6
Als Robert etwa eine Viertelstunde zu Hause war, klingelte das Telefon.
»Hallo, Robert, hier ist Jenny. Greg ist fort. Robert, es tut mir so leid wegen heute.«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es tut mir leid, daß ich Ihnen das schöne Abendessen verderben habe.«
»Ach, das können wir ja nachholen. Hören Sie, Robert, ich würde gern mit Ihnen sprechen. Es ist noch nicht sehr spät, erst halb acht. Könnte ich zu Ihnen kommen? Ich habe mich eben mit Greg ausgesprochen. Er weiß jetzt, daß ich ihn nicht heiraten werde, also geht es ihn nichts mehr an, was ich tue und wen ich treffe. Er hat wohl endlich eingesehen, daß ich es ernst meine.«
Und vermutlich wird Greg genau beobachten, ob sie heute abend noch einmal wegfährt, dachte Robert. Oder das Haus im Auge behalten und ihr folgen, wenn sie wegfuhr. »Jenny, ich habe das Gefühl, Sie sind immer noch ein bißchen erregt. Warum bleiben Sie heute abend nicht lieber zu Hause?«
Sie stöhnte. »Bitte, Robert, ich muß Sie sehen. Kann ich nicht doch zu Ihnen kommen?« Sie schien fest entschlossen.
Nun, es gab nur eine Möglichkeit, der Sache schnell ein Ende zu machen, und er beschloß, danach zu handeln. Er sagte, ja, sie könne kommen, und erklärte ihr, wo im Langley die Camelot Apartments waren. Sie sagte, sie werde sofort losfahren.
Fünf Minuten später läutete das Telefon wieder, und er hoffte, es wäre Jenny und sie hätte ihren Entschluß geändert.
Doch diesmal war Nickie am Apparat. Sie befand sich auf einer Cocktailparty und war ein bißchen beschwipst, wie sie sagte, und sie sei mit Ralph zusammen, aber sie wolle ihm einen fröhlichen dritten Hochzeitstag wünschen, der zwar, wie sie wisse, schon vor Wochen gewesen sei, aber besser spät als überhaupt nicht.
»Danke«, sagte er. »Vielen Dank, Nickie.«
»Weißt du noch, unser zweiter?« fragte sie.
Er wußte es noch. Er wußte es noch sehr genau. »Ich ziehe es vor, an den ersten zu denken.«
»Sen-ti-men-tal. Willst du mit Ralph sprechen? Ralph!«
Robert hätte lieber aufgelegt. Aber würde das nicht feige wirken? Er behielt den Hörer in der Hand, sah zur Decke empor und wartete. Irgendwo fern in Manhattan murmelten und rauschten Stimmen wie ein siedender Kochtopf. Dann vernahm er ein Klicken und ein Summen. Sie hatte aufgelegt oder vielleicht jemand anders an ihrer Stelle.
Robert machte sich einen Scotch mit Wasser zurecht. Ja, er erinnerte sich an den zweiten Hochzeitstag. Sie hatten acht oder zehn Freunde zu sich gebeten, und Robert hatte eine Unmenge roter Rosen und Päonien für die Wohnung mitgebracht und ein schmales Goldarmband für Nickie. Und dann war kein Mensch erschienen. Die Gäste wurden um acht Uhr zu Cocktail und kaltem Büfett erwartet, aber um Viertel nach neun war noch niemand da, und Robert hatte gesagt: »Heiliger Strohsack, haben wir ihnen vielleicht ein falsches Datum angegeben?« Und dann hatte Nickie die Hände in die Hüften gestemmt und gesagt: »Es wird niemand kommen, Liebling. Die Party ist nur für uns beide, für dich und für mich. Setz dich also ans andere Ende von unserem wunderschönen Tisch hier und gestatte, daß ich dir einiges erzähle.