22
»Schönen guten Morgen«, sagte der Doktor lächelnd. Er stand in Hemdsärmeln vor der Couch, mitten in einem hellen Viereck aus Sonnenlicht. »Gut geschlafen?«
Robert sah sich im Zimmer um. Seine Armbanduhr war fort. Sein linker Arm pochte.
»Ihre Uhr liegt hier auf dem Tisch. Es ist fünf nach halb neun«, sagte der Doktor. »Sie haben zwei Telefonanrufe verschlafen. Ich war so frei und habe sie angenommen. Einer kam von einem Vic McBain aus New York. Er sagte, er habe gestern nach Mitternacht hier angerufen und sei sehr unhöflich von einem Polizisten abgefertigt worden. Wir haben ein bißchen geplaudert. Ich sagte, daß ich Ihr Arzt bin und auf Sie aufpasse und daß es Ihnen verhältnismäßig gut geht.«
»Danke.« Robert blinzelte. Sein Kopf war noch immer nicht klar. Er sah, daß auf einer Seite des Raumes der Teppich aufgerollt war, und erinnerte sich unbestimmt, daß Blut daraufgetropft war, während er gestern abend mit der Polizei telefonierte. Robert wollte aufstehen. Er wollte sich waschen.
»Warten Sie, ich hole Ihnen erst einen Kaffee«, sagte der kleine Doktor und ging in die Küche. »Ich habe eben frischen schen gemacht. Außerdem habe ich mir noch erlaubt, Ihnen Rasierapparat zu benutzen. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Milch oder Zucker?«
»Schwarz«, sagte Robert.
Der Doktor brachte den Kaffee.
Robert versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Knapp? Achja, richtig! Knott. »Sie sagten, es waren zwei Anrufe, Dr. Knott?«
»Ja. Einer kam vor ein paar Minuten. Von einem Jack … Nelson, glaube ich. Er sagte, er käme heute vormittag vorbei. Kann also jeden Moment hier sein.«
Robert betrachtete des Doktors rundes, fröhliches Gesicht, während er seinen Kaffee schlürfte. Er verstand nicht, wie der Doktor so lebhaft sein konnte, so vergnügt, so voller Wärme. Immer wieder zog es Roberts Augen zu diesem Gesicht; es war wie warmer Sonnenschein.
»Ja, ich bin hiergeblieben, um zu sehen, wie es Ihnen geht«, sagte Dr. Knott. »Und auch, um Ihnen an die Hand zu gehen, falls das nötig sein sollte. Oder eher, an den Arm.« Er lachte. »Ich habe heute bis drei keine Patienten, und da …« Er zuckte die Achseln.
Langsam wachte Robert auf. Ihm fiel ein, daß um zehn Uhr seine Mutter anrufen wollte. Der Arm schmerzte nicht allzusehr, und er überlegte, ob er wohl nach New Mexico fahren konnte. Heute war Freitag. Morgen nachmittag kam der Zahnarzt und konnte vermutlich sofort klarstellen, ob es sich bei dem Toten um Greg handelte. Dann erinnerte sich Robert, daß er in der Nacht von Bruder Tod geträumt hatte. Aber war der Traum nicht irgendwie anders gewesen als sonst? Bruder Tod hatte diesmal nicht gelächelt, sein Gesicht hatte nicht gesund gewirkt, sondern grünlich. Und vielleicht hatte auch diese grauenhafte Leiche im Traum eine Rolle gespielt, hatte vielleicht auf dem Tisch gelegen, an dem Bruder Tod saß. Diese Leiche, diese fast fleischlose, farblose und doch menschliche Gestalt, war so gegenwärtig für Robert, er mußte so oft an sie denken, daß er nicht sagen konnte, ob er in der Nacht davon geträumt hatte oder nicht.
»Sie haben ein wenig im Schlaf gesprochen«, sagte Dr. Knott, und Robert spürte, wie ein Gefühl von Schuld, gleich physischem Schmerz, sekundenlang seinen Körper ergriff.
»Bestimmt vom Tod, nicht wahr?« fragte Robert…
»Ja, das war’s«, sagte der Doktor mit dem ihm eigentümlichen strahlenden Lächeln, das alle seine Worte begleitete. »Bruder Tod, sagten Sie. Es war eher eine Frage. Und ›Hallo!‹ Es klang gar nicht ängstlich. Ich meine, gar nicht nach einem Alptraum.«
»Ja, das ist möglich. Ich habe einen Traum, der immer wiederkehrt«, sagte Robert. Er erzählte ihn dem Doktor. »Aber so gern, wie es scheinen mag, habe ich den Tod gar nicht.«
»Soso.« Der Doktor schlenderte zum Kamin.
Robert wurde plötzlich verlegen. Jennys Abschiedsbrief war ihm eingefallen, den der Doktor in der Zeitung gelesen haben mußte. Und er erinnerte sich außerdem, daß vor zehn Tagen die Frau des Doktors gestorben war.
Der Doktor wandte sich um. Er kniff die blauen Augen zusammen. »Der Tod ist eine ganz natürliche Angelegenheit, ebenso natürlich wie die Geburt. Nur weigert sich die menschliche Rasse, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Das heißt, wir weigem uns, in unserer gegenwärtigen Kulturepoche. Von den Ägyptern, zum Beispiel, kann man nicht behaupten, daß sie sich sträubten, sich mit dem Tod vertraut zu machen.«
»Aber alles zu seiner Zeit«, sagte Robert. »Und die Jugend ist wohl kaum die rechte Zeit zum Sterben, nicht wahr? Kein Wunder, daß junge Menschen den Tod fürchten. Bei alten Leuten habe ich es zwar schon erlebt, daß sie sich mit ihm abfinden, aber das ist etwas anderes.« Robert sah den Doktor an. »Von Jenny hab ich doch nicht gesprochen, oder?«
»Jenny? Nein, ich glaube nicht. Ich war im Sessel eingenickt. Ich weiß nicht, ob ich jedes Wort gehört habe. Jenny ist doch das Mädchen, das sich umgebracht hat, nicht?«
»Ja.«
»Wyncoops Mädchen.«
Robert hatte sich aufgerichtet, die Füße auf den Boden gestellt.
