23
»Was gibt’s Neues über den Doktor?« fragte Jack Nielsen.
»Immer noch dasselbe. Er liegt im, Koma«, sagte Robert.
Jack wollte sich nicht setzen. Er stand verlegen mitten in Roberts Wohnzimmer, im Regenmantel, die Hände verschränkt. Robert wanderte langsam im Zimmer umher, umkreiste Koffer und Kartons. Aus einem der Kartons ragte einen Viertelmeter hoch Jennys Schwiegermutterpflanze hervor. Es war 10.25 Uhr, Samstag vormittag, Robert sah alle fünf Minuten auf die Uhr. Um elf wollte er wieder im Krankenhaus anrufen.
»Seit wann magst du keinen Kaffee?« fragte Robert. Er hatte noch nie erlebt, daß Jack eine Tasse Kaffee ablehnte.
Jack schüttelte den Kopf. »Nein, danke, Bob. Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen … Weißt du, Betty und ich, wir sind uns nicht ganz einig deswegen. Sie ist ein bißchen ängstlich. Zu ängstlich, um dich im Haus zu haben, glaube ich. Du weißt doch, ich hatte dich eingeladen.«
»Es ist nicht nötig, Jack. Ich danke dir, aber ich hatte ja schon nein gesagt.« Robert ging mit langsamen Schritten auf und ab, den Blick zu Boden gerichtet.
»Ich glaube, sie regt sich mehr auf über diese Voyeur-Geschichte als über alles andere. Ich persönlich verstehe dich — jedenfalls nach dem, was du mir erzählt hast. Ich habe ihr gesagt, wenn sie dich gehört hätte, würde sie dich auch verstehen. Du weißt doch, wie Frauen sind. Und dann diese Schießerei!«
Robert fand die Unterhaltung allmählich lästig. »Ich verstehe. Und unter keinen Umständen würde ich jetzt zu anderen Leuten ins Haus gehen. Und es war idiotisch von mir, daß ich mit dem Doktor gegangen bin. Aber er wollte es ja nicht anders. Er war Arzt, und auf mich war geschossen worden.« Robert warf die Zigarette in den Kamin. Dort verglühte sie, häßlich und unansehnlich auf den sauber gefegten Steinen. »Der Doktor stirbt vielleicht, und ich bin schuld an seinem Tod«, sagte er.
Jack schwieg. Es war, als hielte er eine Schweigeminute für einen Toten.
Robert sah ihn von der Seite an.
»Ich muß jetzt gehen, Bob.«
Als er fort war, fiel Robert ein, daß Jack nicht gefragt hatte, wie und wo er nun die Nacht verbringen würde. Jack hatte gesagt, er wolle ihn heute nacht auch gegen den Willen seiner Frau im Keller oder auf dem Boden verstecken. Früher oder später stellt sich Jack ja doch ganz auf die Seite seiner Frau, dachte Robert. Vermutlich schon heute nachmittag oder heute abend. Heute mittag sollte der Zahnarzt kommen, hatte Lippenholtz Robert gestern abend gesagt. Robert ging ans Telefon und rief das Krankenhaus Rittersville an.
»Dr. Knotts Zustand ist unverändert«, sagte die Schwester.
»Danke.« Was hatte er erwartet? Er hatte das Krankenhaus erst vor zwei Stunden verlassen.
Robert schüttete den kalt gewordenen Kaffee in den Ausguß. Er nahm den Brief an Jennys Eltern zur Hand, den er angefangen hatte. Als er gestern abend spät nach Hause gekommen war, hatte er ihn aus der Maschine genommen, zusammengefaltet und auf den Schreibtisch gelegt. Nun knüllte er ihn zusammen und warf ihn in die große Abfalltüte in der Küche. Die Adresse war 47 51 Franklin Avenue, Scranton. Er kannte sie aus der Zeitung. Robert duschte und rasierte sich.
Kurz vor eins war er in Scranton. Unterwegs hatte er überlegt, ob er zuerst anrufen oder unangemeldet erscheinen sollte, und jetzt war er noch genauso unentschlossen wie bei Antritt der Fahrt. Aber er hielt trotzdem vor einem Drugstore und ging in die Telefonzelle, um die Polizeistation von Rittersville anzuurfen.