« Sie hatte von den Drinks, die sie nach seiner Ankunft gemixt hatte, noch keinen Tropfen getrunken. Robert wußte immer ganz genau, wie viele Drinks sie gehabt hatte, einen, zwei oder drei. Und als siezehn Tage vorher diesen Abend geplant hatte, da war sie auch nicht betrunken gewesen — und seither auch nicht. Für die Einladung war sie verantwortlich. An jenem Abend hatte sie fast eine Stunde lang ununterbrochen geredet und seine Einwürfe einfach übertönt, indem sie die Stimme hob. Jeden seiner kleinsten Fehler hatte sie ihm aufgezählt, bis hin zu der Tatsache, daß er manchmal seinen Rasierapparat auf dem Rand des Waschbeckens liegen ließ, statt ihn ins Apothekenschränkchen zurückzulegen; bis hin zu der Tatsache, daß er ein paar Wochen zuvor vergessen hatte, für sie ein Kleid von der Reinigung zu holen; bis hin zu dem Grübchen in seiner Wange, dem gefeierten Grübchen, das nicht ganz ein Achtel Zoll im Durchmesser maß (er hatte es einmal im Bad mit seinem kleinen Metallzollstock gemessen) und das Nickie anfangs distinguiert gefunden hatte, dann häßlich und zuletzt krankhaft, und warum ließ er es eigentlich nicht wegoperieren? Robert entsann sich, daß er sich während ihrer feierlichen Ansprache einen zweiten Drink eingeschenkt hatte, einen schönen steifen, denn unter den gegebenen Umständen war es am klügsten, Geduld zu zeigen, und Alkohol wirkte auf ihn wie ein Beruhigungsmittel. Seine Geduld hatte sie an jenem Abend so rasend gemacht, das sie sich später, als er sich im Schlafzimmer auszog, auf ihn stürzte und sagte: »Willst du mich denn nicht schlagen, Liebling? Los, komm, schlag mich doch, Bobbie!« Eigenartigerweise hatte er selten weniger Lust verspürt, sie zu schlagen, und so konnte er ihr mit einem ruhigen »Nein« antworten. Da beschuldigte sie ihn, anomal zu sein. »Eines Tages wirst du noch gewalttätig. Denk an meine Worte.« Und etwas später in der Nacht, als sie im Bett lagen: »War das nicht ein köstlicher Spaß, Bobbie?« Und sie preßte ihre Hand gegen seine Wange, nicht aus Zärtlichkeit, sondern um ihn zu ärgern und ihn wachzuhalten. »War es nicht ein herrlicher Spaß, Liebling?« Sie war ihm ins Wohnzimmer gefolgt, wo er versuchte, sich auf dem Sofa ein Bett zu machen. Endlich, gegen fünf Uhr früh, war sie im Schlafzimmer eingeschlafen und erst aufgewacht, als Robert aufstand, um ins Büro zu gehen. Sie hatte einen üblen Kater, und wie immer, wenn sie verkatert war, hatte sie ihre Gewissensbisse, nahm seine Hände, küßte sie und sagte, sie habe sich gräßlich benommen, und ob er ihr vergeben könne, und versprach, nie, nie wieder so zu sein, und er sei der reinste Engel gewesen, und sie habe nichts von dem, was sie über seine Fehler gesagt habe, ernst gemeint, und es seien ja auch nur ganz winzige Fehler.
Er hörte das Heulen der Sirene auf einem der Wasserpolizeiboote. Anscheinend war jemand in die Stromschnellen geraten, oder ein Boot war in Gefahr. Die Sirene heulte endlos weiter, wehmütig, drängend, hoffnungslos. Robert versuchte sich vorzustellen, wie er gegen die Felsen geschleudert wurde, halb bewußtlos versuchte, sich an die Felsen zu klammern, die zu schlüpfrig waren, oder er selbst zu schwach, um sich an ihnen festzuhalten. Und die Sirene heulte weiter und weiter, während die Lichter der Rettungsboote über den Delaware glitten, ohne zu finden, was sie suchten. Die Kollegen im Büro hatten ihm erzählt, daß ein Mensch, der in die Stromschnellen geriet — es gab Dutzende im Fluß —, rettungslos verloren sei. Im besten Fall fand die Wasserpohzei seine Leiche. Ein Mann im Büro erzählte, wie einmal am Flußufer hinter seinem Garten eine Leiche angeschwemmt worden war, ein alter Mann, der zwanzig Meilen weiter oben ins Wasser gefallen war. Es konnte aber auch vorkommen, daß die Ertrunkenen bis nach Trenton hinuntergetrieben wurden. Robert biß die Zähne zusammen. Was hatte es für einen Sinn, sich darüber Gedanken zu machen, da er doch keineswegs die Absicht hatte, schwimmen, rudern oder angeln zu gehen, auch nicht im Sommer?
