1
Das Büro schloß um fünf, aber Robert blieb noch fast eine ganze Stunde länger an seinem Zeichentisch sitzen. Nach Hause zog ihn nichts, und wenn er später aufbrach, entging er wenigstens dem Gewühl der Autos, die die Angestellten von Langley Aeronautics zwischen fünf und halb sechs von den Parkplätzen des Werkes holten. Auch Jack Nielson arbeitete noch, stellte Robert fest, und ebenso der alte Benson, der stets als letzter das Büro verließ. Robert schaltete seine Neonlampe aus.
»Warte auf mich«, sagte Jack. Seine Stimme klang hohl durch das leere Zeichenbüro.
Robert holte seinen Mantel aus dem Schrank.
Sie sagten Benson gute Nacht und gingen durch die lange verglaste Empfangshalle zu den Lifts.
»Du hast ja neue Schuhe«, sagte Robert.
»Hm-hm.« Jack sah hinunter auf seine großen Füße.
»Beim Lunch hast du sie doch noch nicht angehabt, oder?«
»Nein, ich hatte sie im Schrank. Man soll sie am Anfang nicht länger als zwei Stunden am Tag tragen.«
Sie traten in den Lift.
»Sie sehen prima aus«, bemerkte Robert.
»Scheußlich sehen sie aus. Aber bequem sind sie, Junge.« Jack lachte. »Übrigens, ich wollte dich noch etwas fragen. Könntest du mir vielleicht bis zum Ersten zehn Piepen leihen? Weißt du, heute ist …«
»Aber sicher.« Robert griff nach der Brieftasche.
»… heute ist nämlich unser Hochzeitstag, und da will ich mit Betty mal essen gehen … Sag mal, willst du nicht auf einen Drink mitkommen? Wir machen eine Flasche Schampus auf.«
Robert gab ihm die zehn Dollar. »Hochzeitstag? Na, hör mal, da solltet ihr beide doch lieber allein feiern!«
»Ach komm, Robert! Nur auf ein Glas! Ich habe Betty schon gesagt, daß ich versuchen will, dich mitzulotsen.«
»Nein danke, Jack, wirklich nicht. Sag mal, reicht das auch?«
»Zehn Dollar? Na klar. Ist ja nur für ein paar Blumen. Sechs hätten’s auch getan, aber zehn ist ‘ne runde Summe. Eigentlich hätte ich dich gar nicht anpumpen brauchen, aber ich habe heute die letzte Rate für die Schuhe hier bezahlt. Fünfundsiebzig Kröten, da müssen sie ja bequem sein. Komm doch mit, Bob.«
Sie standen auf dem Parkplatz. Robert hatte keine Lust, mitzugehen, aber es fiel ihm keine Ausrede ein. Er blickte in Jacks langes, häßliches Gesicht mit dem kurzgeschorenen, schwarzen Haar, das schon grau zu werden begann. »Der wievielte Hochzeitstag ist es denn?«
»Der neunte.«
Robert schüttelte den Kopf. »Ich gehe nach Hause, Jack. Grüß Betty schön von mir, ja?«
»Was hat das mit dem neunten zu tun?« rief Jack hinter ihm her.
»Gar nichts! Also dann, bis morgen!«
Robert stieg in seinen Wagen und fuhr vor Jack hinaus. Jack und Betty hatten ein bescheidenes Häuschen in Langley, und Jacks Mutter und Bettys Vater lagen ihnen ständig auf der Tasche. Die beiden waren ewig krank, sagte Jack, und immer, wenn er und seine Frau für eine Ferienreise oder Neuanschaffungen für das Haus ein bißchen Geld beiseite gelegt hatten, dann brauchten unweigerlich seine Mutter oder Bettys Vater das Ersparte.
Aber sie hatten ein fünfjähriges Töchterchen und waren glücklich.