Inspektor Lippenholtz war nicht da, aber Robert wurde mit einem Beamten verbunden, der seine Fragen beantworten konnte.
»Dr. McQueen war eben mit seinen Röntgenaufnahmen hier. Er hatte nur eine — vom Unterkiefer. Er sagte, an Wyncoops Oberkiefer hat er nie gearbeitet, also kann er auch nicht sagen, ob … Nein, er konnte ihn nicht identifizieren.«
»Ach so … Ja, danke.« Robert legte auf. Er sah sich benommen, betäubt in dem vollgestopften Laden um.
»Kann ich Ihnen behilflich sein?« fragte eine Blondine im weißen Kittel.
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Er ging hinaus zu seinem Wagen. Ein Verkehrspolizist, den er nach der Franklin Avenue fragte, beschrieb ihm den Weg, doch er mußte an einer Tankstelle noch einmal um Auskunft bitten, ehe er sie fand. Die Straße lag in einer weitläufigen Wohngegend, wo lauter zweistöckige Privathäuser standen. Jedes Haus hatte seinen Vorgarten, Bäume standen dicht am Straßenrand, und es gab keine Bürgersteige. Nummer 47 51 war ein rotes Backsteinhaus mit weißgestrichener Tür und weißen Fensterbrettern. An der Tür hing ein Kranz. Jenny hatte ihm das Haus nie beschrieben, doch es gab ihm einen Stich, als ob er einmal mit ihr hiergewesen wäre. Er parkte seinen Wagen vor der Einfahrt am Straßenrand, stieg aus und schritt den gepflasterten Weg hinauf. Er hörte Kinderlachen und zögerte sekundenlang. Dann ging er weiter. Er setzte den schwarzen eisernen Türklopfer in Bewegung.
Eine lächelnde junge Frau, an deren Knie sich ein Kind klammerte, öffnete ihm. »Ja?«
»Mrs… . Bin ich hier recht bei Thierolf?«
Das Lächeln der jungen Frau erstarb. »O nein, das ist nebenan«, sagte sie und wies hinüber. »Siebenundvierzigdreiundfünfzig.«
»Aha. Danke. Entschuldigen Sie.« Unter ihrem starren Blick drehte er sich um und ging den Weg wieder hinunter. Die Zeitungen hatten sich offensichtlich verdruckt.
Das Haus nebenan war ganz aus Backstein. Seine Farbe war ein blasses Rot. Es war größer und weniger auffallend. Sein Anblick weckte keine Gefühle in ihm, doch fühlte er sich weniger sicher und glaubte einen Augenblick, seine Absicht nicht ausführen zu können. Dann zwang er sich, weiterzugehen.
Ein Mann machte ihm auf, ein großer Mann mit ergrauendem Haar und leichten Hängebacken.
»Guten Morgen … Guten Tag«, verbesserte Robert sich hastig. »Mein Name … mein Name ist Robert Forester.« Robert sah die Bestürzung im Blick des Mannes.
»So. Ja. Nun …«
»Ich bin gekommen … Ich wollte Sie gerne sprechen, weil …«
»Wer ist denn da, Walter?« rief eine Frauenstimme.
Ohne den Blick von Robert zu wenden, trat der Mann ein wenig zur Seite, um seiner Frau Platz zu machen. »Dieser Mann … Das ist Robert Forester.«
Die Frau öffnete überrascht den Mund. Ihr Gesicht hatte die gleiche Form wie Jennys Gesicht, ein längliches Oval, und sie hatte die gleichen schmalen Lippen. Ihr Haar war blond, mit Grau durchzogen und straff zu einem Knoten zurückgekämmt.
