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Zehn Tage später, etwa Mitte Dezember, saßen Jennifer Thierolf und Gregory Wyncoop in Jennys Wohnzimmer auf dem Sofa, tranken Kaffee und sahen sich ein Fernsehprogramm an. Das Sofa war ein altes, viktorianisches Möbel, das das Mädchen auf einer Versteigerung erstanden und mit Leinöl und Polsterreinigungsmitteln aufgefrischt hatte. Sie hielten sich an den Händen. Es gab einen Kriminalfilm, doch er war nicht so spannend wie andere dieser Serie, die sie schon gesehen hatten.
Jenny starrte auf den Bildschirm, ohne etwas zu sehen. Sie war in Gedanken bei einem Buch, das sie gerade las, Dostojewskijs Dämonen. Sie verstand Kirilow nicht, zumindest nicht seine letzte, sehr lange Rede, aber es hatte keinen Sinn, Greg danach zu fragen. Greg hatte zwar gesagt, er habe das Buch gelesen, doch die Frage, die sie beschäftigte, und die vor dem Essen noch klargewesen war, schien ihr jetzt nur noch ganz vage. Aber sie zweifelte nicht, daß ihr irgendwann, wenn sie das Buch ausgelesen hatte oder vielleicht auch erst Tage später, möglicherweise gerade, wenn sie in der Badewanne saß oder Geschirr spülte, plötzlich alles ganz deutlich würde.
»Woran denkst du?« fragte Greg.
Jenny lehnte sich verlegen zurück und lächelte. »Das fragst du mich dauernd. Muß ich denn immer an etwas denken?«
»Solange du nicht an dieses verdammte Haus denkst und dir Sorgen machst …«
»Sag bitte nicht ›verdammtes Haus‹.«
»Na schön.« Greg lehnte sich an sie, schloß die Augen und drückte seine Nase an ihren Nacken. Ein dröhnender Akkord ließ ihn auffahren, und er schaute wieder auf den Bildschirm, doch es geschah nichts. »Auf jeden Fall ist es ein altes Haus, und in allen alten Häusern gibt’s komische Geräusche. Meiner Meinung nach bewegt sich der ganze obere Teil des Hauses, wenn es windig ist, und dann knarrt’s.«
»Ich mache mir überhaupt keine Sorgen. Meistens machst du dir wegen des Hauses mehr Sorgen als ich«, sagte Jenny mit unerwartetem Trotz.
»Wegen der Geräusche? Klar, aber wegen der von draußen. Ich glaube, es ist ein Spanner. Hast du Susie gefragt, ob sie jemand gesehen hat, wie ich es dir geraten habe?«
Susie Escham wohnte bei ihren Eltern im Nachbarhaus.
»Nein, ich hab’s vergessen«, sagte Jenny.
»Also frag sie. Nur eine Romantikerin wie du zieht auch in ein so abgelegenes Haus. Laß es nur mal tüchtig schneien, daß die Leitungen runterkommen und so, dann wirst du schon sehen.«
»Denkst du, ich habe nicht auch in Scranton schon Schnee erlebt?«
»In Scranton hast du auch nicht in einem solchen Haus gewohnt. Das weiß ich. Ich habe das Haus ja selbst gesehen.«
Jenny seufzte und dachte an das gemütliche, gepflegte zweistöckige Haus, das ihre Eltern in Scranton bewohnten — ganz aus Stein und natürlich vollkommen sturmfest. Sie war dreiundzwanzig. Sie hatte das College im dritten Jahr verlassen, war als Buchhalterin und Sekretärin in eine Firma in Scranton eingetreten und hatte bei ihren Eltern gewohnt, jedenfalls bis Ende letzten Sommers. Dann hatte sie auf einmal der Wunsch gepackt, ganz selbständig leben zu wollen, und sie hatte mit sich gekämpft, ob sie mit ihrem ersparten Geld eine Europareise unternehmen oder nach San Francisco ziehen sollte. Und dann hatte sie sich entschlossen, in eine Kleinstadt zu ziehen, und ihre Wahl war auf Humbert Corners gefallen. Sie hatte sich ein Haus ganz für sich allein gewünscht, ein interessantes Haus, das sie selbst einrichten konnte, ein Haus, das nicht nur ein paar Meter vom nächsten trennten, wie das bei dem ihrer Eltern der Fall war. Dieses Haus hier entsprach all ihren Wünschen, und sie liebte es, trotz seiner seltsamen Geräusche, die sie ängstigten, so daß sie oft nachts aus dem Schlaf hochfuhr.