»Wollten Sie sie heiraten?«
»Nein«, sagte Robert. »Das war ja das Schlimme daran. Sie liebte mich.«
»Und Sie? Sie haben nein gesagt?«
»Ich … Ich habe gesagt, ich wisse nicht, ob ich sie je lieben könnte. Und da … da hat sie sich Dienstag nacht umgebracht. So oft hat sie mir gesagt, sie fürchte sich nicht vor dem Tod. Sie hatte miterlebt, wie ihr kleiner Bruder an Meningitis starb. Das hat sie für eine Weile aus dem Gleichgewicht gebracht, aber sie habe es überwunden, sagte sie, indem sie den Tod akzeptierte. Genau mit denselben Worten, den Tod akzeptierte. Es erschreckte mich immer, wenn sie so sprach. Und dann, ja, dann hat sie‘s getan, ohne ersichtlichen Grund. Ich nehme an, Sie haben die Zeitung gelesen. Da stand der Brief ja drin, den sie mir geschrieben hat. Sie hat geschrieben, ich verkörpere den Tod für sie.« Robert sah den Doktor offen an, neugierig auf dessen Reaktion, die Reaktion eines Menschen, der ja gar nicht alle Tatsachen, all die kleinen Vorkommnisse kennen konnte, selbst wenn er die Wyncoop-Story in der Zeitung verfolgt hatte. »Irgendwie war sie in den Tod verliebt. Darum liebte sie mich.«
Der Doktor sah ihn einen Moment mißtrauisch an, dann kehrte das Lächeln wieder in sein Gesicht zurück. »Das ist zweifellos ein Fall für den Psychiater. Das Mädchen, meine ich. Ja, ich habe die Geschichte gelesen, gestern abend ist es mir eingefallen, als die Polizei mich hierherbrachte. Ich dachte noch, das wäre für jeden Menschen eine schlimme Sache. So mancher Selbstmord geschieht nur aus der Absicht, daß der andere sich schuldig fühlen soll. Haben Sie sehr plötzlich mit ihr gebrochen?«
»Nein.« Robert runzelte die Stirn. »Vor allem habe ich ihr nie Versprechungen gemacht, niemals. Es war gar keine richtige Liebesgeschichte zwischen uns — und dann eigentlich wieder doch. Ich hab das Mädchen im Grunde nie recht verstanden, nie ist mir die Idee gekommen, sie könnte sich umbringen. Vielleicht habe ich mir nicht genug Mühe gegeben, sie zu verstehen, vielleicht aber wäre es mir nie gelungen, selbst wenn ich es versucht hätte. Das alles tut mir nur entsetzlich leid. Und ich schäme mich, weil ich etwas vernichtet habe. Ein Menschenleben.« Robert sah den Doktor lebhaft nicken, zweimal, und er fürchtete, dieser habe seine Worte nicht erfaßt, er habe sich nicht klar genug ausgedrückt. Robert stand auf. Er schwankte ein wenig, doch er stellte seine Tasse auf den Teetisch und ging auf Strümpfen ins Badezimmer.
Er hätte gerne geduscht, doch er fürchtete, den Verband naß zu machen, und wollte dem Doktor nicht zumuten, ihn neu zu verbinden. Also wusch er sich im Waschbecken mit dem Waschlappen und rasierte sich hastig und nicht allzu gründlich. Er fühlte sich ziemlich schwach.
»Doktor , könnten Sie mir eine Tablette geben?« fragte er, als er aus dem Badezimmer kam. Er nahm ein frisches Hemd aus einem Koffer. Dann löste sich alles in schwimmendes Grau auf. Der Doktor hielt ihn am rechten Arm fest und zog ihn zur Couch. »Nur zum Aufmöbeln«, murmelte Robert. »Schmerzen hab ich nicht.«
»Ich könnte Ihnen eine geben, aber wozu? Sie müssen sich heute ruhig halten. Kennen Sie jemand, den ich anrufen könnte, damit er bei Ihnen bleibt?«
In Roberts Ohren dröhnte es so laut, daß er den Doktor kaum verstehen konnte.
»Heute fahren Sie aber nicht mehr fort«, sagte Dr Knott.
Es klopfte an der Tür, und der Doktor ging hin, um zu öffnen. »Sind Sie Mr. Nelson?« fragte der Doktor.
»Nielson«, sagte Jack. »Guten Tag. Nun, wie geht’s unserem Patienten?«
Robert saß steif aufgerichtet auf dem Rand der Couch. »Gut, danke. Möchtest du einen Kaffee, Jack?«
Jack sah sich im Zimmer um, bevor er antwortete. Er entdeckte die Ecke des Schreibtisches, ging hin und betastete sie. »Heiliger Strohsack!«
»Ja, und von der Sorte waren’s fünf. Fünf Schüsse«, sagte Dr. Knott, und ging in die Küche.
Jack zog die dunklen Augenbrauen zusammen. »Und was hat die Polizei diesmal unternommen? Wieder nichts?«
»Nein, sie war hier. Sie und ‘ne Menge Nachbarn«, sagte Robert.
»Wie möchten Sie Ihren Kaffee, Mr. Nielsen?« wollte der Doktor wissen.
»Einen Löffel Zucker, bitte«, erwiderte Jack. »Haben die jemand gesehen? Was haben sie denn unternommen?«
»Ich weiß nicht, ich bin ohnmächtig geworden. Ungefähr zehn Minuten, nachdem es passiert ist. Als ich zu mir kam, war das Haus gesteckt voll Menschen.«
Robert lachte. Ihm schien, als könne er gar nichts anderes tun als lachen, mitten hinein in Jacks finsteres, ungläubig staunendes Gesicht.
Jack nahm dem Doktor die Tasse ab. »Vielen Dank. Glaubst du, es war Greg?«
»Ja«, sagte Robert. »Setz dich, Jack.«
Doch Jack blieb stehen, die Kaffeetasse in der Hand, in ungebügelten Hosen, Tweedjacke und bequemen Schuhen. Hin und wieder warf er einen Blick auf die Uhr, zweifellos in dem Gedanken, daß er gleich ins Werk mußte. »Aber was unternimmt die Polizei denn nun in dieser Sache?«
»Ich fürchte, du bist ein bißchen zu logisch«, sagte Robert.