»Guten Tag, Mrs. Thierolf«, sagte Robert. »Ich hoffe, Sie entschuldigen, daß ich so ohne weiteres hier erscheine. Ich hätte so gerne mit Ihnen gesprochen.«
»Nun ja …« sagte die Frau und wirkte ebenso verlegen und bedrückt, wie Robert sich fühlte. Ihre Augen waren traurig, müde, verrieten jedoch keinerlei Feindseligkeit… »Jenny hat oft … sie hat oft von Ihnen gesprochen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Geh hinein, Liebes«, sagte der Mann und nickte ihr zu. »Ich werde mit ihm reden.«
»Nein.« Die Frau sah Robert an. Sie war jetzt wieder vollkommen gefaßt. »Ich glaube … Sie sehen anders aus, als wir dachten.«
Robert stand regungslos, verkrampft da. »Ich wollte Ihnen nur persönlich mein Bedauern aussprechen über …«
Die Frau machte eine schwerfällige Geste. »Möchten Sie nicht hereinkommen?« fragte sie mühsam.
»Das ist nicht notwendig, danke.« Robert blickte in das noch immer finstere Gesicht von Jennys Vater. Seine Augen hatten die gleiche Farbe wie Jennys Augen. »Ich weiß, ich kann Ihnen nichts sagen, das Ihnen …«
»Kommen Sie herein«, sagte die Frau.
Robert trat ein. Er folgte der Frau in ein sauberes Wohnzimmer. Alle Teppiche, alle Polsterbezüge hatten Blumenmuster. Sein Herz klopfte, als er auf dem Kaminsims ein Bild entdeckte, das er im ersten Augenblick für ein Foto von Jenny hielt. Es zeigte jedoch einen jungen Mann. Zweifellos der Bruder, der im College war.
»Möchten Sie sich nicht setzen?«
Robert dankte, blieb aber stehen. Mr. Thierolf stand zwischen Robert und der Wohnzimmertür. Jennys Mutter setzte sich auf das kleine Sofa . »Wir können es immer noch nicht fassen«, sagte sie und tupfte sich rasch die Augen. Doch sie weinte nicht. Sie hob den Kopf und sah Robert an. »Hat sie zu Ihnen etwas gesagt? Haben Sie eine Ahnung, warum … warum sie es getan hat?«
Robert schüttelte den Kopf. »Nein, kaum. Ich war Montagabend mit ihr zusammen, letzten Montag. Sie sagte, sie wollte mich nicht wiedersehen. Ich habe sie gefragt, warum. Sie wollte es mir nicht sagen. Ich dachte … natürlich dachte ich, es wäre, weil sie meinte, ich hätte … daß ich schuld sei an Gregs Tod. Was ich nicht bin. Aber so denke ich’s mir. Ich hab nie im entferntesten daran gedacht, daß sie sich umbringen, daß sie auch nur daran denken könnte … Ich meine, ernsthaft.« Er sah Jennys Vater an, der seinen Worten aufmerksam und mit gerunzelter Stirn zuhörte. »Obwohl …«
»Ja?« fragte Mr. Thierolf.
Robert befeuchtete sich die Lippen. »Sie hat oft vom Tod und vom Sterben gesprochen. Vielleicht ist Ihnen das bekannt?«
»O ja, das wissen wir«, sagte Mrs. Thierolf tonlos. »Unser Häschen … ja, sie hat oft vom Tod gesprochen.«
»Ich will nicht sagen, daß das alles erklärt, gewiß nicht. Aber sie hat vom Tod gesprochen, als wäre er etwas, über das sie gerne mehr erfahren wollte. Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll.«
Mrs. Thierolf hielt den Kopf gesenkt. Ihr Gatte trat zu ihr
»Entschuldigen Sie«, sagte Robert zu beiden. »Ich habe schon zuviel gesagt. Ich muß gehen.«
Jennys Vater sah ihn an. Er stand noch über seine Frau gebeugt, die Hand auf ihrer Schulter. »Ich höre, daß heute der Tote identifiziert werden soll, den sie aus dem Wasser gezogen haben?« Seine Stimme war rauh.
»Ja, eben habe ich Nachricht bekommen«, sagte Robert. »Der Zahnarzt, Dr. McQueen aus Humbert Corners, kann auch nichts sagen. Er hat nur an Gregs Unterkiefer gearbeitet und …Nun ja, er kann ihn nicht identifizieren. Es gibt keinen Unterkiefer.«
Mr. Thierolf nickte schweigend.