Die Nacht brach schnell herein, so schnell, daß man fast zusehen konnte, und legte sich wie ein düsteres Tuch über die Erde. Als Robert an den Motels und Würstchenbuden am Stadtrand von Langley vorbeifuhr, spürte er einen fast körperlichen Ekel bei dem Gedanken, jetzt in diese Stadt, zu seiner Straße fahren zu müssen. An einer Tankstelle wendete er und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war. Es ist nur die Dämmerung, dachte er. Sogar im Sommer mochte er die Dämmerung nicht, wenn sie langsam hereinbrach und darum erträglicher schien. Im Winter kam sie in der öden Landschaft von Pennsylvanien, die ihm so wenig vertraut war, erschreckend, bedrückend schnell. Es war wie ein jähes Sterben. Samstags und sonntags, wenn er nicht arbeitete, ließ er die Jalousien schon um vier Uhr nachmittags herunter und machte Licht, und wenn er dann später wieder aus dem Fenster sah, lange nach sechs, dann war die Dunkelheit schon hereingebrochen. Sie war da; alles war vorüber. Robert fuhr nach Humbert Corners, einer kleinen Stadt, ungefähr neun Meilen von Langley entfernt. Von dort aus schlug er eine schmale Asphaltstraße ein, die in die Umgebung führte.
Er wollte das Mädchen wiedersehen. Vielleicht zum letztenmal, dachte er. Aber das hatte er schon oft gedacht, und dann war er doch immer wieder hingefahren. Er fragte sich, ob er nicht überhaupt wegen des Mädchens länger im Werk geblieben war. Hatte er vielleicht nur so lange gearbeitet, um sicher zu sein, daß es dunkel war, wenn er das Werk verließ?
Robert parkte den Wagen auf einem Waldweg in der Nähe des Hauses, in dem das Mädchen wohnte, und ging zu Fuß weiter.
An der Einfahrt verlangsamte er seine Schritte. Er bog um die alte Basketballwand am Ende der Einfahrt und ging auf die dahinterliegende Wiese.
Das Mädchen war wieder in der Küche; die erleuchteten Rechtecke der Küchenfenster schimmerten hell an der Rückseite des Hauses. Hin und wieder glitt ihr Schatten durch eines dieser Rechtecke, aber sie hielt sich meistens im linken auf, wo der Tisch stand. Von Roberts Platz aus wirkte das Fenster wie die Linse einer Kamera. Nur selten wagte er sich näher an das Haus heran. Zu sehr fürchtete er, von ihr gesehen zu werden. Doch heute war es sehr dunkel. Vorsichtig schlich er dichter an die Fenster heran.
Es war das vierte oder fünfte Mal, daß er hierher kam. Das erste Mal hatte er das Mädchen an einem Samstag gesehen, einem strahlenden, sonnigen Samstag im September, als er mit seinem Wagen planlos durch die Gegend gefahren war. Sie hatte vor der vorderen Veranda einen kleinen Teppich ausgeschüttelt, als er vorbeikam, und er hatte sie höchstens zehn Sekunden lang gesehen. Und doch war ihm der Anblick schon damals vertraut erschienen, wie ein Bild oder eine Person, die er irgendwo schon einmal gesehen hatte. Aus den Pappkartons, die auf der Veranda standen, und den gardinenlosen Fenstern schloß er, daß sie erst vor kurzem eingezogen sein mußte. Das Haus war zweistöckig, weiß mit braunen Läden, und brauchte dringend einen neuen Anstrich. Das Gras war lange nicht gemäht worden, und der weiße Zaun entlang der Einfahrt hing schief und drohte umzufallen. Das Mädchen hatte lichtbraunes Haar und war verhältnismäßig groß. Mehr hatte er aus den etwa zwanzig Metern Entfernung nicht feststellen können. Ob sie hübsch war, vermochte er nicht zu sagen, und das war ihm auch unwichtig gewesen. Aber was war denn wichtig? Robert hätte es nicht in Worte fassen können. Doch als er sie das zweite und dritte Mal sah, in zwei- bis dreiwöchigen Abständen, hatte er erkannt, was ihn so faszinierte: die ruhige Gelassenheit, die dieses Mädchen ausstrahlte, ihre deutlich spürbare Liebe zu diesem heruntergekommenen Haus, die sichtliche Zufriedenheit mit dem Leben, das sie führte. All das konnte er durch das Küchenfenster sehen.
Etwa drei bis vier Meter vor dem Haus machte er halt und stellte sich neben den Lichtschein, der aus dem Fenster kam. Er sah sich vorsichtig um. Das einzige Licht, das er entdecken konnte, schimmerte direkt hinter ihm, eine halbe Meile entfernt, jenseits der großen Wiese; ein einsames Licht im Fenster eines Farmhauses. In der Küche deckte das Mädchen gerade den Tisch. Für zwei. Das bedeutete vermutlich, daß ihr Freund zum Essen kam. Robert hatte ihn schon zweimal gesehen — ein großer Bursche mit welligem, schwarzem Haar. Einmal hatten sie sich geküßt. Er nahm an, daß sie sich liebten und heiraten wollten, und er hoffte, daß das Mädchen glücklich werden würde.