Jack wiegte den Kopf. »Ich vermute, sie wollen überhaupt nichts unternehmen, bis sich herausgestellt hat, daß der Tote nicht Wyncoop ist, stimmt’s?«
»Ich habe Lippenholtz über den Zustand der Leiche befragt«, sagte Dr. Knott. »Schon aus seiner Antwort allein konnte ich entnehmen, daß der Mann erheblich länger im Wasser gelegen haben muß als zwei Wochen.«
Dreizehn Tage, dachte Robert. Dreizehn Tage war es her, daß er Wyncoop angeblich in den Delaware gestoßen hatte. Jack sah ihn an.
»Und du, was hältst du von der Leiche?«
Robert nahm einen großen Schluck Kaffee. Der Doktor hatte ihm frisch eingeschenkt. »Nun, es ist eben eine Leiche.«
»Ich werd ein paar Rühreier machen«, sagte der Doktor und verschwand wieder in der Küche.
Vorsichtig ließ sich Jack neben Robert auf der Couch nieder. »Soll das heißen, daß sie immer noch nicht nach Wyncoop suchen? Tut mir leid, daß ich so dämlich bin, aber das kapier ich einfach nicht.«
»Ich glaube, sehr gründlich suchen sie nicht«, sagte Robert. »Und du bist sicherlich nicht dämlicher als die anderen, also mach dir nichts draus. Du hast’s erfaßt: sie suchen nicht. Warum sollten sie auch?«
»Und wer, glauben sie, hat geschossen?«
»Das interessiert sie einfach nicht«, sagte Robert.
In der Küche zischte Butter in der Pfanne. Der Doktor stand mit einem Spatel in der Hand in der Küchentür »Mr. Forester wird wohl recht haben. Es interessiert sie nicht. Ich schlage vor, Sie legen Ihren Kopf wieder schön auf das Kissen und ruhen sich aus, Mr. Forester.« Er stopfte mehrere Kissen hinter Roberts Rücken, und Robert lehnte sich bequem zurück. »Wie fühlen Sie sich?«
»Ganz gut, nur ein bißchen komisch.«
»Sie haben viel Blut verloren, da müssen Sie sich ja komisch fühlen. Ich mußte eine Arterie nähen«, erklärte der Doktor vergnügt.
Jack sah wieder auf die Uhr. »Soll ich Jaffe was bestellen, Bob?«
»Nein, danke, Jack. Nun ja, du kannst ihm sagen, daß ich heute nicht kommen kann. Ich bin krank. Sobald ich kann, werde ich die schriftliche Kündigung einreichen. Ich gehe. Ich habe die Nase voll. Bis obenhin.«
Jack sah den Doktor an, dann Robert. »Und heute nacht? Hat die Polizei denn nicht …«
»Mr. Forester ist herzlich in meinem Haus willkommen«, sagte Dr. Knott. »In Rittersville. Da ist nie was los, höchstens …« er rieb sich den kahlen Schädel, »… höchstens ein Anruf um Mitternacht, weil jemand Verdauungsbeschwerden hat. Das ist ein alter Witz, aber er ist immer noch im Schwange. Essen Sie ein paar Eier mit, Mr. Nielsen?«
Jack stand auf. »Nein, danke. Ich muß gehen. Bob, warum wartest du nicht noch mit der Kündigung? Der Zahnarzt kann morgen doch …«
»Nach dem, was Jaffe gesagt hat?« fragte Robert.
»Hat er was gesagt?«
»Nicht direkt, aber ich bin sicher, er hält mich indirekt für schuldig, für einen Außenseiter, untragbar für L. A. Das reicht.«
»In Philadelphia würdest du nicht unter Jaffe arbeiten.«
»Ach, es ist eine ausweglose Situation«, sagte Robert. »Wenn der Zahnarzt morgen sagt, daß der Tote nicht Wyncoop ist, so kommt dadurch Wyncoop noch lange nicht zum Vorschein, oder? Es beweist nicht, daß ich ihn nicht umgebracht habe.« Robert warf einen Blick zur Küche hinüber. Er war froh, daß der Doktor jetzt unter der Tür stand und zuhörte. »Es tut gut, sich auszusprechen, sehr, sehr gut«, sagte Robert und lehnte sich wieder in die Kissen zurück.
»Aber ich will nicht, daß du so leicht die Flinte ins Korn wirfst«, sagte Jack und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Robert antwortete nicht. Gab er wirklich auf? Er hatte das Gefühl, als sei er zerbrechlich wie eine Porzellanfigur. Was soll ich machen, fragte er sich, und die Antwort war: gar nichts. »In den meisten Situationen«, sagte er, »kann man etwas tun, aber bei mir ist das anders.« Seine Stimme wurde schrill, es klang fast hysterisch, und plötzlich mußte er an Jenny denken. Es war seine Schuld, daß sie sich das Leben genommen hatte. Sie hatte ihn geliebt, und er hatte alles zerstört, so gründlich, daß sie sich das Leben genommen hatte.
Jack klopfte ihm auf die Schulter. Robert hielt den Kopf gesenkt, die rechte Hand über die Augen gelegt. Jack unterhielt sich mit dem Doktor, und der Doktor sagte ruhig, daß Robert, wenn nötig, selbstverständlich einen oder zwei Tage bei ihm bleiben könne. Jack schrieb sich Namen und Telefonnummer des Doktors auf. Dann war Jack fort, und der Doktor setzte einen Teller mit Rührei, Toast, Butter und Marmelade vor Robert auf den Tisch.
Als er gegessen hatte, wurden seine Gedanken wieder klarer. Bis morgen nachmittag war Greg ungestört und hatte freie Hand, bis der Zahnarzt seine Stellungnahme abgegeben und vermutlich festgestellt hatte, daß der Tote nicht Wsyncoop war. Was hinwiederum die Polizei veranlassen dürfte, ein bißchen energischer nach ihm zu suchen. Mit anderen Worten, Greg hatte die ganze Nacht zur Verfügung. Aber wäre es nicht die Höhe, dachte Robert, wenn der Zahnarzt erklärte, der Tote sei tatsächlich Wyncoop, die Backenzähne im Oberkiefer seien wirklich die von Greg? Und wäre es nicht ein Witz, wenn der Tote wahrhaftig Wyncoop war!