»Mr. Thierolf, ich möchte Ihnen noch sagen, daß … daß ich Greg nicht ins Wasser gestoßen habe. Ich bin überzeugt, daß er noch am Leben ist. Ich weiß von Jenny, daß Sie beide ihn sehr gern hatten.«
»Oh, ich nicht«, sagte Mr. Thierolf. »Er war kein …« Er hielt achselzuckend inne, als wäre das Thema jetzt ohne Bedeutung.
»Nun haben wir zwei Kinder verloren«, sagte Mrs. Thierolf und sah zu Robert auf. »Aber einer ist uns noch geblieben, unser Bob.« Sie nickte zu der Fotografie auf dem Kaminsims hinüber. Um ihre Lippen lag ein leises Lächeln. »Im nächsten Monat macht er sein Examen. Nehmen Sie doch Platz.«
Robert nahm Platz, als seien ihre freundlichen Worte ein Befehl. Er blieb vielleicht noch zehn Minuten. Auch Mr. Thierolf setzte sich schließlich neben seine Frau auf das Sofa. Sie stellten Robert Fragen über ihn selbst, ob er in Langley bleiben wolle und so weiter. Er berichtete ihnen von seiner Absicht, seine Mutter in New Mexico zu besuchen. Mrs. Thierolf, deren Offenheit und schlichtes Wesen ihn an Jenny erinnerte, erzählte ihm, daß Jenny etwa zehn Tage vor ihrem Tod den Verdacht gehegt habe, er habe Greg bei der Schlägerei getötet. Ihre Freunde hatten ihr das eingeredet. Die Thierolfs sagten, sie hätten nicht gewußt, was sie glauben sollten. Diese Enthüllungen brachten Robert in Verlegenheit, als hätten die Thierolfs einen neuen Charakterzug an Jenny bloßgelegt — Dummheit. Das vermittelte ihm ein seltsames Gefühl, als müsse er sich, beschämt über sich selbst, schützend vor Jenny stellen. Sie fragten auch nicht andeutungsweise nach seinen Gefühlen für Jenny; sie schienen zu wissen, daß Jenny mehr für ihn empfunden hatte als er für sie. Als er aufstand, um zu gehen, und Mrs. Thierolf sich erbot, ihm eine Tasse Tee »für den Heimweg« zu machen, war Robert zuerst gerührt, dann sonderbar ungehalten. Höflich lehnte er ab. Er hatte das Gefühl, als hätten sie einander verstanden und doch nicht verstanden. Als Robert aufbrach, war Mr. Thierolf wesentlich freundlicher als bei seiner Ankunft, seine Frau benahm sich einfach wie eine im Grund gutmütige Frau, die in ihrem Kummer nicht die Kraft zu Feindseligkeit hat. Und er hatte das Gefühl, daß Mrs. Thierolf ihm möglicherweise deswegen mit Nachsicht begegnet war, ihr Urteil über ihn aufgeschoben hatte, weil sie wußte, daß Jenny ihn gern gehabt, ja geliebt hatte.
Als er die Thierolfs verlassen hatte, fuhr Robert eine lange Strecke langsam dahin. Er war in Gedanken noch immer bei dem Gespräch, erfüllt von einem eigenartigen Gefühl des Unbefriedigtseins, das dieser Besuch in ihm hinterlassen hatte. Er bereute nicht, mit den beiden gesprochen zu haben, und doch, wen hätte es gekümmert, wenn er den Besuch unterlassen hätte? Der einzige Unterschied wäre gewesen, daß man sein Verhalten als unhöflich und feige hätte bezeichnen können. Doch er hatte sich von dem Gespräch mehr versprochen als nur die Befriedigung, das Rechte getan zu haben. Er kam zu dem Schluß, daß seine Unzufriedenheit von der Tatsache herrührte, daß die Thierolfs sein Wesen gar nicht und das ihrer Tochter nur unvollständig erkannt hatten und so gar nicht wissen konnten, was durch die Begegnung dieser beiden Charaktere entstanden war.
