Sie hat geschrieben ›Bis vor kurzem hatte ich nicht erkannt, daß Du den Tod verkörperst‹«, sagte Robert kaum hörbar. »Immer hat sie davon gesprochen, vom Tod. Habe ich dir ja erzählt … Sie sprach immer von ihrem kleinen Bruder, der gestorben ist, als er zwölf Jahre alt war; an spinaler Meningitis. Jenny sagte, sie müsse so lange an den Tod denken, bis sie sich nicht mehr vor ihm fürchte. Ganz eigenartig …« Er sah in Jacks gespanntes, nachdenkliches Gesicht. »Kannst du mir folgen?«

»Ja«, sagte Jack, aber es klang sehr unsicher. Er winkte nach einem zweiten Scotch.

»Und als ich sie kennenlernte, ich erinnere mich genau, da sagte sie: ›Ich weiß nicht, was Sie verkörpern, aber eines Tages werde ich es wissen.‹ Das war, als ich … als ich draußen vor ihrem Haus gestanden hatte. Ja, es stimmt. Auf diese Weise habe ich sie kennengelernt. Als ich um ihr Haus geschlichen bin.« Robert schloß die Augen und kippte den Rest seines Whiskys hinunter.

Jack runzelte die Stirn. Er sah verwirrt aus, als könnte er das, was Robert gesagt hatte, nicht verstehen. »Als du um ihr Haus geschlichen bist? Was soll das heißen?«

»Genau das. Eines Tages hat sie mich erwischt. So haben wir uns kennengelernt. Tu doch nicht so, als hättest du nicht schon davon gehört. Greg hat doch bestimmt …«

»Ja«, sagte Jack. »Ich nehme an, daß es Greg war. Ein anonymer Anruf, vor ungefähr einem Monat. Ich wußte nicht, ob ich ihn dir gegenüber erwähnen sollte oder nicht, also hab ich’s gelassen.«

»So, du hattest also schon davon gehört.« Robert warf ihm ein rasches Lächeln zu und hob das zweite Glas Scotch. Wie hatte Greg nur herausgefunden, daß Jack sein Freund war? Vielleicht durch Jenny? Aber das war jetzt nicht mehr wichtig.

»Der Mann am Telefon hat gesagt, er sei ein Freund von Greg«, sagte Jack. »Er hat gesagt, ich müßte erfahren, daß mein Freund Bob Forester übergeschnappt sei und daß er den Mädchen durchs Fenster beim Ausziehen zuzusehen pflege und daß er auf die Art Jenny Thierolf kennengelernt habe. Ich weiß noch, daß ich gesagt hab: ›Rutsch mir den Buckel runter‹ und auflegte. Ich habe ihm schon geglaubt, daß er ein Freund von Greg war, und ich dachte, na, wie die Dinge liegen, versucht Greg vermutlich alle möglichen Märchen über dich in Umlauf zu bringen.«

»Nun, es ist die Wahrheit. Nur, daß ich Jenny immer in der Küche zugesehen habe. Sie hat mir so …« Er konnte nicht weitersprechen, aber es war nicht die Erregung, die ihm die Kehle zuschnürte. Er war ganz ruhig, fast stumpf.

»Was?« ermunterte ihn Jack, weiterzureden.

Robert atmete tief und sah in Jacks langes, ernstes Gesicht. Jacks Ausdruck war noch immer verständnislos, vielleicht auch ein wenig argwöhnisch. »Ich litt unter Depressionen im letzten Winter, und durch sie hat es sich gebessert. Sie sah so glücklich aus. Ich sah, daß Greg sie ein paarmal besuchte und dachte — sie ist ein glückliches, junges Mädchen, das bald heiraten will. Ich schwor mir jedesmal, daß ich nicht mehr hingehen wollte, und dann tat ich es doch wieder. Ich muß sieben- oder achtmal vor ihrem Haus gestanden haben. Und schließlich eines Abends hat sie mich gesehen. Ich entschuldigte mich — so komisch das auch klingt. Ich dachte, jetzt holt sie die Polizei, aber sie tat estnicht. Statt dessen bot sie mit Kaffee an.« Robert zuckte lächelnd die Achseln. »Man könnte sagen, sie war sehr glücklich, bis sie mich kennenlernte. Bis sie auf die Idee kam, daß ich den Tod verkörpere.«

Jack schüttelte heftig den Kopf und rich sich die kurzen Haarborsten. »Aber ich weiß doch genau, daß sie dich liebte. Das sah man doch. Wenn man dir zuhört, klingt es wie eine Phantasiegeschichte. Sagst du mir auch die Wahrheit, Bob? Ich meine, mit dem Herumschleichen, dem Spionieren?«

»Ja, es ist die Wahrheit.«

»Nun ja«, Jack lehnte sich zurück und trank einen Schluck Wasser aus dem Glas neben seiner Tasse, »du brauchst es niemand anderem zu erzählen. Ich würd’s nicht tun an deiner Stelle. Wozu?« Jack zündete umständlich eine Zigarette an.