»Es geht Ihnen besser«, sagte Dr. Knott. »Man sieht’s.«
»Viel besser, danke. Dr. Knott, ich halte es für besser, wenn ich heute nacht nicht bei Ihnen bleibe. Aber trotzdem vielen Dank für Ihr freundliches Angebot.«
»Und warum nicht2 Hier, ganz allein, mitten zwischen Ihren unfreundlichen Nachbarn, sollten Sie amc keinen Fall bleiben. Möchten Sie lieber zu Ihrem Freund Nielson? Er hat gesagt, Sie könnten gerne kommen.«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, zu niemand. Ich habe das Gefühl, daß heute nacht wieder auf mich geschossen wird, und ich will nicht, daß womöglich jemand anders getroffen wird. Der beste Platz für mich wäre das Krankenhaus oder das Gefängnis. Das Gefängnis hat die dickeren Mauern.«
»Hoho!« Der Doktor lachte, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Und Sie glauben wirklich, daß dieser Wyncoop — oder wer es sonst war — es wagen wird? Noch einmal?« Der schiefgelegte runde Kopf des Doktors wirkte plötzlich lächerlich kultiviert, klug, logisch, friedfertig. Er war ganz offensichtlich nicht an Schießereien und an Menschen wie Greg gewöhnt.
Robert lächelte. »Was sollte ihn davon abhalten? Heute nacht bitte ich nicht noch einmal um eine Wache. Ich bezweifle auch, daß sie etwas nützen würde.«
Dr. Knott ließ den Blick über den Fußboden wandern, über die leergegessenen Teller, dann sah er Robert an. »Schön, aber hier werden Sie doch jedenfalls nicht bleiben wollen, wo Wyncoop Sie bestimmt vermutet. Rittersville ist siebzehn Meilen entfernt. Nehmen Sie Ihren Wagen mit. Meine Garage hat Raum für zwei Autos. Es ist genug Platz für uns beide im ersten Stock. Unten ist nur das Wohnzimmer und die Küche.«
Er lächelte, nun wieder zuversichtlich. »Unnötig zu sagen, daß wir an Haus- und Hintertür ein solides Schloß haben. Mein Haus stammt noch aus der alten Zeit, wo man so etwas Herrenhaus nannte. 1887 gebaut. Ich hab’s von meinem Vater geerbt.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, sagte Robert, »aber wirklich nicht nötig. Ich brauche ja nicht hierzubleiben. Ich weiß noch nicht, was ich tun werde, aber ich möchte nirgendwo hin, wo andere Menschen…«
»Sie scheinen sich nicht darüber klar zu sein«, unterbrach ihn der Doktor, »daß ich nicht einsam, sondern in einem Villenviertel wohne, dem ältesten Teil von Rittersville. Lauter Einzelhäuser. Nicht eines neben dem anderen, alle mit Vorgärten. Aber doch nicht wie hier …« er machte eine Armbewegung, »… wo Sie sozusagen auf dem Präsentierteller sitzen, und jeder Lump sich mühelos aus dem Staub machen kann.«
Robert blieb stumm. Er suchte nach Gegengründen, um nicht glattweg nein sagen zu müssen.
»Warum rufen Sie nicht Ihre Mutter an? Es ist gleich zehn.«
Robert rief seine Mutter an.
Sie hatte auf seinen Anruf gewartet. Sie wünschte immer noch, daß er nach New Mexico kam, und wollte wissen, wann er abfahren würde. Robert erklärte ihr, daß er den ganzen Sonntag bleiben müsse, um auf die Rückkehr des Zahnarztes zu warten, der den Toten untersuchen werde, den die Polizei für Wyncoop hielt.
»Nein, Mutter, ich glaube nicht, daß er es ist, aber sie müssen sich vergewissern. Ich meine die Polizei. Mutter, es handelt sich hier um ein Verbrechen.« Er fand es seltsam beruhigend, zu seiner Mutter von einem »Verbrechen« zu sprechen. Sie glaubte so fest daran, daß er keines Verbrechens fähig sei, glaubte es bedingungsloser noch als Jack, als der Doktor, als er selbst. Mit der rechten Hand preßte er den Hörer an sein linkes Ohr. »Natürlich, Mutter, ich rufe dich morgen an. Oder lieber am Sonntag, da weiß ich schon mehr… Also gut, Sonntag vor zwölf … Grüß Phil von mir …Wiedersehen, Mutter.«
»Womit wollten Sie denn nach New Mexico fahren?« fragte der Doktor.
»Mit dem Auto, dachte ich«, sagte Robert mechanisch und dachte in diesem Augenblick an die Zeitungen, die seine Mutter heute lesen würde, wenn sie es nicht schon getan hatte. Zweifellos würden sie feindselige Bemerkungen der Einwohner von Langley abdrucken, böse Worte seiner Nachbarn, die Selbstmordgeschichte, die Schießerei, die Voyeurstory, alles zusammengestellt und in Beziehung gesetzt zu dem Toten im Leichenhaus von Rittersville. Robert fühlte sich wieder ein wenig schwach. »Ich glaube bestimmt, daß ich bis Sonntag kräftig genug bin, um fahren zu können. Sonst müßte ich meinen Wagen hier unterstellen.«
»Hm … Nun ja, wenn Sie sich bis Sonntag schonen«, sagte der Doktor und sah ihn prüfend an. »Setzen Sie sich hin, Mr. Forester.«
Robert setzte sich.
»Ihre Mutter lebt in New Mexico?« Der Doktor holte Roberts Zahnbürste und den Rasierapparat aus dem Bad.
»Nein, in Chicago, aber sie und ihr Mann haben ein Sommerhaus in der Nähe von Albuquerque. Eine kleine Ranch. Ein Ehepaar wohnt dort und kümmert sich um das Haus, wenn sie nicht da sind.« Robert hätte sich gerne wieder hingelegt.
»Das klingt sehr hübsch. Täte Ihnen vermutlich gut, für eine Weile hinzufahren. Hier, nehmen Sie.« Der Doktor hielt ihm die flache Hand hin.