»Man muß sich nur an das Haus gewöhnen«, sagte Jenny ernsthaft. »Sonst ist alles in Ordnung damit.«
»Okay, Jenny. Aber glaub ja nicht, daß ich in diesem oder einem ähnlichen Haus wohnen werde, wenn wir verheiratet sind. Und das wird hoffentlich im Mai der Fall sein.«
»Na schön, ich verlange ja gar nicht, daß du das sollst. Aber bis dahin will ich mein Haus noch genießen.«
»Das sollst du auch, mein Kleines.« Er küßte sie auf die Wange. »Mein Gott, was für ein Kind du doch bist!«
Das paßte ihr ganz und gar nicht. Er war doch nur fünf Jahre älter! »Jetzt kommen die Nachrichten«, sagte sie.
Mitten in den Nachrichten hörten sie plötzlich draußen ein Geräusch, als habe jemand gehustet. Jenny fuhr in die Höhe, und Greg war augenblicklich auf den Beinen und rannte in die Küche, wo die Taschenlampe auf dem Tisch lag. Er nahm sie, lief durch das Wohnzimmer zurück und öffnete die Haustür.
»Wer ist da?« rief er laut und ließ den Lichtstrahl über die kahlen Forsythien wandern, hinüber zu der fast zwei Meter hohen Rottanne, dann die Einfahrt hinunter bis zur Straße. Auch in die entgegengesetzte Richtung leuchtete er und fand nichts als den verfallenen Zaun und einen einsamen, hölzernen Laternenpfahl, gekrönt von einer windschiefen Laterne mit zerbrochenen Scheiben.
»Siehst du was?« fragte Jenny, die dicht hinter ihm stand.
»Nein, aber ich werde mal nachsehen.« Er sprang die Stufen hinunter, ging zur Hausecke, richtete den Lichtstrahl auf den rückwärtigen Teil des Grundstücks und schlich dann langsam weiter, wobei er vorsichtig hinter das hohe Buschwerk spähte, hinter dem sich ein Mann leicht hätte verbergen können. Er ging bis zur Basketballwand, um nachzusehen, ob sich dort jemand versteckt hielt. Er leuchtete den Geräteschuppen ab, ging rings um ihn herum und warf sogar einen Blick hinein. Dann ließ er den Lichtstrahl plötzlich wieder die Einfahrt entlangwandern und das Gelände rechts und links daneben abtasten.
»Nichts. Keine Spur«, sagte Greg, als er ins Haus zurückkehrte. Das Fernsehgerät war jetzt abgeschaltet. Eine Locke seines krausen, schwarzen Haares hing ihm in die Stirn. »Hat sich wie Husten angehört, oder?«
»Ja«, sagte sie bestimmt, aber unbeteiligt.
Er mußte über ihre Ruhe und Sorglosigkeit lächeln und überlegte, ob er wieder einmal die Nacht hier verbringen sollte. Wenn sie sich zusammen in Pyjamas auf das Sofa legten. Doch dann würde er kein Auge schließen können, wenn er nicht richtig mit ihr schlief, und über dieses Thema hatten sie schon zur Genüge diskutiert. Zweimal hatten sie es getan und beschlossen, es vor der Hochzeit nicht wieder zu tun. Eine zwanglose Vereinbarung, wie sie charakteristisch war für Jenny, und die er vielleicht brechen konnte. Aber nicht heute nacht. Nicht, solange möglicherweise jemand durch die Wohnzimmergardinen spähte und zusah, oder es wenigstens versuchte.
»Ich weiß was!« sagte er plötzlich. »Schaff dir einen Hund an. Ich besorge dir einen. Am besten einen Dobermann, einen Wachhund.«
Sie lehnte sich in die Sofakissen zurück. »Ich bin zuwenig zu Hause. Ich brächte es nicht fertig, das Tier acht Stunden am Tag allein zu lassen.«
Er wußte, es war aussichtslos. Man konnte sie zu fast allem überreden, aber nicht dazu, ein Tier ins Haus zu nehmen, ein Wesen, das vielleicht ihretwegen leiden mußte. »Im Tierasyl gibt’s bestimmt mehr als einen Hund, der froh sein würde, überhaupt ein Heim zu haben, statt zu sterben.«
»Ach, hören wir lieber auf damit.« Sie stand auf und ging in die Küche.