Robert spürte, daß Jacks Einstellung zu ihm sich geändert hatte, gründlich und anhaltend geändert. Jemand, der anderen Leuten durchs Fenster zusieht, ist ein Voyeur, ob er nun ein Mädchen beim Ausziehen beobachtet oder beim Hühnergrillen.

»Ich hab’s eben der Polizei erzählt«, sagte Robert.

»Ach. Na ja, warum nicht? Was hat das schließlich mit Greg zu tun? Greg lebt. Und wenn du …« Jack hielt inne.

Schweigen. Keiner sah den anderen an.

»Darf ich dich etwas ganz Persönliches fragen«, sagte Jack.

»Ja.«

»Hast du je mit Jenny geschlafen?«

»Nein«, sagte Robert. »Warum?«

»Weil das alles noch viel schwerer gemacht hätte, finde ich. Für sie. Sie wirkte so jung. Sie hat dich wirklich sehr geliebt, nicht wahr?«

»Ich nehme es an. Bei mir war es anders. Ich habe stets versucht, ihr das klarzumachen. Ich versuche nicht, mich zu rechtfertigen, Jack …«

»Ich weiß.«

»Aber ich hätte es wissen sollen. Hätte es besser wissen müssen. Ich hätte sie nie wiedersehen dürfen nach jenem ersten Abend. Ich legte gar keinen Wert darauf, sie wiederzusehen, aber sie ist zu mir gekommen. Eines Abends war sie vor dem Werk, hat meinen Wagen gesucht und ist mir dann nachgefahren.«

Robert schloß die Augen. Seine Worte und seine eigene Stimme verursachten ihm Übelkeit.

»Und was geschah dann?«

»Sie blieb über Nacht. Der Alkohol war ihr zu Kopf gestiegen. Es waren nur zwei Drinks, das weiß ich noch, und sie wollte nicht nach Hause fahren. Da hat sie dann unten auf meiner Couch geschlafen. Das hat sie noch öfter getan, und dann hat Greg natürlich gemerkt, daß sie nicht zu Hause war. Danach kam die Schlägerei. Siehst du, wie es gegangen ist, Jack?«

Jack nickte langsam.

»Ich hätte Schluß machen sollen, aber ich hab’s nicht getan. Ich bestand darauf, daß wir uns nicht mehr so oft sehen dürfen, aber Schluß habe ich nicht gemacht. Jenny sah so unglücklich aus. Aber einmal, als ich noch in Langley wohnte, kurz bevor ich in mein Haus zog, da habe ich Schluß gemacht. Ich sagte ihr, daß ich sie nicht mehr sehen könne, daß es so das Beste sei. Ich redete ihr zu, Greg zu heiraten.«

»Und dann?«

Robert legte die Stirn in die Hand. »Dann … Ein paar Wochen später hat sie dann vor der Fabrik auf mich gewartet und ist mir nachgefahren.«

»Ich verstehe.«

Verstand Jack wirklich? Ich habe ihr nie Versprechungen gemacht, wollte Robert sagen, doch er schämte sich, diese kläglichen Worte der Rechtfertigung auszusprechen. »Ich muß wieder ins Büro«, sagte er und griff nach seinem Portemonnaie.

»’Warum willst du heute noch arbeiten? Sei doch nicht dumm«, redete ihm Jack zu. »Ruf Jaffe an. Oder soll ich mit ihm sprechen?«

»Nein, ich sag’s Jaffe selbst.«

Robert erzählte Jaffe etwas von einer persönlichen Krise, kurz und schroff, wie jemand, der nichts mehr zu verlieren hat. Robert war überzeugt, daß sein Job schon dahin war, und daß es nun das einzig Richtige sei, die Kündigung einzureichen.