Er ging zum Schreibtisch und betrachtete die Skizze, die er von der Ulme vor seinem Fenster gemacht hatte, eine saubere, akkurate Arbeit, zu präzise, um als Skizze gut zu sein, fand er, aber er war Ingenieur, und die Präzision war sein Fluch.
Die nächste Seite im Skizzenbuch war leer. Erst später, im Frühling, wollte er ein Ulmenblatt hineinzeichnen.
Es klopfte. Robert setzte sein Glas ab und ging zur Tür.
»Hallo«, sagte sie.
»Kommen Sie herein.« Er trat zur Seite. »Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?«
Sie gab ihm den Mantel, und er hängte ihn in den Schrank. Diesmal trug sie keine Stiefel, sondern hochhackige Pumps. »Sie haben eine hübsche Wohnung«, sagte sie.
Er nickte wortlos.
Sie setzte sich in die Mitte des Sofas.
Er zündete sich eine Zigarette an und nahm den Lehnstuhl, dann stand er noch einmal auf, um sein Glas vom Schreibtisch zu holen. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee? Ich habe Espresso, aber Sie können auch einfachen haben.«
»Nein, danke. Ich möchte nichts. Ich wollte Ihnen nur sagen, Robert, daß ich Greg vorhin verschwiegen habe, daß Sie der Grund sind. Aber das ist nicht alles.«
Er sah zu Boden.
»Sie haben bewirkt, daß ich etwas erkannt habe, das mir vorher nicht klar war. Wie ein Katalysator. Aber nein, das ist wohl doch nicht das richtige Wort, denn ein Katalysator hat ja weiter keine Bedeutung, er bewirkt nur eine Umwandlung. Sie aber haben eine Bedeutung. An Ihnen liegt mir etwas. Nehmen Sie es, wie Sie wollen — es ist so.«
»Sie wissen doch gar nichts über mich«, sagte er. »Sie wissen zum Beispiel nicht, daß ich verheiratet bin. Ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Ich bin seit drei Jahren verheiratet.«
»Ach. Dann haben Sie New York also doch wegen einer Frau verlassen. Wegen Ihrer Frau.«
»Ja.« Sie sah weniger überrascht aus, als er erwartet hatte. »Wir hatten eine Auseinandersetzung. Sie wissen zum Beispiel auch nicht, daß ich mit neunzehn Jahren einen Nervenzusammenbruch hatte. Ich mußte mich eine Zeitlang in ärztliche Behandlung begeben. Ich bin kein sehr starker Charakter. Im September bin ich in New York fast wieder zusammengebrochen. Darum bin ich hierhergekommen.«
»Und was hat das alles damit zu tun, daß ich Sie gern habe?«
Robert scheute sich, hart und kraß zu sagen, daß Mädchen, die in einen Mann verliebt sind, sich gewöhnlich dafür interessieren, ob dieser Mann verheiratet ist oder nicht. »Die Sache ist ein bißchen kompliziert, solange ich nicht geschieden bin, müssen Sie wissen.«
»Und lassen Sie sich scheiden?«
»Nein. Wir haben uns nur für eine Weile getrennt, mehr nicht.«
»Nun ja … Bitte glauben Sie nicht, daß ich mich zwischen Sie beide drängen will. Das könnte ich sowieso nicht, wenn Sie eine andere lieben. Ich wollte Ihnen nur sagen, was ich empfinde. Ich liebe Sie.«
Sein Blick glitt kurz zu ihr hin und wieder fort. »Ich meine, je eher Sie über dieses Gefühl hinwegkommen, desto besser.«
»Ich werde nie darüber hinwegkommen, das weiß ich genau. Ich habe immer gewußt, daß ich es genau wissen würde. wenn es soweit ist. Es ist eben mein Pech, daß Sie verheiratet sind, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich Sie liebe.«
Robert lächelte. »Aber Sie sind noch so jung. Wie alt sind Sie überhaupt?«
»Dreiundzwanzig. Das ist gar nicht mehr so jung.« Robert hätte sie noch jünger geschätzt. Sie wirkte jedesmal jünger, wenn er sie sah. »Ich weiß nicht, wie das mit Greg ist. Vielleicht ist er wirklich nicht der Richtige für Sie, aber ich bin es auch nicht. Ich bin ein sehr schwieriger Mensch. Ziemlich spleenig. Und manchmal ein bißchen verdreht.«
»Ich glaube, das muß ich schon entscheiden, nicht wahr?«
»Na, wissen Sie, Mädchen durchs Fenster zu beobachten ist doch wirklich keine Empfehlung, finden Sie nicht? Sie sollten mal hören, was meine Frau über mich sagt. Sie findet, daß ich reif fürs Irrenhaus bin….« Er lachte. »Fragen Sie sie nur.«
»Es ist mir egal, was Ihre Frau sagt.« Sie stützte sich mit dem Ellbogen auf das Sofa, den Körper entspannt, das Gesicht jedoch voller Entschlossenheit. Sie blickte ihn unverwandt an.