»Was ist das?«
»Dexamyl. Zum Aufpulvern, bis wir in Rittersville sind. Heute nachmittag können Sie dann wieder ausruhen.«
Kurz darauf verließ Robert mit dem Doktor das Haus und folgte ihm im eigenen Wagen bis nach Rittersville.
Das Haus, in dessen Einfahrt sie einbogen, war wirklich ein Herrenhaus alten Stils. Es sah aus wie aus schneeweißem Zuckerguß; beide Etagen hatten mehrere Erker. Alle Fensterscheiben spiegelten blank in der Sonne, als wären sie eben geputzt worden. Auf dem frisch gemähten Rasen stand eine riesige Trauerweide, deren Zweige sich sanft im Abendwind wiegten. Die Weide und die Hortensienbüsche gaben dem Anwesen ein freundliches Aussehen, fast als wäre es ein Haus, wie man es in den Südstaaten findet. Robert stellte sein Auto neben den Wagen des Doktors in die Garage am Ende der Einfahrt.
Der Doktor schloß das Garagentor.
»Ich hab unterwegs nichts eingekauft, weil das Anna Louise besorgt, und jetzt wollen wir mal sehen, ob sie’s auch nicht vergessen hat«, sagte der Doktor und schloß die Hintertür auf.
Robert trug einen Handkoffer, den der Doktor ihm hatte packen helfen. Sie traten in eine große, quadratische Küche mit schwarz-weiß gemustertem Linoleum und einem abgenutzten Ablaufbrett neben dem Spülstein. Der Doktor öffnete den Kühlschrank, ließ ein befriedigtes »Aha« hören, warf einen Blick ins Tiefkühlfach und verkündete dann, daß Anna Louise ihre Pflicht getan habe.
»Zuerst werde ich Sie mal nach oben verfrachten«, sagte er dann und winkte Robert, ihm zu folgen.
Sie gingen durch das Wohnzimmer, den teppichbelegten Flur entlang und eine Treppe mit schwerem, poliertem Geländer hinauf. Kein Stäubchen war zu sehen, nicht die geringste Unordnung, und doch wirkte das Haus bewohnt. Robert war überzeugt, daß jedes Möbelstück, jedes Bild, jeder Wandschmuck seine eigene Geschichte und für den Doktor eine besondere Bedeutung hatte. Robert hoffte nur, daß er nicht im Schlaf- oder Sterbezimmer der Verstorbenen untergebracht wurde, doch der Doktor stieß eine breite Tür auf und sagte: »Das ist unser Gästezimmer.« Er sah sich kritisch um. »Ja, ich glaube, es ist in Ordnung. Ein paar Blumen noch, dann ist’s gemütlicher, aber …« Er machte eine kleine Pause. Offensichtlich erwartete er von Robert ein Kompliment über das Haus.
»Ein wunderschönes Zimmer«, sagte Robert. »Es braucht gar nichts mehr. Und das Bett …«
Der Doktor lachte. »Federn, ob Sie’s glauben oder nicht. Ein richtiggehendes Federbett. Meine Schwiegermutter hat es selbst gesteppt. Das Muster ist nach der Wappenpflanze von Oregon gemacht, der Oregon-Traube. Es ist eine Immergrünpflanze, Mahomia aquifolia.«
»Ach, wirklich?«
»Hübsche kleine, blaue Beeren, nicht wahr? Meine Frau hat die Decke immer sehr geliebt, darum hat sie sie ins Gästezimmer getan. So war sie eben. Machen Sie sich’s bequem, und ich lasse Sie jetzt ein paar Stunden allein. Das Bad ist die nächste Tür rechts.« Er wollte gehen. »Übrigens, wie wär’s, wenn Sie heute nachmittag ein bißchen schlafen. Das Dexamyl wird Sie wachhalten, aber ich bringe Ihnen ein leichtes Sedativ, das können Sie dann nehmen, wenn Sie wollen. Aber ziehen Sie doch Schlafanzug und Morgenrock an.«
Robert lächelte. »Danke. Aber ich möchte erst noch die Zeitungen lesen. Ich gehe hinunter und hole sie.«
»Nein, nein! Sie bleiben hier. Ich werde sie holen.« Der Doktor ging.
Robert sah sich noch einmal im Zimmer um, fast ein wenig ungläubig. Dann öffnete er seinen Koffer, um den Schlafanzug herauszunehmen. Es klopfte, und der Doktor kam mit den Zeitungen herein, die er unterwegs gekauft hatte. Er legte sie auf einen Gros-Point-Sessel und war schon wieder verschwunden. Robert holte sich die Zeitungen und setzte sich damit aufs Bett, doch er sank so tief ein … Schließlich hockte er sich auf den Fußboden. Zuerst schlug er die NEW YORK TIMES auf, um zu sehen, wieviel Raum sie der Geschichte widmeten. Erst auf Seite 17 fand er sie, eine fünf Zoll lange Spalte, die nüchtern berichtete, daß die Polizei von Rittersville die Rückkunft von Wyncoops Zahnarzt, Dr. Thomas McQueen erwarte, und daß auf Robert Forester, der am 21. Mai die Schlägerei mit Wyncoop gehabt habe, am Mittwochabend in seinem Haus bei Langley geschossen worden sei. Das war natürlich die Salatschüsselkugel. Der COURIER von Rittersville und die GAZETTE von Langley behandelten das Thema ausführlicher. Sie berichteten über die fünf Schüsse der vergangenen Nacht, die eine Menge aufgeregter Nachbarn in Foresters Haus lockten. »Forester wurde am rechten Arm verletzt und anschließend von Dr. Albert Knott aus Rittersville behandelt. Damit wurde Forester zum zweitenmal Zielscheibe eines Anschlags. Man nimmt an, daß es sich bei dem Täter bzw. den Tätern um Freunde Wyncoops handelt …« Nirgends eine Anspielung darauf, daß der Schütze möglicherweise Wyncoop selbst gewesen war.