Robert schlich sich noch näher heran. Vorsichtig rutschte er vorwärts, um nicht auf einen Zweig zu treten. Dann blieb er stehen und hielt sich mit einer Hand am Ast eines Bäumchens fest.
Heute abend gab es Brathuhn. Auf dem Tisch stand eine Flasche Weißwein. Sie trug eine Schürze, um sich nicht schmutzig zu machen, aber während Robert zusah, fuhr sie zurück und rieb sich das Handgelenk, auf das heißes Fett gespritzt war. Er konnte hören, daß das kleine Radio in der Küche Nachrichten brachte. Das letzte Mal, als er hier gewesen war, hatte das Mädchen eine Melodie, die das Radio spielte, mitgesungen. Ihre Stimme war weder gut noch schlecht, nur natürlich und unverbildet. Sie war ungefähr ein Meter siebzig groß, hatte lange Glieder und angenehm proportionierte Hände und Füße. Er schätzte sie auf etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre. Ihr Gesicht war glatt und klar, und niemals schien sie die Stirn zu runzeln. Das lichtbraune Haar hing leicht gewellt bis auf die Schultern herab. Es war über den Ohren mit zwei Goldspangen zurückgehalten und in der Mitte gescheitelt. Ihr Mund war groß und schmal und trug gewöhnlich einen Ausdruck kindhaften Ernstes, genau wie ihre grauen Augen. Die Augen waren ziemlich klein. Auf Robert wirkte sie wie aus einem Guß, wie eine geschickt geformte Statue. Wenn ihre Augen auch zu schmal waren, sie paßten zu ihr, und er fand den Gesamteindruck schön.
Immer, wenn Robert sie nach zwei bis drei Wochen wiedersah, traf es ihn wie ein Schlag, so stark, daß sein Herz fast stillstand, um gleich darauf sekundenlang wie rasend zu klopfen. Eines Abends, etwa vor einem Monat, war es ihm vorgekommen, als sähe sie ihn durch das Fenster hindurch direkt an, und er hatte sich kaum zu atmen getraut. Er hatte zurückgestarrt, ohne Angst, ohne auch nur zu versuchen, durch Regungslosigkeit einer Entdeckung zu entgehen, in jenen kurzen Sekunden die unangenehme Erkenntnis vor Augen, daß er in Panik geraten würde, wenn sie ihn sähe, und daß im nächsten Moment alles aus sein konnte: sie würde die Polizei rufen, sie würde ihn genau ansehen können, er würde als Voyeur verhaftet werden, und damit wäre dann die unwürdige Geschichte zu Ende. Glücklicherweise jedoch hatte sie ihn doch nicht gesehen und offenbar nur rein zufällig aus dem Fenster in seine Richtung gestarrt.
Sie hieß Thierolf — der Name stand auf dem kleinen Briefkasten an der Straße. Das war alles, was er über sie wußte. Und daß sie einen hellblauen Volkswagen fuhr. Er war in der Einfahrt abgestellt, denn das Haus hatte keine Garage. Nie war Robert ihr am Morgen nachgefahren, um herauszubringen, wo sie arbeitete. Es hing mit dem Haus zusammen, daß er ihr so gerne zusah. Ihr häusliches Wesen gefiel ihm, es machte ihm Freude, wenn sie so vergnügt Vorhänge aufsteckte und Bilder an die Wand hängte. Am liebsten sah er sie in der Küche herumwirtschaften, und es traf sich gut, daß die Küche drei Fenster hatte, vor denen Bäume standen, die ihm Deckung boten. Außerdem gab es auf dem Grundstück einen kleinen, zwei Meter hohen Geräteschuppen und die baufällige Basketballwand am Ende der Einfahrt, hinter der er sich einmal verborgen hatte, als ihr Freund mit voll aufgeblendeten Scheinwerfern hereingebraust kam.
Einmal hatte Robert gehört, wie sie ihm nachrief, als er das Haus verließ: »Greg! Greg! Ich brauche auch noch Butter! Mein Gott, wo habe ich nur meine Gedanken!« Und Greg war mit seinem Wagen losgefahren, um das Vergessene zu besorgen.