»Ich spiele nicht gerne, Jenny.«
»Ich glaube kaum, daß Sie spielen. Ich glaube, Sie sind sehr aufrichtig.«
Robert stand unvermittelt auf, trug sein Glas zu dem Tisch neben dem Sofa und stellte es hin. »Aber vorher war ich es doch nicht, stimmt’s? Ich will ehrlich sein, Jenny. Ich bin ein Mensch, der Mühe hat … nun ja, wie soll ich mich ausdrücken? Der Mühe hat, geistig gesund zu bleiben.« Er zuckte die Achseln. »Aus diesem Grunde bin ich hergekommen. Hier ist es ruhiger als in New York. Mit meinen Kollegen im Werk komme ich gut aus. Bei einem von ihnen habe ich das Weihnachtsfest verbracht, mit seiner Frau und seinem Töchterchen, und auch das ist gut gegangen. Aber keiner ahnt, wie sehr ich mich manchmal zusammennehmen muß, daß ich oft das Gefühl habe, es nimmt niemals mehr ein Ende bei mir mit dem Zusammennehmen.« Er hielt inne und sah sie an. Er hoffte, daß seine Worte einige Wirkung hatten.
Doch er bemerkte nur, daß ihr Gesicht sich ein wenig entspannte. »Wir alle müssen uns doch ständig zusammennehmen. Was ist so Besonderes daran?«
Er seufzte. »Ich bin ein Mensch, von dem man sich fernhalten sollte. Das möchte ich Ihnen begreiflich machen. Ich bin nicht ganz richtig im Kopf.«
»Wer sagt das? Die Ärzte?«
»Nein, nicht die Ärzte. Meine Frau. Und die muß es wissen. Schließlich hat sie mit mir zusammen gelebt.«
»Aber als Sie in Behandlung waren? Mit neunzehn?«
»Was die Ärzte damals sagten? Daß meine Reaktion die eines labilen Charakters auf eine harte Kindheit gewesen sei. Ich bin zusammengebrochen, ja. Und das ist doch Schwäche, oder etwa nicht?«
»Was haben Sie dann gemacht?«
»Ich mußte das College für eine Weile verlassen. Eines Nachts bin ich mit allen Kleidern im See schwimmen gegangen, einfach aus einer Laune heraus. Ich war halb entschlossen, mich umzubringen, und ich habe es auch halb versucht, aber eben nur halb. Ein Polizist kam dazwischen. Sie dachten, ich sei betrunken. Mit einer Geldstrafe und einer Nacht im Kittchen bin ich davongekommen. Man bestand darauf, daß ich betrunken sei, also gab ich nach und gab es zu. Und warum, glauben Sie wohl, haben die Polypen gedacht, ich sei betrunken? Weil ich lauter dummes Zeug gequatscht habe.« Es schien unmöglich, sie zu überzeugen. Angestrengt sann er auf neue Gründe. »Und einmal habe ich ein Gewehr auf meine Frau gerichtet. Sie hielt ihren Mittagsschlaf. Das Gewehr war geladen.« Aber das Gewehr war gar nicht geladen gewesen. Er hielt inne, um Luft zu holen, und sah Jenny an. Jenny zog leicht die Brauen zusammen, aber sie machte keineswegs einen ängstlichen Eindruck, sie war nur aufmerksam.