Mittags war Robert zu Hause. Er legte Jacke und Krawatte ab und ließ sich auf die rote Couch fallen. Er blieb mehrere Stunden liegen, bis es langsam dunkel wurde. Er schlief nicht, und trotzdem schienen seine Gedanken wie gelähmt, noch nicht einmal die ermüdenden Erinnerungen an Geschehnisse und Gespräche plagten ihn wie sonst immer. Er war wie tot, und Stunden wie diese, das spürte er, sagten alles aus über den Tod, alles, was ein Mensch je über den Tod wissen konnte. Er fuhr in den Ort und kaufte Zeitungen. Er nahm den Inquirer und die Langley Gazette. Beide brachten Jennys Geschichte auf der ersten Seite, und die Gazette brachte auch noch ein Foto. Robert überflog die Berichte, als er im Wagen saß. Jenny war mit seinem Pullover im Arm und seiner Vogelkarte in der Hand gestorben. Der Abschiedsbrief war Wort für Wort in Kursivschrift abgedruckt. Inmitten der Journalistenschreiberei wirkte er poetisch, tragisch, doch irgendwie unwirklich. Auf Seite zwei der Gazette fand er ein Bild von Susie Escham, mit geschlossenen, verweinten Augen und offenem Mund. Sie berichtete, daß sie Jenny am Abend zuvor kurz vor zehn habe besuchen wollen, und daß ihr niemand aufgemacht habe. Außerdem habe ihr Jenny drei Tage zuvor gestanden, daß sie Robert Forester zum erstenmal begegnet sei, als er um ihr Haus herumschlich. Das habe Greg (Wyncoop) schon immer gesagt. Sie sei der Ansicht, daß Jenny sich vor Robert gefürchtet und sich deshalb umgebracht habe. Robert biß die Zähne zusammen und startete seinen Wagen.

Als er ins Haus kam, läutete das Telefon. Er ging nicht hin. Er setzte sich und las beide Zeitungsberichte eingehend durch. Beide wiederholten die Geschichte von der Schlägerei zwischen Forester und Wyncoop, die am Samstag, dem 16. Mai, abends stattgefunden hatte, und erwähnten, daß Wyncoop seit zehn Tagen verschwunden sei. Selbstverständlich war den Zeitungen schon bekannt, daß Wyncoop in New York gesehen worden war, doch anscheinend hatte man diese Meldung nicht als verläßlich betrachtet und daher nicht für zweckmäßig gehalten, sie zu erwähnen.

Wieder läutete das Telefon. Diesmal mußte er wohl ab— nehmen. Wenn es die Polizei war, dann würde sie ihn be— stimmt hier aufsuchen.

»Ja, bitte?« fragte Robert mit heiserer Stimme.

»Hier ist Naomi Tesser, Bob.«

Robert erstarrte. »Wie geht’s?«

»Wir haben eben die Zeitung gelesen, Dick und ich. Und ich … Bob, wie geht es Ihnen?«

»Wie es mir geht?«

»Nun ja, ich kann’s mir vorstellen. Wir sind beide so entsetzt über all das. Jenny war ja ein seltsames Mädchen; so schwermütig manchmal. Das wissen wir.«

Er wartete.

»Und sonst? Haben Sie Neues über Greg gehört?«

»Ja, Greg«, sagte Robert. »Er ist vor ein paar Tagen in New York in einem Hotel gesehen worden.«

»Tatsächlich? Wer hat ihn gesehen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Tja … Ich glaube, es ist wohl nicht der richtige Moment, um mit Ihnen darüber zu sprechen.«

»Nein, das ist es nicht.«

»Und … Mein Gott, diese Susie Escham, die macht die Sache auch nicht besser, wie?«

»Wenn Sie ihre Aussage über die Art und Weise meinen, wie ich Jenny kennengelernt habe — das stimmt.«

»Das stimmt? Sie meinen, was Greg gesagt hat, auch?«

»Ja, und ich habe keine Lust mehr, dauernd zu lügen. Was hat das auch jetzt noch für einen Sinn?«

»Aber … Sie meinen, Jenny hatte deswegen vor Ihnen Angst?« Die Angst, die aus Naomis Stimme klang, ihr verändertes Verhalten fügte sich trefflich in das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte — daß er Greg umgebracht habe. »Ja, zum Teil, glaube ich. Sind Sie mir böse, wenn ich jetzt Schluß mache, Naomi? Wie bitte? Danke.« Er legte auf, ohne ihr »Moment noch!« zu beachten.