Robert lehnte die Stirn gegen seinen Arm und warf einen letzten Blick auf das Mädchen. Sie war jetzt mit ihrer Arbeit fertig und lehnte mit gekreuzten Füßen an der Arbeitsplatte neben dem Herd. Sie starrte auf den Boden, mit einem Ausdruck, als sähe sie weit in die Ferne. Ihre Hände, schlaff, fast leblos, hielten ein blauweißes Geschirrtuch. Dann lächelte sie plötzlich, stieß sich von der Platte ab, faltete das Tuch und hängte es über ein e der drei roten Stangen, die über dem Spülstein an der Wand befestigt waren. Robert hatte zugesehen, als sie den Handtuchhalter eines Abends an der Wand befestigt hatte.
Jetzt kam das Mädchen direkt auf das Fenster zu, vor dem Robert stand, und er konnte gerade noch hinter den kleinen Baum treten.
Er haßte es, sich wie ein Verbrecher zu benehmen, und da — ausgerechnet jetzt! — trat er auf einen dieser verdammten Zweige. Er hörte ein Klicken am Fenster und wußte sofort, was es war — eine ihrer Haarspangen hatte die Scheibe berührt. Vor Scham schloß er einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er, daß das Mädchen dem Fenster ihr Profil zuwandte und in die andere Richtung blickte, der Einfahrt zu. Robert warf einen raschen Blick zur Basketballwand hinüber und überlegte, ob er hinlaufen sollte, ehe sie aus dem Hause kam. Dann hörte er, daß das Radio lauter gestellt wurde, und lächelte. Sie hatte Angst, nahm er an, also drehte sie das Radio lauter, um sich nicht so allein zu fühlen. Eine sehr unlogische und doch wiederum sehr logische und rührende Reaktion. Es tat ihm leid, daß er ihr Angst eingejagt hatte. Und es war nicht das erste Mal, das wußte er. Er war ein äußerst ungeschickter Einschleicher. Einmal war er mit dem Fuß an einen alten Kanister neben dem Haus gestoßen, und das Mädchen, allein im Wohnzimmer und mit der Pflege ihrer Nägel beschäftigt, war aufgesprungen und hatte vorsichtig die Haustür aufgemacht. Sie hatte gerufen: »Wer ist da? Ist da jemand?« Dann war die Tür wieder geschlossen und der Riegel vorgelegt worden. Und dann, das letzte Mal, an jenem windigen Abend, als ein Ast an den Fensterläden gekratzt hatte. Das Mädchen hatte das Geräusch gehört, war ans Fenster gekommen, hatte dann wohl beschlossen, nichts zu unternehmen, und war wieder zu ihrem Fernsehapparat zurückgekehrt. Doch das Kratzen hatte nicht aufgehört, und schließlich hatte Robert den Zweig gepackt und ihn zurückgebogen. Dabei hatten die Spitzen ein letztes Mal über die Hauswand gekratzt. Dann war er fortgegangen und hatte den Zweig so zurückgelassen, abgebogen, jedoch nicht gebrochen. Angenommen, sie hatte den Zweig später gesehen und ihren Freund darauf aufmerksam gemacht …?
Die Schmach, als Voyeur erwischt zu werden, erschien ihm so unerträglich, daß er gar nicht daran denken mochte. Ein Voyeur ist ein Mann, der Frauen heimlich beim Ausziehen beobachtet und, wie Robert gehört hatte, noch andere anstößige Gewohnheiten besitzt. Was er fühlte, was ihn trieb, war eher wie ein großer Durst, der gestillt werden mußte. Er mußte sie sehen, mußte sie beobachten. Diese Erkenntnis brachte ihm auch zu Bewußtsein, daß er durchaus willens war, das Risiko einer eventuellen Entdeckung einzugehen. Er würde seine Stellung verlieren. Mrs. Rhoads, seine freundliche Vermieterin in den Camelot Apartments, würde ihm entsetzt auf der Stelle kündigen. Die Kollegen im Büro? Nun ja, mit Ausnahme von Jack Nielson hörte Robert sie jetzt schon sagen: »Habe ich nicht gleich gesagt, daß mit dem Kerl was nicht stimmt? … Nicht ein einziges Mal hat er mit uns gepokert, hab ich recht?« Dieses Risiko mußte er eingehen. Selbst wenn kein Mensch je verstand, daß er, wenn er diesem Mädchen zusah, wie es ruhig seinen Haushaltspflichten nachging, selbst ruhiger wurde, daß er dabei erkannte, wie für manche Menschen das Leben noch Sinn und Freude barg, und daß er dann fast wieder daran glauben konnte, diesen Sinn und diese Freude auch für sich selbst wiederzufinden. Das Mädchen half ihm.