Es war fünf vorbei, als er nach Hause kam und auf das leergeräumte Haus zuschritt, in dem Koffer und Kartons herumstanden. Es war ihm, als stünden sie seit Wochen so da. Er rief im Krankenhaus an und wieder hieß es »Unverändert.« Und als Robert nach Dr. Knotts Arzt, Dr. Purcell, fragte, war dieser nicht zu erreichen. Als er am Morgen im Krankenhaus gewesen war, hatte er mit Dr. Purcell gesprochen. Robert spürte, daß Dr. Purcell wußte, der Doktor werde durchkommen, und daß der Arzt das nur nicht aussprechen wollte. Dr. Knotts Befinden hatte sich nicht verändert, das traf zu. Seine Augen sahen Robert noch mit demselben Blick an wie am Abend zuvor, als er die Treppe heruntergerannt war und ihn am Boden liegend gefunden hatte.
Robert mischte sich einen Scotch mit Wasser, trank die Hälfte und fiel auf die rote Couch und schlief ein. Als er erwachte, war es dunkel, und draußen zirpten ein paar Grillen. Es war ziemlich früh für Grillen, fand Robert, Zeichen, daß ein trockener Sommer bevorstand. Er machte Licht, öffnete die Haustür und trat hinaus. Überall zirpte es. Er hatte das Gefühl, als umgäben ihn Hunderte von Insektenaugen, die ihn alle anstarrten. Er trat von der kleinen Veranda herunter. Der Viertelmond stand rechts von ihm auf halber Höhe am nachtschwarzen Himmel. Sein Fuß stieß an ein Stück Holz. Er hob es auf und packte es unbewußt wie einen Knüppel. Er erreichte den dunklen Schatten der Hortensien und schritt langsam um den Busch herum. Nichts. Natürlich. Warum hatte er überhaupt nachgeschaut? Nie fand er etwas, wenn er danach suchte. Nicht er. Langsam fuhr ein Wagen vorbei und bog in Kolbes Einfahrt ein, etwa hundert Yards weiter die Straße hinunter. In Kolbes Haus war nur ein Fenster beleuchtet, doch nach einer Minute wurde unten noch ein Fenster hell, und dann ein weiteres oben. Kolbe war der große Mann, der am Donnerstag, als die fünf Schüsse fielen, als erster zu Robert ins Haus gekommen war. Kolbe war derjenige, der den im Zimmer zusammengekommenen Leuten mitgeteilt hatte, daß »das junge Mädchen, das sich umgebracht hat«, mehrmals die Nacht bei Robert verbracht habe. Robert hätte sich schon gleich von Anfang an bemühen sollen, mit den Kolbes Freundschaft zu schließen, dann wäre Kolbe jetzt vielleicht nicht so feindselig gewesen. Doch er hatte es für überflüssig gehalten, und nun war es nicht mehr zu ändern. Aber Robert fiel ein, daß er kurz nach seinem Einzug im Februar Kolbe zweimal geholfen hatte, den Schnee vor seinem Briefkasten wegzuschaufeln. Wenn die Briefkästen nicht vom Auto aus erreichbar waren, bekam man seine Post nicht, da die Postangestellten nicht verpflichtet waren, den Wagen zu verlassen, um die Post in die Briefkästen zu stecken. Doch vermutlich hatte Kolbe diese kleine Gefälligkeit längst vergessen.
Dann hörte er ein Geräusch. Er trat hinter die Hortensie. Sekundenlang blieb alles still, dann vernahm er trotz des Grillenkonzertes Schritte, unverkennbar. Schritte. Ein Polizeiposten? Doch noch? Unwahrscheinlich, sagte er sich. Er war nicht sicher, ob die Polizei überhaupt wußte, daß er heute wieder zu Hause war. Robert duckte sich, alle Muskeln gespannt, und packte sein Stück Holz fester.
Jetzt sah er eine große, dunkle Gestalt am Rande seines Grundstücks stehen, direkt neben der Einfahrt. Es war Greg. Greg schlich sich an das Haus heran, spähte vorsichtig nach rechts und links und beobachtete dann wieder das Haus und das Seitenfenster zur Straße, ein schwarzes Quadrat, umrissen von schmalen Lichtstreifen. Greg schlich auf Zehenspitzen zur Haustür. Links neben der Tür war das Fenster, durch das Greg schon zweimal geschossen hatte. Robert schätzte die Entfernung bis zu ihm auf etwa sechs bis sieben Meter. Um das Fenster zu erreichen, mußte Greg noch zwei Meter weitergehen, und dann war er außerhalb Roberts Gesichtsfeld, hinter der Hausecke. Jetzt, als er ihr Konzert brauchte, waren die Grillen verstummt, als beobachteten sie interessiert, was vor sich ging.