»Und was ist dann passiert?«
»Nichts. Ich habe es nur getan, um mich zu vergewissern, daß ich niemals abdrücken könnte. Wir hatten uns kurz vorher gestritten. An dem Tag dachte ich: ›Ich hasse sie so, daß ich sie umbringen könnte, ihr alles heimzahlen, was sie mir ins Gesicht geschrien hat.‹ Aber als ich das Gewehr in der Hand hielt, hab ich nur dagesessen, ihren Körper im Visier, und hab gedacht, daß niemand und nichts auf der Welt den Preis eines Menschenlebens wert ist.«
»Na also. Das haben Sie doch erkannt!«
»Ja, aber können Sie sich vorstellen, wie das ist, wenn man aufwacht und jemand sitzt einem gegenüber mit angelegtem Gewehr? Was, glauben Sie, hat meine Frau in jenem Augenblick wohl gedacht? Und was, glauben Sie, haben die Leute gedacht, denen sie davon erzählt hat? Und sie hat es vielen Leuten erzählt. Das ist es ja. Sie hat gesagt, ich leide an Depressionen und Komplexen und würde eines Tages noch jemand umbringen. Sie hat gesagt, ich habe sie umbringen wollen. Na ja, vielleicht stimmte das ja auch. Wer weiß?«
Sie griff nach seinen Zigaretten, die auf dem Teetischchen lagen. Robert gab ihr Feuer. »Sie haben mir noch immer nichts erzählt, was wirklich schockierend wäre.«
»Nein?« Er lachte. »Was wollen Sie denn noch? Vampire?«
»Was geschah, als Sie das College verlassen mußten?«
»Nun, ich verlor nur ein Semester, und während dieser Zeit war ich in Behandlung. Außerdem hatte ich die verschiedensten Jobs. Als ich wieder ins College zurückging, wohnte ich bei einem Freund, Kermit. Er lebte mit seiner Familie ganz in der Nähe der Schule. Er hatte einen kleinen Bruder und eine kleine Schwester, und das ganze Haus war ein einziges Chaos.« Robert lächelte. »Aber es war wenigstens ein Zuhause. Das können Sie nur verstehen, wenn Sie einmal erlebt haben, wie es ohne ein Zuhause ist. Ich hatte ein winziges Zimmerchen für mich, und es war schwierig, mal eine ganze Stunde hintereinander ungestört zu arbeiten, weil dauernd Kinder hereingelaufen kamen. Aber so gegen Mitternacht, wenn Kermit und ich noch arbeiteten, brachte uns seine Mutter immer Kuchen und Milch. Es klingt albern, aber für mich war es ein Zuhause, und zwar mehr, als mein eigentliches Zuhause es je gewesen ist. Nicht, daß ich meiner Mutter die Schuld daran gäbe. Sie hatte es sehr schwer mit meinem Vater, und sie hat getan, was in ihren Kräften stand. Aber es war ihr einfach nicht möglich, etwas Solides aus dem zu machen, was sie hatte. Mein Vater trank ewig, und stets lag die Drohung in der Luft, daß er sich scheiden lassen würde. Ich weiß nicht, ob ich mich klar genug ausdrücke. Wahrscheinlich nicht.«
»Und wo ist Kermit jetzt?«
»Tot.« Er nahm eine neue Zigarette. »Er ist bei einem Unfall umgekommen, oben in Alaska. Wir machten dort unseren Wehrdienst, und es war uns gelungen, in dieselbe Einheit zu kommen. Wir glaubten, wir kämen vielleicht nach Korea, aber keiner von uns hat je Korea oder einen richtigen Krieg erlebt. Kermit kam durch ein Katapult ums Leben. Es traf ihn im Rücken. Das war eines Morgens. Ich holte gerade Kaffee für uns beide und hatte ihn nur fünf Minuten allein gelassen. Als ich mit dem Kaffee zurückkam, lag er da und war tot, und ein paar Kameraden standen um ihn herum.« Ihr unverwandter, ernster Blick machte Robert plötzlich verlegen. Seit Jahren hatte er mit keinem Menschen über Kermit gesprochen, auch nicht mit einem seiner Freunde in New York. »Sobald ich aus der Armee entlassen wurde, ging ich nach New York«, sagte Robert.
Jenny nickte. »Sie kennen den Tod also auch.«
»Ich weiß, wie es ist, wenn man einen Freund verliert. Aber den Tod? Ich habe es nie erlebt, daß rings um mich herum Jungens sterben, die ich kannte. So wie viele, die im Krieg waren. Den Tod? Nein.« Robert schüttelte den Kopf.