Dr. Knott kehrte mit einem Glas Wasser in der Hand zurück. »Was machen Sie denn da auf dem Boden?«
Robert stand auf. »Es war der bequemste Platz zum Zeitunglesen.«
»Aha …« Der Doktor schüttelte den Kopf. »Ja, ja, diese alten Häuser. Nirgends ist es wirklich bequem, wenn man es recht betrachtet.«
Robert lächelte und nahm das Wasser und die weiße Pille. »Ich glaube, ich nehme sie lieber doch.«
»Gut. Kurz vor drei muß ich fort. Wenn Sie Hunger haben … im Kühlschrank ist Käse und sonst noch alles mögliche. Heute abend werden wir uns etwas Ordentliches machen.« Er wandte sich zur Tür.
»Möchten Sie einen Blick in die Zeitungen werfen?«
»Doch, gerne. Sind Sie fertig damit?«
»Ja.« Robert sammelte die Blätter auf und reichte sie dem Doktor. Ihre Blicke trafen einander kurz. Der Doktor lächelte, freundlich, doch der schmale zusammengepreßte Mund schien die Augen Lügen zu strafen. War es Zweifel, ragte sich Robert, oder Verdacht? Oder immer noch eigener Kummer? Oder bildete er sich das alles nur ein?
Robert zog seinen Schlafanzug an und war bald eingeschlafen.
Als er erwachte, schien die Sonne ins Zimmer. Sie war im Untergehen. Auf seiner Uhr war es Viertel vor sieben. Robert ging ins Bad, wusch sich, bürstete die Zähne und zog sich an. Als er durch den Flur ging, hörte er, daß jemand unten in der Küche war; ein Löffel klirrte an Porzellan. Er konnte sich nicht vorstellen, daß der Doktor kochen konnte, obwohl das Rührei heute morgen sehr gut gewesen war. Robert bef ühlte und drückte seinen Arm. Es tat fast gar nicht weh. Eine Welle Energie und Zuversicht überkam ihn, und er rannte die Treppe hinunter, die Hand dicht über dem Geländer, und flüchtig erinnerte er sich, wie er in Nickies Haus die Treppe hinuntergelaufen war.
Der Doktor kochte; er hatte sich eine Schürze umgebunden. »Nehmen Sie sich einen Schluck Rye«, sagte er. »Mögen Sie Rye? Da steht die Flasche.« Er nickte zum Arbeitstisch neben dem Kühlschrank hinüber.
»Wenn ich darf, gerne. Sie auch, Sir?«
»Ich hab mein Glas hier, danke. Sherry. Briol Cream.«
Robert goß sich ein und fragte, ob er helfen könne. Im Eßzimmer war der Tisch, wie er bemerkte, schon für zwei gedeckt. Der Doktor sagte, er brauche keine Hilfe, es gebe nur kalten Truthahn mit Kronsbeerensoße aus dem Feinkostgeschäft und Makkaroni und Käse aus dem Tiefkühlfach.
Als sie sich zum Essen setzten, brachte der Doktor einen Amontillado. Er und seine Frau, sagte er, seien große Sherry-freunde gewesen. Sherry und Tee. Er habe sechzehn Sorten chinesischen Tee in der Küche.
»Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, daß Sie mir Gesellschaft leisten«, sagte der Doktor. Er hatte sich nach Roberts Arbeit erkundigt, und Robert hatte ihm unter anderem von dem Insektenbuch erzählt, das er für Professor Gumbolowski illustriert hatte. Er hatte zwar sechs, sieben Zeichnungen noch einmal machen müssen, war aber im März fertig geworden. »Wissen Sie, Sie sind der erste Besuch, seit meine Frau gestorben ist«, sagte der Doktor. »Man hat mich zwar immer wieder eingeladen, aber es ist so schwierig, weil sich die Leute meinetwegen so viel Mühe geben. Komischerweise wollte ich eigentlich meine alten Bekannten zu einem richtigen schönen Essen bitten, aber ich dachte, sie würden glauben, ich bin übergeschnappt, so kurz nach dem Tod meiner Frau eine Party zu geben. Und so hab ich’s dann gelassen. Bis ich Sie getroffen habe.« Er lächelte glücklich, nippte an seinem Sherry und steckte sich eine kleine Zigarre an. »Und Sie sind ein ganz Fremder. Komisch.«
Es war ganz ähnlich wie nach einer Scheidung, dachte Robert. Er wußte nichts zu antworten, doch das schien den Doktor nicht zu stören. Bis ich Sie getroffen habe, dachte Robert. Ein Mann, den seine Nachbarn verabscheuten, ein Mann, der einen Selbstmord auf dem Gewissen hatte, ein Mann, der vielleicht einen anderen Mann ins Wasser gestoßen hatte und es nicht eingestand. Was glaubte der Doktor wirklich? Und was hielt er in Wahrheit von ihm? Oder spielte das für den Doktor überhaupt keine Rolle? War er zu sehr in seinen eigenen Kummer versponnen? War Robert nicht mehr als eine kleine Abwechslung wie das Fernsehen, das er angestellt hatte, um sich von den Gedanken an seine Frau abzulenken? Robert fühlte, daß er eine Antwort auf diese Frage wohl nie bekommen würde, nicht heute abend, nicht morgen, und auch nicht am Sonntag, wenn das Urteil gesprochen war, ob der Tote Wyncoop war. Der Doktor, das spürte er, würde niemals ein Urteil fällen, niemals seine Meinung aussprechen. Und doch mußte er eine Meinung haben, und ganz sicher war er an Roberts Schicksal interessiert. Das bewies ja die Tatsache, daß er die Zeitungen gelesen hatte.
»Spielen Sie Schach?« fragte der Doktor.
Robert lehnte sich zurück. »Ein bißchen. Aber nicht gut.«
Sie gingen nach oben, um in Roberts Zimmer zu spielen. Dort stand ein Schachtisch, eingelegt mit Teakholz und Elfenbein. Robert hatte ihn schon bemerkt, aber er war überzeugt, daß sie auch deshalb in dieses Zimmer gingen, weil es im ersten Stock und nach hinten lag. Draußen war es jetzt dunkel. Als sie nach oben gingen, machten sie die Lichter im Erdgeschoß aus. Der Doktor trug ein Tablett mit Tassen und Kaffeekanne. Robert kannte die Spielregeln und hatte vor Jahren sogar ein paar Bücher über Schach gelesen, aber das größte Problem für ihn war immer, daß er nicht den Ehrgeiz hatte zu gewinnen Nun strengte er sich an, dem Doktor zuliebe. Der Doktor lachte leise und murmelte vor sich hin, während er sich seine Züge überlegte. Auf harmlose Weise versuchte er, Robert so schnell wie möglich schachmatt zu setzen. Innerhalb von zwanzig Minuten hatten sie zwei Partien beendet; Robert hatte beide Male verloren. Beim nächsten Spiel konzentrierte sich Robert mehr, und dieses Mal dauerte es fast eine Stunde. Das Resultat blieb jedoch das gleiche. Der Doktor lehnte sich in seinem Sessel zurück und lachte, und Robert stimmte ein.