Greg wandte ihm jetzt das Profil zu. Er war ganz auf sein Vorhaben konzentriert. Er hielt den Revolver mit beiden Händen; hatte ihn auf dem Fensterbrett aufgelegt und versuchte nun, mit den Daumen das Fenster hochzuschieben. Es gab ein wenig nach, wie Robert sah, doch die Jalousie hing noch über das Sims herunter, wie er wußte. Greg hob den Revolver. Die letzten Meter rannte Robert auf ihn zu, und gerade, als Greg sich nach ihm umdrehte, ließ Robert den Knüppel niedersausen.
Der Revolver ging los.
Greg lag am Boden. Er stöhnte und versuchte, sich aufzurappeln.
Robert hatte den Knüppel fallen lassen. Er wollte schon mit den Fäusten auf Greg einschlagen, nahm sich aber zusammen. Greg bemühte sich vergebens aufzustehen. Robert hob die schwarzglänzende Waffe auf, die dicht neben Gregs Knien lag. Greg fluchte, den Blick zu Boden gerichtet. Robert hörte eilige Schritte auf der Straße, vom Kolbeschen Grundstück her.
»Hallo! Mr. Kolbe?« rief Robert.
Kolbe hatte sein Jagdgewehr in der Hand. »Was ist los?«
Greg stand schwankend auf und taumelte wie ein Betrunkener gegen die Hauswand. »Du Hund!« murmelte er keuchend. »Ihr Hunde …«
»Das ist Wyncoop«, sagte Robert.
»Was tun Sie mit dem Revolver da?« fragte Kolbe schnell mit einem Seitenblick auf die Waffe in Roberts Hand.
»Den hab ich Wyncoop weggenommen«, sagte Robert.
»Könnten Sie ihn in Schach halten, bis ich was geholt habe, womit wir ihn fesseln können?« Robert ließ Kolbe stehen, der vor Überraschung ein ziemlich dummes Gesicht machte, und lief ins Haus.
Die Plastikwäscheleine befand sich weder im ersten Karton, in dem er suchte, noch im zweiten. Endlich fand er sie in dem, der auch seine Galoschen und die meisten seiner Schuhe enthielt. Im Hinausgehen versuchte er die rosa Leine zu entwirren. Kolbe stand im Lichtschein neben der vorderen Veranda und starrte ihm entgegen. Das Gewehr hielt er quer vor sich, zum Hochreißen bereit. Greg stand ein paar Meter abseits.
»Wo ist sein Revolver, Mr. Forester?« fragte Kolbe.
»Da drin«, sagte Robert mit einem Ruck des Kopfes.
»Würden Sie ihn mal holen?« sagte Kolbe. »Für ihn.«
Robert brauchte ein paar Sekunden, ehe er begriff, was das bedeutete. »Zum Teufel noch mal, nein. Ich werde ihn nicht für ihn holen«, sagte er, und wollte mit der Wäscheleine in der Hand auf Greg zugehen. Greg trat einen Schritt zurück. Sein Arm zuckte zurück, zum Kampf bereit. Robert ballte die rechte Hand, und eben, als er sich anschickte zuzuschlagen, hörte er Kolbes Stimme. »Halt! Bleiben Sie, wo Sie sind, Forester!«
Robert wandte sich ihm zu und trat gleichzeitig etwas zurück, so daß er beide, Kolbe und Greg, im Auge hatte. »Sie verstehen wohl nicht ganz, um was es geht, Mr. Kolbe. Das ist Greg Wyncoop, der Mann, der auf mich geschossen hat! Er hat sich das Haar kurz schneiden lassen, aber Sie sehen doch deutlich …«
»Ach, wirklich?« sagte Kolbe. »Aber kurz geschnitten oder nicht, was bilden Sie sich eigentlich ein, daß Sie ihn fesseln wollen?« Kolbes buschige Brauen zogen sich zusammen. »Sie gehen jetzt und holen den Revolver, oder ich mache Ihnen Beine!«
Robert brachte kein Wort heraus, als er zu sprechen versuchte. Kolbe richtete drohend das Gewehr auf ihn, hatte es aber noch nicht angelegt. »Warum lassen Sie mich nicht die Polizei rufen?« sagte Robert. »Die kann ja dann entscheiden. Okay?«
Kolbe grinste schief. Der Blick flackerte wie der Blick eines Lügners. »Holen Sie den Revolver, Forester! Er sagt, er ist nicht Wyncoop. Weshalb sollte ich Ihnen glauben?« Dann drehte Kolbe sich schwerfällig um und ging auf das Haus zu, das Gewehr noch immer auf Robert gerichtet. »Los, voran!«
Robert stieg die Stufen hinauf und trat ins Haus. Der Revolver lag auf dem Schreibtisch.