»Ich weiß genau, was Sie meinen, wenn Sie sagen, Sie haben Mühe, geistig gesund zu bleiben. Mir ist es auch so gegangen. Als vor drei jahren mein kleiner Bruder starb, da hatte ich auf einmal das Gefühl, daß alles sinnlos sei. Es schien, als seien alle Menschen verrückt, nur ich nicht. Sie wissen doch, das denken alle, die richtig verrückt sind, nicht wahr?« Ein scheues Lächeln trat auf ihre Lippen, und ihre Augen glänzten. »Ich meine, das Leben ging weiter wie zuvor, mein Vater ging ins Büro, meine Mutter versorgte den Haushalt — und doch war der Tod bei uns gewesen.« Sie zog an ihrer Zigarette und starrte ins Leere. »Ich hatte Angst vor dem Tod. Ich mußte ständig an ihn denken, so lange, bis ich meinen Frieden mit ihm gemacht hatte — auf meine Weise. Bis er mir vertraut wurde … Wissen Sie, was ich meine?« Sie sah zu ihm auf und blickte dann wieder vor sich hin. »Nun habe ich keine Angst mehr vor ihm. Ich verstehe sehr gut, warum der Mann in Ihrem Traum sagt: ’Bruder Tod.«
»Na, ich persönlich empfinde diesen Traum nicht als besonders angenehm«, sagte Robert.
Sie sah ihn an.
»Aber eines Tages werden Sie ihn angenehm finden, wenn Sie darüber nachdenken. Sie müssen nur lange genug darüber nachdenken.«
Unwillkürlich schüttelte Robert den Kopf. Es war fast wie ein Schauder. Verwirrt starrte er in das junge Gesicht.
»Als ich das alles erkannt hatte«, fuhr sie fort, »sah ich die Welt in einem anderen Licht. Greg glaubt, daß der Tod mich bedrückt, aber er täuscht sich. Ich mag es nur nicht, wenn die Menschen mit solchem Entsetzen von ihm sprechen. Und dann, als ich Sie kennenlernte, sah ich die Welt wieder in einem anderen Licht, nur viel schöner. Zum Beispiel die Bank, in der ich arbeite. Es war immer so unfreundlich und so laaangweilig. Jetzt ist das anders. Jetzt ist alles lustig, ist alles viel leichter geworden.«
Oh, er kannte dieses Gefühl. Verliebt zu sein. Plötzlich ist die ganze Welt herrlich. Plötzlich beginnen kahle Bäume zu singen. Das Mädchen war noch so jung. Jetzt sprach sie über Dostojewskii, und er hörte ihr kaum zu, weil er überlegte, wie er die Sache möglichst schmerzlos beenden könne. Diese ganze Unterredung hatte lediglich bewirkt, daß sie sich nur noch mehr zu ihm hingezogen fühlte. Er ging auf und ab, während sie über »Schicksal« und »Ewigkeit« sprach — sie schien an ein Leben nach dem Tode zu glauben. Und dann sagte er: »Jenny, mit all dem wollte ich Ihnen sagen, daß wir uns nicht mehr sehen dürfen. Es tut mir leid, aber es geht nicht anders.«
Jetzt machte sie plötzlich ein tiefbetrübtes Gesicht; die Mundwinkel zogen sich nach unten. Und es tat ihm leid, daß er es so brutal gesagt hatte, aber anders hätte es ja gar nichts genützt. Er ging auf und ab, die Hände in den Taschen.
»Sie sind nicht gerne mit mir zusammen?« fragte sie.
»Doch, sehr. Aber es ist nicht gut. Ich möchte gerne, daß Sie glücklich sind. Verstehen Sie das? Als ich Ihnen durch das Küchenfenster zusah, stellte ich Sie mir immer glücklich vor, mit einem Freund, den Sie später heiraten würden … Und das ist alles. Es war falsch, Sie kennenzulernen, und ebenso falsch …« Es schien unnötig, den Satz zu beenden. Er wünschte, sie ließe ihn allein. Als er hörte, daß sie aufstand, wandte er sich um.
»Für eines möchte ich Ihnen noch danken«, sagte sie. »Dafür, daß ich durch Sie erkannt habe, daß ich Greg nicht liebe und ihn nicht heiraten darf. Dafür danke ich Ihnen sehr.«
»Greg wird nur wohl weniger dankbar sein.«
»Das kann ich nicht ändern. So ist es nun einmal.« Sie versuchte zu lächeln. »Also, leben Sie wohl.«
Er brachte sie zur Tür. Sie hatte ihren Mantel aus dem Schrank geholt, und angezogen, noch ehe er ihr helfen konnte. »Leben Sie wohl.«
Und dann war sie fort. Das Zimmer war wieder leer.