Robert schauderte es, wenn er an seinen Gemütszustand im vergangenen September dachte, als er nach Pennsylvanien gekommen war. Er war nicht nur deprimierter gewesen als je zuvor, er hatte tatsächlich geglaubt, daß das letzte Restchen Optimismus, das er besaß, das letzte Restchen Willenskraft, ja sogar das letzte Restchen Verstand verrann wie die Sandkörner eines Stundenglases. Er war gezwungen gewesen, alles nach einem genauen Zeitplan zu tun, als wäre er eine kleine Ein-Mann-Armee: essen, Stellung suchen, schlafen, baden, sich rasieren, und wieder von vorne, wieder nach Zeitplan — sonst wäre er zusammengeklappt. Sein Psychotherapeut, Dr. Krimmler in New York, hätte das vermutlich gutgeheißen. Sie hatten sich so manches Mal darüber unterhalten. Robert: »Ich habe das bestimmte Gefühl, wenn nicht jeder seine Mitmenschen beobachtete, würden alle überschnappen. Ohne Verhaltensregeln wüßte kein Mensch, wie er leben sollte.« Dr. Krimmler, feierlich und mit Überzeugung: »Diese Verhaltensregeln, von denen Sie sprechen, sind gar keine Verhaltensregeln. Es sind die Gewohnheiten, die die menschliche Rasse im Laufe der Jahrhunderte angenommen hat. Wir schlafen bei Nacht und arbeiten bei Tage. Drei Mahlzeiten sind besser als eine oder sieben. Diese Gewohnheiten halten uns geistig gesund, insofern haben Sie recht.« Aber ganz zufriedenstellend war das nicht.
Was verbirgt sich dahinter, wollte Robert wissen. Das Chaos? Das Nichts? Das Böse, Pessimismus und Depressionen, die vielleicht zu rechtfertigen wären? Oder einfach der Tod, das Ende, eine Leere, so schrecklich, daß niemand davon zu sprechen wagte? Er hatte sich wohl doch nicht so klar ausgedrückt bei Krimmler, obwohl es ihm vorkam, als hätten sie geredet und geredet, ohne Unterbrechung, und kaum einmal geschwiegen. Doch andererseits war Krimmler Psychotherapeut und kein Analytiker. Und außerdem hatten seine Ratschläge geholfen, weil Robert sich daran gehalten und genau nach Vorschrift gelebt hatte. Und es war sicher, daß sie ihm sogar bei Nickies Anrufen geholfen hatten. Nickie hatte ihn irgendwie aufgespürt, möglicherweise durch die Telefongesellschaft oder durch einen von ihren gemeinsamen Freunden in New York, denen er seine Nummer gegeben hatte.
Ohne sich umzusehen verließ Robert die Deckung, die das Bäumchen gewährte, machte einen Bogen um das helle Rechteck, das das Licht aus dem Fenster auf den Boden warf, und trat in die Einfahrt.
In diesem Augenblick kam auf der Straße von rechts langsam ein Paar Scheinwerfer näher. Mit zwei Sätzen war Robert wieder hinter der Basketballwand, als der Wagen in die Einfahrt einbog. Das Licht der Scheinwerfer fiel zu beiden Seiten der zwei Meter breiten Holzwand an Robert vorbei, und da die alten Flanken rissig waren, hatte Robert das Gefühl, als werfe sein Körper ein schwarzes Schattenbild auf die Bretterwand.
Die Scheinwerfer erloschen. Die Wagentür wurde geöffnet, dann öffnete sich die Haustür.
»Hallo, Greg!« rief das Mädchen.
»Hallo, Liebling! Tut mir leid, daß ich so spät dran bin. Hab dir ‘ne Topfblume mitgebracht.«
»Oh, danke. Sie ist wunderschön, Greg.«
Die Stimmen verklangen, da die Haustür geschlossen wurde.