»Ich lasse Sie nicht aus den Augen. Nehmen Sie ihn beim Lauf!« knurrte Kolbe.
Robert lächelte nervös. Was nützte es schon, wenn er ihn trotzdem am Griff faßte und auf Kolbe zu richten versuchte? Kolbe würde die Nerven verlieren, Robert würde ihn in den Bauch schießen, und was dann? Wozu? Robert nahm den Revolver am Lauf.
»Und jetzt gehen Sie nach draußen und geben ihn ihm.«
Robert ging nach draußen. Greg stand da, wo er ihn verlassen hatte, oder höchstens ein paar Schritte weiter vom Haus entfernt. Auf halbem Weg blieb Robert stehen.
»Weiter!« befahl Kolbe.
Greg trat vor, um den Revolver zu nehmen, zögernd, als habe er Angst vor Robert. Sein breiter Mund hing ein wenig offen. »Mörder!« sagte er und griff hastig nach der Waffe.
Roberts leere rechte Hand fiel schlaff herunter. Er sah zu, wie Greg den Revolver in die Tasche seines schwarzen Regenmantels schob. Dann machte Greg kehrt und ging mit raschen Schritten, leicht schwankend, der Straße zu. Sekunden später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Robert wandte sich zu Kolbe um, warf einen raschen Blick auf dessen Gewehr und ging an ihm vorbei auf die Treppe zu. Kolbe ging drohend neben ihm her und setzte seinen Fuß zuerst auf die Stufen.
Robert blieb stehen. »Haben Sie was dagegen, wenn ich die Polizei anrufe? Oder halten Sie nichts von der Polizei?«
»Doch , ich halte sehr viel von der Polizei«, sagte Kolbe bissig.
»Gut.« Aber warum soll er eigentlich etwas von der Polizei halten, dachte Robert. Wozu war sie denn gut?
Kolbe kam nicht mit ins Haus. Er blieb draußen auf der Veranda stehen und beobachtete Robert durch die offene Tür.
Vielleicht wartet er nur so lange, bis er hört, ob die Polizei kommt oder nicht, dachte Robert. Aber vielleicht überlegt er sich jetzt auch, was er sagen will. Zum Beispiel: »Für mich hat er nicht wie Wyncoop ausgesehen, und er hat auch gesagt, er ist’s nicht … Als ich dazukam, hatte Forester den Revolver in der Hand!«
Gerade als Robert den Hörer nehmen wollte, begann das Telefon zu läuten. Er hob ab.
»Hier Krankenhaus Rittersville«, sagte eine Frauenstimme. »Ist dort Mr. Forester?«
»Ja.«
»Wir müssen Ihnen leider mitteilen, daß Dr. Knotts Zustand sich in der letzten Stunde verschlechtert hat. Sein Puls ist wesentlich schwächer geworden. Er liegt jetzt im Sauerstoffzelt, aber der Arzt gibt ihm kaum noch eine Chance …« Freundlich sprach die Stimme weiter.