»Ich kann nicht einmal sagen, daß ich aus der Übung bin, ich war niemals drin«, sagte Robert.
In der Ferne hörten sie die Gangschaltung eines Autos krachen. Sonst war nichts zu vernehmen, und Robert hörte sogar die Uhr im Erdgeschoß leise ticken.
»Zwanzig nach zehn! Wie wär’s mit einem Cognac?« fragte der Doktor.
»Nein, danke. Cognac macht mich …«
»Ja, ich weiß schon. Na, dann ein bißchen von meinem Sherry. Er ist wirklich delikat.« Der Doktor war aufgestanden. »Nein, kommen Sie nicht mit runter. Ich bin gleich wieder da.« Er ging.
Robert ging auf das Doppelbett zu und wandte sich lauschend um. Sein Körper war so gespannt, daß sein linker Arm schmerzte, und mühsam zwang er sich, sich zu entspannen. Das Geräusch war nicht von draußen gekommen. Von unten hörte Robert ein Knarren, dann Türenschlagen, wie von einem Kühlschrank. Er starrte auf die halb offene Tür und wartete auf die Schritte des Doktors, auf der Treppe.
Dann fiel ein Schuß. Glasscherben klirrten.
Robert rannte die Treppe hinunter.
Der Doktor lag in der breiten Türöffnung zwischen Wohnzimmer und Flur, nur ein Stückchen von der Treppe entfernt. Seine Augen standen offen, der Kopf lag schief gegen die Türfüllung gelehnt.
»Dr. Knott?« Robert rüttelte ihn leicht an der Schulter und starrte auf den halb offenen Mund, in der Erwartung, die Lippen sich bewegen, Worte formen zu sehen. Robert konnte keine Wunde entdecken.
Robert stand auf und spähte in das erleuchtete Wohnzimmer, zu dem nicht ganz geschlossenen Fenster, zu dem fünf bis sechs Zoll breiten Spaltz wischen Sims und Rahmen des Erkerfensters in der Ecke hinüber. Er ging in den Flur, öffnete die Haustür und trat hinaus auf die Veranda. In der Ecke neben dem Erkerfenster war nichts als schwarze Stille. Der leere Rasen schien im Licht der nahen Straßenlaterne bleichgrün; schwarz stachen die Schatten von Büschen und Bäumen davon ab. Robert stand mit angehaltenem Atem, angestrengt lauschend, ob sich rechts oder links auf dem Bürgersteig etwas rührte. Dann wurde im Haus nebenan ein Fenster hochgeschoben.
»Was war das?« rief eine Frauenstimme. »Dr. Knott?«
Robert kehrte zum Doktor zurück. Er hatte sich nicht bewegt. Robert zog ihn in sitzende Stellung hoch, doch sein Kopf fiel vornüber. Nun sah Robert am Hinterkopf eine Wunde, aus der durch das dünne Haar das Blut in den weißen Kragen rann. Es war eine Schußwunde, stellte Robert fest, doch es sah eigentlich nur aus wie ein Streifschuß. Der Doktor mußte gegen die Türfüllung gefallen und bewußtlos geworden sein. Er wollte ihn aufrichten, doch die glasigen Augen des Doktors hielten ihn davon ab. Rasch untersuchte Robert, ob das Herz noch schlug. Es schlug.
Halb trug, halb schleppte er den Doktor zum Sofa, dann lief er in die Küche, suchte den Lichtschalter, fand ihn und tränkte ein paar Papierhandtücher mit kaltem Wasser. Er ging wieder hinein und wusch dem Doktor das Blut vom Hinterkopf. Er behielt genug Papier übrig, um ihm auch noch Gesicht und Stirn abzuwischen. Noch immer waren die Augen geöffnet, mit glasigem Blick, aus dem offenen Mund floß Speichel. Robert lief nach oben ins Bad und fand im Apothekenschrank auf drei Glasregalen ein wirres Durcheinander von Flaschen und Fläschchen. Beim hastigen Suchen fielen mehrere davon ins Waschbecken, doch sie zerbrachen nicht, und schließlich fand Robert, was er suchte: Salmiakgeist. Er las die Aufschrift zweimal, um sicherzugehen. »Dosis: 1/2 bis 1 Teelöffel in Wasser lösen. Ausgezeichnetes, rasch wirkendes Stimulans.« Robert roch daran — es war wirklich sehr stark — und lief wieder nach unten.
Er hielt es dem Doktor unter die Nase — ergebnislos. Wenn er ihm Wasser gab, fürchtete Robert, würde er ersticken. Des Doktors Hände waren jetzt kalt. Der Puls schien schwächer. Robert griff nach einem Fransenschal, der gefaltet auf dem kleinen Sofa lag, und breitete ihn über den Doktor. Dann nahm er das Telefon und wählte das Amt. Er sagte, daß er einen Arzt brauche; es sei sehr dringend. Waverly Avenue, das Haus von Dr. Knott. Die Hausnummer wußte er nicht.
»Ein weißes Haus. Ich mache draußen Licht. Glauben Sie, daß Sie sofort einen Arzt erreichen?«
»Aber sicher, das müßte möglich sein. Die Adresse ist in der Nähe vom Rittersville-Krankenhaus. Ich rufe sofort an.«
Robert ging zurück und wartete, das Handgelenk des Bewußtlosen in der Hand, um den Puls zu kontrollieren. Die glänzenden Augen des Doktors schienen Robert anzusehen.
»Dr. Knott?« Es sah aus, als wollte er sprechen, doch er rührte sich nicht.
Es klopfte.
Robert öffnete.