Robert seufzte. Er zögerte, sofort zu gehen, obwohl er sich jetzt, solange sie noch mit der Topfblume beschäftigt waren, am sichersten absetzen konnte. Er sehnte sich nach einer Zigarette. Und er fror bis auf die Knochen. Dann hörte er, wie ein Fenster hochgeschoben wurde.
»Wo? Da draußen?« fragte Greg.
»Ja, da, glaube ich. Gesehen habe ich nichts.«
»Na, der Abend heute ist ideal dafür«, sagte Greg vergnügt. »Schön duster. Vielleicht passiert wirklich was.«
»Bestimmt nicht, wenn du ihn verscheuchst«, sagte das Mädchen lachend. Sie sprach ebenso laut wie er.
Sie wollen niemand finden, dachte Robert. Wer will das schon? Die Schuhe des Mannes dröhnten auf der seitlichen Veranda. Greg machte die Runde ums Haus. Robert sah zu seiner Erleichterung, daß er keine Taschenlampe hatte. Trotzdem war es möglich, daß er um die Basketballwand herumkam. Das Mädchen sah aus dem Fenster, das ein wenig offenstand. Greg kam von seinem Rundgang zurück und betrat das Haus durch die Küchentür. Das Fenster wurde heruntergezogen, dann aber von Greg wieder hinaufgeschoben, nicht ganz so hoch wie zuvor. Dann wandte sich Greg ab.
Robert schritt wieder zum Haus hinüber, auf das offene Fenster zu. Sein Gang war fast arrogant, als wolle er sich beweisen, daß er keineswegs eingeschüchtert war, weil er sich ein paar Minuten hatte verstecken müssen. Er stand an derselben Stelle wie zuvor, auf der anderen Seite des Baumes, ungefähr einen Meter vom Fenster entfernt. Leichtsinn, dachte er, purer Leichtsinn. Und Übermut.
»… die Polizei«, sagte Greg gelangweilt. »Aber zuerst will ich mich selbst mal umsehen. Ich schlafe im Wohnzimmer, Liebling, da kann ich leichter rausrennen als von oben. Ich ziehe mich gar nicht aus, und wenn ich einen erwische …« Mit einer Grimasse hob er die geballte Faust vors Gesicht.
»Willst du ein schönes, dickes Holzscheit als Knüppel?« fragte das Mädchen mit sanfter Stimme und lächelte. Und es schien, als wäre sie sich der Brutalität ihrer Worte überhaupt nicht bewußt. Trotzdem, sie war der Typ, der unbekümmert lächelt, wenn er sich auch Sorgen macht. Das spürte Robert, und es gefiel ihm. Sie wirkte nie nervös. Das fand er großartig. Sie sagte noch etwas, das er nicht verstehen konnte, aber er war sicher, sie ging ins Wohnzimmer, um Greg das Holzscheit zu zeigen, von dem sie gesprochen hatte. Sie hatte neben dem Kamin einen schwarzen Eimer mit Holz und Anbrennspänen stehen.
Aus dem Wohnzimmer kam Gregs Gelächter, laut und herzhaft.
Robert zuckte lächelnd die Achseln. Dann knüpfte er seinen Mantel auf, schob die Hände in die Hosentaschen und schritt mit erhobenem Haupt vom Hause fort, die Einfahrt hinunter.