Die Neuigkeiten würden im Handumdrehen die Runde machen, überlegte er. Beide Neuigkeiten, sowohl, daß er Jenny beim Herumschleichen um ihr Haus kennengelernt hatte, als auch, daß Greg in einem Hotel in New York gesehen worden war. Doch die erste würde sich schneller herumsprechen. Er nahm zwei Aspirin und machte sich eine Kanne frischen Kaffee.

Gegen neun kam ein Anruf von jack und Betty Nielson. Sie wollten wissen, ob es ihm gutgehe und ob er zu ihnen kommen und über Nacht bleiben wolle. Robert dankte und lehnte ab. Dann rief Nickie an. Nickie sprach ihm ihr Beileid aus zu Jennys Tod, und ihre Worte klangen fast normal, nur der Ton war sarkastisch. Aber er bemerkte es kaum. Er hörte zu, antwortete höflich, und verstummte plötzlich, den Hörer in der Hand. »Hast du sonst nichts zu sagen, Bobbie? Bobbie, bist du da? Sprichst du nicht mehr mit mir? Hast du vielleicht ein schlechtes Gewissen?«

Behutsam legte er den Hörer auf die Gabel. Dann lag er wieder auf der roten Couch. Er war jetzt in Schlafanzug und Hausmantel; die Kopfschmerzen waren schlimmer geworden, an Schlaf war nicht zu denken, und er wollte die endlosen Stunden, die er schlaflos oben im Bett liegen würde, so weit wie möglich hinausschieben. Die Zeitungen hatten berichtet, daß morgen Jennys Eltern kommen und die Leiche heimholen wollten. Er nahm an, daß sie ihn verfluchten und ihm die Schuld an ihrem Tod gaben. Es war noch nicht Mitternacht. Mit der Tasse in der Hand stand er an den Kühlschrank gelehnt und trank in kleinen Schlucken. Dann, als er die Tasse in den Spülstein stellen wollte, hörte er vorne vor dem Haus einen Knall. Er warf sich zu Boden. Sekundenlang lag er bewegungslos, mit weit aufgerissenen Augen. Es war ein Revolverschuß gewesen, und nicht ein Schwärmer oder die Fehlzündung eines Wagens. Und jetzt schlich vermutlich jemand um das Haus herum. Wahrscheinlich spähte er durch ein anderes Fenster herein, um zu sehen, ob der Schuß getroffen hatte. Vielleicht sogar durch das Küchenfenster direkt hinter ihm. Möglichst ohne sich zu rühren, versuchte er festzustellen, ob er irgendwo Schmerzen hatte oder blutete. Warum hatte er sich zu Boden geworfen? Eine Reflexbewegung aus seiner Soldatenzeit?

Draußen vor dem Haus regte sich nichts.

Langsam stand er auf — in der hell erleuchteten Küche mit den zwei Fenstern ein sicheres Ziel — und knipste am Schalter neben der Tür das Licht aus. Dann ging er in das dunkle Wohnzimmer hinüber. Oben im Schlafzimmer brannte kein Licht. Durch die Fenster erblickte er nichts als tiefschwarze Nacht; die nächste Straßenlaterne war mehrere Meter entfernt. Robert trat ans Vorderfenster, rechts neben der Tür; aus dieser Richtung mußte der Schuß gefallen sein. Als er zur Küche hinüberblickte, konnte er undeutlich den weißen Kühlschrank erkennen. Das Wohnzimmerfenster war zehn Zentimeter hochgeschoben. Robert bückte sich und sah hinaus. Alles lag still und dunkel. Schwarze, runde Kugeln die Büsche, die schwarze Silhouette eines hohen Baumes … Und selbst die hätte er vielleicht nicht gesehen, wenn er nicht gewußt hätte, wo sie standen.

Greg? Oder einer von Gregs Freunden? Er schaltete im Wohnzimmer das Licht an und schritt langsam zum Teetisch hinüber, um sich eine Zigarette zu holen. Es war wohl besser, die Polizei zu benachrichtigen, falls es wirklich ein Retrblverschuß gewesen war.

Er ging in die Küche und suchte nach dem Einschlag. Am Kühlschrank war nichts zu sehen. Robert suchte die Wand rechts und links daneben ab. Dann die Wohnzimmerwand in der Nähe der Küchentür. Nichts. Er nahm den Telefonhörer, rief die Polizei von Rittersville an und berichtete, was vorgefallen war. Die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung klang gelangweilt. Er fragte, ob Robert den Einschlag gefunden habe und dann, ob er sicher sei, daß es ein Revolverschuß gewesen war. Robert bejahte es.

Der Beamte sagte, sie würden jemanden schicken.