»Oh!« Eine rundliche Frau in den Fünfzigern stand da, neben ihr ein Mann im selben Alter. »Wir glaubten, einen Schuß gehört zu haben.«
»Ja. Kommen Sie herein.« Robert trat zurück. »Der Doktor ist verletzt. Ich vermute nur … Er ist bewußtlos.«
»Dr. Knott!« sagte die Frau erschrocken. Er wollte auf ihn zulaufen, blieb aber wieder stehen. Sie sah ihren Mann an. »Ach, George!«
»Hat er sich selbst erschossen, oder …? Wo ist er verletzt?« fragte der Mann.
Robert berichtete, was geschehen war. Er habe eben nach einem Arzt gerufen.
»Sind Sie ein Freund von Dr. Knott?« fragte der Mann und kniff die Augen zusammen. »Hören Sie mal, sind Sie nicht …«
»Robert Forester«, sagte Robert.
Die Frau sah ihn offenen Mundes an. »Der Voyeur!«
»Wir haben in der Zeitung gelesen, daß Dr. Knott Sie gestern nacht verarztet hat«, sagte der Mann.
»Ja, das hat er.« Der Mann und die Frau schienen vor ihm zurückzuweichen. Die Frau bewegte sich langsam auf die Haustür zu.
Robert warf einen Blick auf den Doktor. Er hatte sich nicht gerührt.
»Wir wollen hierbleiben, bis der Arzt kommt, Irma«, sagte der Mann. »Ich möchte wissen, wie’s ihm geht.«
»Gewiß, George.«
Keiner setzte sich. Und drei, vier Minuten lang sprach auch niemand ein Wort. Robert tastete wieder nach des Doktors Puls. Die offenen Augen des Verletzten brachten ihn aus der Fassung. Jetzt blickten sie anklagend, und gleichzeitig tot, aber er war doch nicht tot, sein Puls schlug ja noch. Bis ich Sie getroffen habe, schien der Blick zu sagen. Robert hörte des Doktors Stimme: Sie können sich nicht vorstellen, wie ich mich freue, daß Sie mir Gesellschaft leisten … Sie sind der erste Besuch …
Robert kniff die Augen zusammen und sah die beiden anderen Menschen an.
Der Mann, der George hieß, rauchte eine Zigarette. Er hielt sie fest zwischen zwei Fingern. Er sah Robert herausfordernd an, verächtlich, als habe er ein Recht, hier im Haus zu sein, und Robert nicht. Dann setzte er sich auf einen Polsterstuhl und sagte: »Setz dich, Irma.«
»Nein, ich bleibe lieber stehen, George.«
Der Mann zog an seiner Zigarette und fragte: »Haben Sie die Polizei auch benachrichtigt?«
»Nein«, sagte Robert. »Noch nicht.«
»Warum nicht?«
Robert holte tief Luft. »Ich dachte, ein Arzt wäre wichtiger.«
Der Mann starrte ihn an. »Wer hat geschossen?« fragte er kalt.
Robert erwiderte seinen Blick ruhig. Es kam ihm komisch vor, daß der Mann da sitzen konnte, den Rücken zum Fenster, komisch, daß er nicht zuvor gefragt hatte, woher der Schuß gekommen war. »Ich weiß es nicht«, sagte Robert. »Vermutlich der, der gestern nacht auch auf mich geschossen hat.«
»Hat er Sie getroffen?«
»Ja, am Arm.« Roberts Ärmel waren heruntergerollt, der Verband war nicht zu sehen. Er fand das Paar äußerst unangenehm und wünschte, er könnte sie wegschicken.
»Meinen Sie nicht, Sie sollten lieber die Polizei rufen?« fragte der Mann, als verdächtige er Robert, die Polizei absichtlich nicht gerufen zu haben, und sein Ton war so scharf, daß sogar seine Frau vorwurfsvoll sagte: »George!« Und dennoch verrieten ihre Augen, wenn sie Robert anblickten, eine Furcht, die der Blick ihres Mannes nicht zeigte.
»Warum rufen Sie nicht an?« fragte Robert den Mann. »Ich glaube, Ihr Anruf hat mehr Erfolg.«
»Mehr?« fragte der Mann aggressiv.
»Schneller«, verbesserte sich Robert.
Der Mann warf seiner Frau einen Blick zu und ging ans Telefon.
Wieder klopfte es. Dieses Mal war es der Arzt und eine Frau, die, wie sie sagte, gegenüber wohnte. Robert beantwortete die Fragen der Nachbarin, behielt aber den Arzt dabei im Auge. Der Arzt öffnete Dr. Knotts Hemd und horchte mit dem Stethoskop das Herz ab. Robert bemerkte, daßer der Kopfwunde kaum Beachtung schenkte. Dann zog er dem Doktor das Jackett aus, rollte ihm den Hemdsärmel hoch und gab ihm eine Injektion.
»Der Mann muß ins Krankenhaus«, sagte der Arzt zu Irma.
Irma stand dicht neben ihm. »Ja, Doktor, wir werden dafür sorgen.«
»Im Krankenwagen«, fügte der Arzt hinzu, wie zu sich selbst, und ging ans Telefon.
Robert trat zu ihm. »Wie steht es? Wie geht es ihm?«
»Koma«, sagte der Arzt. »Ich weiß nicht, wie kräftig sein Herz ist, das ist das Schlimme. Sicht nicht so aus, als ob er allzu gesund wäre.« Er sah sich gereizt um. »Das ist eine Schußwunde. Warum ist die Polizei noch nicht hier?«
»Sie sind unterwegs«, sagte George.
Der Arzt nahm den Telefonhörer, wählte und bestellte barsch einen Krankenwagen.
Robert sah auf das umgestürzte Tablett auf dem Boden, auf die zersplitterten Gläser, deren Stiele und Füße noch ganz waren, auf die Sherryflasche, die heil in den Flur gerollt war, auf die Blutstropfen auf der Schwelle. Dann drehte er sich zum Fenster um, dem Fenster, dessen Sims genauso weit vom Erdboden entfernt war wie Gregs Kinn, wenn Greg auf dem Rasen gestanden hätte. Wo mochte Greg jetzt sein? Welches Dunkel hatte ihn verschluckt?