Das Mädchen wohnte an der Conorack Road, die nach einer Strecke von sechs schnurgeraden Meilen hügelauf, hügelab in Humbert Corners endete, wo sie arbeitete, wie Robert annahm. Er fuhr durch Humbert Corners und weiter nach Langley, wo er wohnte. Langley war eine weit größere Stadt und lag am Delaware. Es war als Einkaufszentrum bekannt, hier residierte der größte Gebrauchtwagenhändler dieser Gegend — »Red Redding’s Used Car Riots« — und auch die Firma Langley Aeronautics, die Bauteile für Sportflugzeuge und Hubschrauber herstellte. Hier arbeitete Robert seit Ende September als Ingenieur. Es war keine besonders interessante, aber eine gut bezahlte Arbeit. Und Langley Aeronautics war froh gewesen, ihn zu bekommen, denn vorher hatte er in New York eine angesehene Stellung bei einer Firma innegehabt, die Toaster, Bügeleisen, Radios, Tonbandgeräte und so gut wie alle Apparate und Geräte für den amerikanischen Haushalt umgestaltete. Aus New York hatte sich Robert auch seine private Arbeit mitgebracht, die Vervollständigung einer Serie von über zweihundertfünfzig detaillierten Zeichnungen von Insekten und Spinnen, die ein junger Franzose für einen Professor Gumbolowski begonnen hatte. Peter und Edna Campbell, Freunde von Robert, hatten ihn eines Abends in New York dem Professor vorgestellt und darauf bestanden, daß Robert seine Blumenzeichnungen mitbrachte. Der Professor hatte einige der Zeichnungen für sein Buch dabei, für das er mit einem amerikanischen Verleger bereits einen Vertrag abgeschlossen hatte. Der junge Franzose, der die Zeichnungen begonnen und auch mehr als die Hälfte fertiggestellt hatte, war gestorben. Das allein genügte Robert schon, um den Auftrag abzulehnen. Nicht etwa, weil er abergläubisch war, aber die Sache war irgendwie deprimierend, und von Depressionen hatte er genug. Außerdem hegte er keine besondere Vorliebe für Spinnen und Insekten. Doch der Professor war von den Irisblüten, die Robert aus einer Laune heraus nach den Blumen in seiner und Nickies Wohnung gezeichnet hatte, entzückt gewesen und äußerte die Überzeugung, Robert könne die Zeichnungen im Stil des Franzosen vollenden. Noch ehe der Abend vorbei war, hatte Robert den Auftrag angenommen. Er unterschied sich wirklich sehr von allem, was er bisher gearbeitet hatte, aber er wollte ja sowieso versuchen, sich ein »neues« Leben aufzubauen. Er hatte sich von Nickie getrennt und lebte in einem Hotel in New York. Er wollte seiner Firma kündigen und suchte eine Stadt, in der er von nun an leben konnte. Das Insektenbuch zog vielleicht weitere, ähnliche Aufträge nach sich. Möglich, daß es ihm gefiel, aber ebenso war es möglich, daß er die Arbeit scheußlich fand. Nun, es würde sichja herausstellen. So war er nach Rittersville in Pennsylvanien gefahren, einer größeren Stadt als Langley, war zehn Tage geblieben, hatte keinen Job gefunden, und war dann nach Langley gekommen, um sich über die Firma Langley Aeronautics zu informieren. Die Stadt war langweilig, aber er bereute es nicht, New York verlassen zu haben. Auch wenn man seinen alten Adam überall mit sich herumschleppen mußte, eine andere Umgebung war immerhin eine Veränderung, und das allein half schon ein wenig. Er sollte achthundert Dollar erhalten, wenn die Zeichnungen fertig waren, und er hatte bis Ende Februar Zeit. Robert nahm sich vor, vier Zeichnungen pro Woche zu machen. Er zeichnete nach genauen, aber rohen Skizzen des Professors und nach vergrößerten Fotografien, die dieser ihm gegeben hatte. Robert stellte fest, daß ihm die Arbeit Freude machte und ihm half, die langen Wochenenden auszufüllen.
Robert erreichte Langley von Osten her und kam am Gelände der »Red Reddings’s Used Car Riots« vorbei. Hier standen dicht bei dicht Limousinen und Cabriolets, geisterhaft beleuchtet von Straßenlaternen, die auf schmalen, gepflasterten Pfaden zwischen den Reihen der Autos standen. Die Autos sahen aus wie eine riesige Armee gefallener Krieger in ihren Rüstungen, und konnte nicht auch jeder Wagen von seiner eigenen Schlacht berichten? Von einem Unfall, bei dem der Besitzer umgekommen, den der Wagen jedoch überstanden hatte? Von einem Familienvater, der Pleite gemacht hatte, so daß der Wagen verkauft werden mußte?
Die Camelot Apartments, in denen Robert wohnte, waren ein vierstöckiges Gebäude im Westteil der Stadt, nur eine Meile von seinem Arbeitsplatz entfernt. Die Halle war von zwei Tischlampen erleuchtet, deren Schein durch Philodendrontöpfe leuchtete. In der Ecke stand ein alter Klappenschrank; er war nie entfernt worden. Mrs. Rhoads hatte ihm erklärt, »ihre Leute« zögen es vor, ihren eigenen Telefonanschluß zu haben, auch wenn man dadurch für sie keine Nachrichten entgegennehmen konnte.