Das war mehr, als Robert erwartet hatte

Ungefähr eine Stunde später erschienen zwei Polizeibeamte. Sie fragten Robert, um welche Zeit der Schuß gefallen sei und von wo aus. Um Mitternacht, glaube er, sagte Robert. Er hatte das Fenster, das ein wenig offenstand, nicht berührt. Doch sie konnten die Kugel nicht finden. Logischerweise hätte sie den Kühlschrank oder die Wand darüber treffen müssen, aber dort war kein Einschlag zu sehen.

»Nachts, wenn es still ist, können Fehlzündungen ganz hübsch laut knallen, wissen Sie«, sagte der eine Beamte.

Robert nickte. Sinnlos, den Polizisten zu sagen, er hege den ziemlich begründeten Verdacht, daß Greg Wyncoop den Schuß abgegeben habe, wenn sie nicht von selbst drauf kamen. Die Beamten schienen zu wissen, wer er war. »Sie sind doch der Forester, der Bekannte von Jenny Thierolf«, hatte der eine gesagt, als sie hereinkamen. Lippenholtz, dachte Robert, Lippenholtz würde sofort den Schuß mit Greg in Verbindung bringen. Vielleicht. Diese beiden sahen aus wie zwei typische Polypen, die routinemäßig nachschauten, weil sich jemand über seltsame Geräusche beschwert hatte. »Wissen Sie, ob Inspektor Lippenholtz morgen im Dienst ist?« fragte Robert.

»Lippy?« Der Beamte sah seinen Kollegen an.

»Doch, ich denke schon. Um neun. Oder um acht.«

Die Beamten gingen.

Robert ging nach oben, zu Bett. Jetzt war es ihm gleich, ob er schlief oder nicht. Die Nacht war nicht mehr lang.

Am nächsten Morgen sah er sich, die Kaffeetasse in der Hand, noch einmal in der Küche um. Er zog die Salatschüssel vor bis in die Mitte der Kühlschrankplatte, und da fand er den Einschlag, tief im dunklen Holz. Der Aufprall hatte vermutlich die Schüssel an die Wand geschleudert. Robert erinnerte sich, in der Nacht hatte einer der Polizisten die Schüssel vorgezogen, um die Wand dahinter abzusuchen, hatte sie jedoch wieder zurückgeschoben. Naja, jetzt hatte er es gefunden. Robert bohrte in dem Loch herum, aber er bekam die Kugel nicht heraus.

Er stellte die Schüssel neben den Fahrersitz und fuhr nach Rittersville. Ein Verkehrspolizist, den er fragte, erklärte ihm den Weg zur Polizeistation. Dort fand Robert in einem Raum mit breiter Tür einen Sergeant hinter einem Schreibtisch. Robert gab seinen Namen an und mußte ihn dem Sergeanten, der ihn aufschrieb, vorbuchstabieren. Dann besah sich der Sergeant die Schüssel näher und sagte unbeteiligt: »’ne Zweiunddreißiger.«

»Wann kommt Lippenholtz?« fragte Robert.

»Weiß nicht«, sagte der Sergeant. »Irgendwann vor zwölf. Er ist dienstlich unterwegs.«

»Danke.« Robert ging wieder und ließ die so häuslich anmutende Schüssel mit dem gutgewürzten Salat auf dem Schreibtisch des Sergeanten zurück. Beweisstück A. Möglich, daß Beweisstück B ich selbst bin, dachte er.

Greg nahm vermutlich an, daß er ihn mit dem einen Schuß erledigt hatte. Robert hatte sich zu Boden geworfen und ein paar Minuten vollkommen still gelegen. Greg mußte zum Fenster hereingeschaut, ein paar Sekunden gewartet haben, und dann davongelaufen sein. Ein Auto hatte Robert nicht gehört. Vielleicht hatte Greg keinen Wagen. Es war sicherlich schwierig für ihn, einen zu bekommen, falls er nicht einen stehlen wollte, und das wäre gefährlich. Nickie! Natürlich, Nickie hätte ihm einen leihen können, doch er kohnte sich nicht vorstellen, daß Nickie so leichtsinnig war. Möglich, dachte Robert, daß einer von Gregs Freunden den Schuß abgegeben hat. Charles Mitchell aus Rittersville, zum Bespiel. Aber es war wahrscheinlicher, daß Greg es selbst gewesen war. Wer außer Greg hegte einen solchen Groll gegen ihn, daß er ihn umbringen wollte?