Er sah nachdenklich hinter ihr her und überlegte, ob er sie verstimmt hatte. Ihr kleiner Bruder war vor drei Jahren an spinaler Meningitis gestorben. Jenny hatte viel Zeit an seinem Bett im Krankenhaus verbracht. Es hatte sie tief beeindruckt, viel zu tief. Er mußte unbedingt vermeiden, in ihrer Gegenwart vom Tod zu sprechen.
»Weißt du, worauf ich jetzt Lust hätte?« rief sie von der Küche her. »Heiße Schokolade. Möchtest du auch welche?«
Er lächelte; der sorgenvolle Ausdruck verschwand aus seinem Gesicht. »Gerne, wenn es dir keine Mühe macht.« Er hörte, wie sie Milch in einen Topf goß, dann den elektrischen Herd anschaltete — das einzige moderne Stück im Haus. Er zündete sich eine Zigarette an, blieb unter der Küchentür stehen und beobachtete sie.
Sie rührte langsam in der Milch. »Weißt du, was das ärgste Verbrechen ist, das man begehen kann? Für mich, meine ich?«
Er dachte an Mord, aber er lächelte und fragte: »Was denn?«
»Wenn man jemand fälschlich der Vergewaltigung bezichtigt.«
»Haha!« Er lachte und schlug sich vor die Stirn. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich hab so was in der Zeitung gelesen. Irgendein Mädchen hat jemand beschuldigt. Bis jetzt haben sie ihm nichts beweisen können.«
Er sah Jenny an, die mit der Milch beschäftigt war, betrachtete ihren jungen, festen Körper bis hinunter zu den flachen Wildlederschuhen, die an Jenny weder kindlich noch schick wirkten, sondern irgendwie dazwischen. Wenn sie jemals vergewaltigt wird, dachte er, dann bringe ich den Kerl um, mit meinen eigenen Händen drücke ich ihm die Kehle zu. »Sag mal, Jenny, du hast doch nicht etwa jemand gesehen hier, oder? Das würdest du mir doch sagen, nicht?«
»Aber selbstverständlich würde ich dir das sagen. Sei nicht albern.«
»Ich bin nicht albern. Du hast immer so viele Geheimnisse, Kleines. Darum bist du ja auch eine so aufregende Frau.« Er legte von hinten die Arme um sie und küßte sie auf den Hinterkopf.
Sie lachte ein leises, schüchternes Lachen, drehte sich schnell um, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn.
Sie tranken ihre Schokolade in der Küche und aßen dazu aus einer Dose braune Kekse. Greg sah auf die Uhr und stellte fest, daß es fast Mitternacht war. Er mußte um halb sieben aufstehen, damit er um neun in Philadelphia war. Er war Reisender für pharmazeutische Artikel und mußte jeden Tag Auto fahren. Sein neuer Plymouth hatte schon einundzwanzigtausend Meilen drauf. In Humbert Corners besaß er eine Wohnung, die über einer Garage auf Mrs. Van Vleets Grundstück lag, nur fünf Meilen von Jennys Haus entfernt, und diese fünf Meilen waren für ihn abends, wenn er sie besuchen kam, überhaupt keine Entfernung, ja, sie machten ihm sogar Spaß nach den hundertfünfzig oder zweihundert Meilen, die er am Tag schon zurückgelegt hatte. Genau wie es ihm mit Jenny ging — welch ein seltsamer Gegensatz, wenn er an das Zeug dachte, das er den ganzen Tag verkaufen mußte: Schlaftabletten, Weckpillen, Tabletten, um sich das Rauchen abzugewöhnen, das Trinken, übermäßigen Appetit, Tabletten, die bestimmte Nerven ausschalten und andere anregen sollen. Man hatte das Gefühl, die Welt sei voll von Kranken; sonst hätte er ja auch nichts mehr zu tun gehabt. »Großer Gott!« hatte Jenny gesagt, als er zum erstenmal seinen Koffer geöffnet und ihr das Zeug gezeigt hatte, das er verhökerte. Hunderte von Fläschchen mit Pillen in allen Farben und Größen, alle mit phantasievollen Namen versehen, die unaussprechlichen Namen der Ingredienzien gewissenhaft verzeichnet. Das einzige Medikament, das Jenny in ihrer Hausapotheke hatte, war Aspirin, von dem Jenny vielleicht zweimal im Jahr etwas nahm, wenn eine Erkältung im Anzug war, wie sie sagte. Das gefiel ihm an ihr, unter anderem: daß sie so gesund war. Vielleicht war es unromantisch, ein Mädchen zu lieben, weil es gesund war, aber gerade die Gesundheit machte Jenny so schön und strahlend. Darin war sie allen Mädchen überlegen, mit denen er bisher gegangen oder in die er verliebt gewesen war. Es waren nur zwei gewesen, beide aus Philadelphia, und beide hatten seinen Heiratsantrag zögernd abgelehnt. Verglichen mit Jenny wirkten beide vergleichsweise kränklich. Jenny wünschte sich Kinder. Sie wollten eine Familie gründen. Die Mutter meiner Kinder, dachte Greg oft, wenn er sie ansah. Er sah sie im Geiste mit einem zwei-, drei- oder vierjährigen Kind, wie sie mit ihm sprach, tat, als wäre es ein Erwachsener, selbst wenn es etwas Dummes angestellt hatte, wie sie mit ihm lachte, stets geduldig und gutmütig war und niemals böse wurde. Sie wird bestimmt die beste Mutter der Welt, dachte Greg.