Robert schloß die Augen. »Ja … Ja, danke.« Er legte auf und sah Kolbe an, der jetzt sogar hereingekommen war, starrte auf diesen ungeschlachten, nahezu zwei Meter großen Riesen, auf das ungehobelte, rote Bauerngesicht, auf die Augen, deren Blick weniger Intelligenz verriet, als der des Hundes, der letzte Nacht erschossen worden war.
»Was war das?« fragte Kolbe. Er meinte den Anruf.
»Nichts«, sagte Robert und nahm den Hörer, um die Polizei in Rittersville anzurufen. Doch er besann sich anders und rief die Polizei von Langley an. »Hier ist Robert Forester, Gursetter Road. Sie brauchen’s nicht aufzuschreiben. Eben war Gregory Wyncoop hier. Er wird vermutlich in ein paar Minuten in Langley eintreffen. Wahrscheinlich nimmt er einen Bus oder ein Taxi dort. Er trägt einen schwarzen Regenmantel, und sein Haar ist kurz geschnitten. Und er hat einen Revolver.« Robert legte den Hörer auf und sah abermals Kolbe an. Kolbe hatte sich nicht gerührt. Er starrte immer noch mißtrauisch, als fürchtete er, Robert werde versuchen, aus der Tür zu rennen oder gewalttätig zu werden.
»Möchten Sie sich nicht setzen, Mr. Kolbe?«
»Nee, danke.«
Roberts Blick wanderte wieder zum Telefon, und obwohl er das Gefühl hatte, es sei ja doch nutzlos, nahm er noch einmal den Hörer und wählte das Amt. Er nannte die Nummer der Polizeistation — sie war ihm wieder eingefallen — und verlangte Lippenholtz, doch Lippenholtz war nicht da.
»Was gibt’s denn, Mr. Forester?« fragte eine Männerstimme.
»Gregory Wyncoop war eben hier und ist wieder weg«, sagte Robert. »Ich habe vor ein paar Minuten die Polizei in Langley angerufen, weil er vermutlich die Richtung nach Langley eingeschlagen hat.«
»Sind Sie sicher, daß es Wyncoop war? Haben Sie ihn genau gesehen?«
»Ganz genau.«
»Wie lange ist das her?«
»Zwei, drei Minuten.«
»Hm, hm … Naja, wir werden unsere Leute alarmieren. Wir schicken Ihnen jemand, dem können Sie dann alles erzählen«, fügte er hinzu.
Robert legte auf. Wann würden sie jemand schicken, überlegte er. Sofort? In einer Stunde? »Die Polizei kommt gleich«, sagte Robert zu Kolbe. »Aus Rittersville.«
»Okay«, sagte Kolbe.
Robert hatte gehofft, daß Kolbe nun, da die Polizei auf dem Weg war, in seiner Wachsamkeit nachlassen würde, doch Kolbe blieb stehen, wo er war, unerschütterlich, das Gewehr schußbereit. »Drink?« fragte Robert und nahm ein halb geleertes Glas.
»Lassen Sie die Finger davon«, sagte Kolbe.
Robert zog sich einen Stuhl heran, nahm Platz und zündete sich eine Zigarette an.
»Neddie? Bist du hier, Neddie?« rief eine Frauenstimme.
»Ja, hier bin ich, Louise!« rief Kolbe über die Schulter.
Robert hörte die Schritte einer Frau auf der Veranda. Sie blieb mit weit aufgerissenen Augen in der Tür stehen, eine breite, kräftige Frau von etwa fünfzig Jahren, mit einem Gesicht wie ein Pfannkuchen, die Hände in den Taschen einer alten Strickjacke. »Was ist passiert, Neddie?«
»Der Bursche hier hatte einen Revolver, als ich kann«, sagte Kolbe. »Hat gesagt, ein anderer, der hier war, wäre dieser Wyncoop, nach dem sie suchen.«
»Ach, du liebe Zeit«, murmelte die Frau und starrte Robert an, als hätte sie ihn nie zuvor gesehen, obwohl sie und Robert stets einen Gruß getauscht hatten, wenn sie einander begegnet waren, mehr als ein Dutzend Male, seit Robert hier wohnte.
Robert rauchte schweigend.
»Außerdem säuft er«, sagte Kolbe.