Mrs. Rhoads wohnte im Erdgeschoß rechts und hielt sich gewöhnlich in der Halle oder in ihrem Wohnzimmer auf, dessen Tür stets offenstand. Als Robert eintraf, war sie in der Halle und goß aus einer Messingkanne Wasser in einen Philodendrontopf.
»Guten Abend, Mr. Forester. Na, wie geht’s heute abend?« fragte sie.
»Danke, gut«, erwiderte Robert lächelnd. »Und Ihnen?«
»Ganz gut. Haben Sie so lange arbeiten müssen?«
»Nein, ich bin noch ein bißchen in der Gegend herumgefahren. Ich möchte gerne die Umgebung kennenlernen.«
Dann fragte sie ihn, ob ein bestimmter Heizkörper in seiner Wohnung genügend Wärme gebe, und Robert sagte ja, obwohl ihm an dem Heizkörper nichts aufgefallen war. Dann stieg er die Treppe hinauf. Das Gebäude beherbergte sechs oder acht Wohnungen und hatte keinen Lift. Roberts Wohnung lag im obersten Stock. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die anderen Hausbewohner — zwei ]unggesellen, ein junges Mädchen in den Zwanzigern und eine Witwe mittleren Alters, die sehr früh morgens zur Arbeit ging — kennenzulernen, aber er grüßte jeden höflich, der ihm im Hause begegnete. Einer der jungen Männer, Tom Shive, hatte ihn einmal gefragt, ob er nicht mit zum Kegeln kommen wolle, und Robert war mitgegangen. Mrs. Roads besaß die Neugier der klassischen Concierge, was das Kommen und Gehen im Hause betraf, aber Robert fand sie sehr gutmütig, und im Grund war es ihm sogar lieb, daß es einen Menschen gab, der sich darum kümmerte, ob er allein war oder Besuch hatte, ob er um fünf, um halb acht oder um ein Uhr früh nach Hause kam. Für so ziemlich dieselbe Summe, neunzig Dollar im Monat, hätte Robert sich in der Umgebung von Langley ein recht nettes Häuschen mieten können, aber er wollte nicht allein sein. Selbst die recht mittelmäßigen Möbel seiner Zweizimmerwohnung waren ihm ein Trost: Andere Menschen hatten vor ihm hier gewohnt, hatten darauf geachtet, das Sofa nicht in Brand zu setzen, hatten der Schreibtischplatte nicht mehr Schaden zugefügt als den Brandfleck einer Zigarette, waren über denselben dunkelgrünen Teppich geschritten und hatten mittwochs und samstags vielleicht sogar bemerkt, daß er gesaugt worden war. Andere Menschen hatten vor ihm hier gewohnt und waren weitergezogen, um ein ganz normales und vielleicht glücklicheres Leben zu führen. Er hatte einen Monatsvertrag mit Mrs. Rhoads. Er wollte nicht länger als ein oder zwei Monate hierbleiben, hatte er sich vorgenommen. Entweder würde er sich ein Haus außerhalb der Stadt mieten oder nach Philadelphia ziehen, wo sich die Hauptniederlassung von Langley Aeronautics und das Montagewerk befanden. Er hatte sechstausend auf der Bank, und hier gab er weniger aus als in New York. Noch hatte er die Rechnung für die Scheidung nicht bekommen, aber darum würden sich Nickies Anwälte in New York schon kümmern. Nickie wollte wieder heiraten und verlangte keine Unterhaltszahlungen von ihm.
Robert schaltete den elektrischen Backofen in der Kochnische ein, las die Gebrauchsanweisung auf den zwei Päckchen Tiefkühlkost, öffnete sie und schob sie in den Ofen, ohne vorzuheizen. Er sah auf die Uhr und machte es sich mit einem Taschenbuch über amerikanische Bäume im Lehnstuhl bequem. Er las Die weite und die rote amerikanische Ulme. Die einfache, nüchterne Prosa war erfrischend.
Die innere Rinde der Ulmenzweige wurde früher als Linderungsmittel bei Halsschmezzen gekaut. Die Zweige sind mit feinen Härchen besetzt, jedoch nicht korkig… Derb, hart und schwer, eignet sich das Holz gut für Zaunpfähle …
Voller Interesse blätterte er weiter und las, bis der Geruch angebrannten Essens ihn aus seinem Sessel hochtrieb.