Ein wenig ärgerlich hörte er sich an, was sie über Rita in der Bank zu berichten hatte. Rita war Kassiererin und kam dauernd zu spät von ihrer Mittagspause zurück; das bedeutete, daß Jenny sie solange vertreten mußte und daher Zeit von ihrer eigenen Mittagspause verlor, die anschließend kam. Jenny beschwerte sich nicht. Im Gegenteil, sie hatte immer darüber gelacht, Und jetzt lachte sie, weil ihr Chef, Mr. Stoddard, sie gestern zum Lunch eingeladen hatte, und sie hatte nicht gehen können, ehe Rita nicht zurück war, und darüber war Mr. Stoddard aufgebracht gewesen, und er hatte Rita zur Rede gestellt, als sie endlich wiederkam, bis oben hin mit Paketen beladen.
Greg verschränkte die Arme. Es würde ohnehin nicht mehr lange dauern mit )ennys dämlichem Job. Bis Februar, höchstens März, dann würden sie heiraten. »Wieso hat dich Mr. Stoddard eigentlich zum Essen eingeladen? Das paßt mir aber gar nicht.«
»Ach, hör doch auf! Er ist zweiundvierzig!«
»Verheiratet?«
»Weiß ich nicht.«
»Das weißt du nicht?«
»Ich weiß es nicht, und es ist mit auch egal.«
»War es das erste Mal, daß er dich eingeladen hat?«
»Ja.«
Greg wußte nicht, was er weiter dazu sagen sollte, also schwieg er. Nach einer Weile stand er auf, um zu gehen. An der Küchentür gab er ihr einen liebevollen Kuß. »Vergiß nicht, die Tür hier abzuschließen. Vorne hab ich schon abgesperrt.«
»Wird geschehen.«
»Bis Weihnachten ist es nicht mehr lange.« Den Heiligen Abend wollten sie bei seiner Familie in Philadelphia verbringen und den ersten Weihnachtstag dann bei ihr daheim in Scranton.
»Wieder ein Weihnachtsfest«, sagte sie lächelnd, in einem Ton, der alles besagen konnte. Sie seufzte.
»Du bist müde. Schlaf schön. Gute Nacht, Liebling.« Er rannte hinaus und wäre auf den unbeleuchteten Stufen fast gestürzt. Er tastete im Dunkeln herum, bis er den Griff seiner Wagentür gefunden hatte.
Jenny blieb noch fast eine Stunde auf. Ganz langsam räumte sie in der Küche auf und stellte das Geschirr nach dem Spülen weg. Sie dachte an gar nichts. Manchmal kamen die interessantesten, die angenehmsten Gedanken, wenn man versuchte, an nichts zu denken. Heute abend war sie müde und zufrieden. Der einzige angenehme Gedanke, der ihr kam, war eher eine Vision oder ein Bild: leuchtend gefärbte Fische, Goldfischen ähnlich, nur größer und von kräftigerem Rot, schwammen in einem wunderschönen Unterwasserwald aus kräuterartigen Pflanzen. Der Sand war gelb wie Gold, als fänden die Sonnenstrahlen den Weg bis auf den Grund des Wassers. Es war ein sanftes, stilles Bild, herrlich einschläfernd. Als sie im Bett lag und die Augen schloß, sah sie es noch einmal.