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Robert hatte gehofft, am Samstag einen Brief von Nickie oder ihrem Rechtsanwalt zu bekommen, doch am Samstag kam überhaupt keine Post. Er brachte seine Hemden und Wäsche zur Wäscherei, holte einen Anzug von der Reinigung, setzte sich eine Stunde in die antiquierte Stadtbücherei von Langley, um zu lesen, und kehrte mit einem Roman von John O’Hara und einer Biographie Franz Schuberts, an den er aus irgendeinem unerfindlichen Grunde den ganzen Vormittag hatte denken müssen, nach Hause zurück. Von zwei bis nach vier zeichnete er Collembolen, aus der Familie der Springschwänze. Eine von Professor Gumbolowskis Zeichnungen der Collembola protura war recht amüsant, zweifellos ohne Absicht. Die beiden Vorderbeine des Insekts waren erhoben wie die Arme eines Stierkämpfers, der eben seine Banderillas in den Rücken des Stiers stoßen will. Robert machte sich den Spaß und skizzierte die protura noch einmal auf eine Postkarte, mit Torerohosen an den kurzen Beinen, einen Dreispitz auf dem Kopf und buntbebänderten Banderillas in den Händen.

Er adressierte die Karte an Edna und Peter Campbell und schrieb: »Mache gute Fortschritte! Liebe Grüße an Euch beide, Bob.«

Es drängte ihn, noch einmal am Haus des Mädchens vorüberzufahren. Seit sechs Tagen war er nicht mehr dagewesen, und Mittwoch oder auch Dienstag hatte er der Versuchung, hinzufahren, erfolgreich widerstanden und sich geschworen, es nie wieder zu tun. Es war gefährlich. Mein Gott, wenn Nickie das je erführe! Wie die sich freuen und ihn kreischend verspotten würde! Er fand, daß er sich glücklich schätzen durfte, bisher nicht entdeckt worden zu sein, und daß er nun aufhören sollte. Doch es hatte die gleiche Wirkung auf ihn wie Schnaps auf Alkoholiker, stellte er fest. Sie schworen sich, keinen Tropfen mehr anzurühren, und im nächsten Augenblick griffen sie schon wieder nach der Flasche. Vielleicht lag es daran, daß er nichts hatte, das sein Leben ausfüllte, daß es in seiner Umgebung nichts Anziehendes für ihn außer einem Mädchen namens Thierolf gab. Genau das sagte man ja auch von Alkoholikern, daß es nichts gab, das ihr Leben ausfüllte, und daß sie deswegen tranken. Was ihn jetzt packte, als er am Samstagabend um zehn nach sechs in seinem Zimmer auf und ab wanderte, war Versuchung. Es ist durchaus möglich, ihr zu widerstehen, sagte er sich. Wenn’s gar nicht anders geht, sehe ich mir eben so einen dusseligen Film an. Oder ich schreibe den Campbells und bitte sie, einmal am Wochenende hier herauszukommen. Er konnte sie zwar über Nacht nicht unterbringen, aber das Putnam Inn war ein recht nettes, kleines Hotel. Hauptsache, er hatte Ablenkung. Verrückte Einfälle wie der, einem Mädchen in seinem Haus nachzuspionieren, waren einem soliden Lebenswandel kaum förderlich. Und ebensowenig der geistigen Gesundheit. Robert lachte ein bißchen. Es war ein Verstoß gegen die Vorschriften seines Arztes.

Jetzt war es dunkel. Viertel nach sechs. Er stellte im Radio die Nachrichten ein.

Er saß auf der Couch, hörte mit halbem Ohr auf die Kurzmeldungen und überlegte, ob er heute noch einmal hinfahren sollte oder nicht. Zum letzten Male. Vielleicht war sie gar nicht da, es war ja Samstagabend. Robert war sich klar darüber, daß ein Teil seiner selbst wie ein Redner argumentierte, der nach einer langen Schweigepause plötzlich seine Beredsamkeit wiederfindet, aufspringt und sagt: »Warum nicht noch einmal hinfahren? Was ist schon dabei? Bis jetzt bist du doch auch nicht geschnappt werden. Und wäre es wirklich so schlimm, wenn sie dich entdeckt? Du siehst doch nicht aus wie ein Psychopath!« (Zweite Stimme: »Müssen Psychopaten immer aussehen wie Psychopaten? Bestimmt nicht.«) »Jedenfalls kann es dir doch egal sein, ob du geschnappt oder gesehen wirst. Was hast du denn schon zu verlieren? Das sagst du doch selbst immer.« Der Redner setzte sich. Nein, das sagte er durchaus nicht immer, und es war ihm auch ganz und gar nicht egal, ob das Mädchen ihn sah. Trotzdem, an diesem Abend zu Hause zu bleiben, kam ihm vor wie der Tod, wie ein langsamer, stummer Tod, und das Mädchen zu sehen, wie das Leben. Auf welcher Seite stehst du, Robert Forester? Und warum ist es so schwer, zu leben?

Er bog von der Hauptausfallstraße ab, die aus Langley hinausführte, und kam auf eine schmale, schlecht gepflasterte Nebenstraße, eine Abkürzung nach Humbert Corners. Nicht eine einzige Laterne beleuchtete den Weg, und da die paar Privathäuser, an denen er vorbeikam, weitab von der Straße standen, hatte er das Gefühl, als führe er durch die schwärzeste Finsternis. Da er ständig Schlaglöchern ausweichen mußte, konnte er kaum mehr fahren als fünfunddreißig Meilen in der Stunde. In Humbert Corners wandte er sich an der Ecke, wo das Bankgebäude mit dem rot-blauen Briefkasten stand, nach rechts und fuhr einen steilen Hügel hinauf, so daß er in den zweiten Gang schalten mußte. Endlich erreichte er das dunkle Haus mit den weißen Fensterläden zur Linken; von hier aus war es nicht mehr weit bis zu dem Weg, an dem er immer seinen Wagen abstellte. Er ging mit der Geschwindigkeit herunter und fuhr mit Standlicht weiter, etwa zehn Meter weit in den Weg hinein, dann hielt er und stieg aus. Er griff in die Tasche innen an seiner Wagentür und holte die Stablampe heraus. Unterwegs knipste er sie hin und wieder an, hauptsächlich, um zu sehen, wohin er trat, wenn er einem vorüberkommenden Wagen ausweichen mußte, obwohl ihm hier nie viele Wagen begegnet waren. In einem der Fenster an der Vorderfront war Licht. Es war das Wohnzimmerfenster. Aber auch die Küchenfenster hinten waren erleuchtet. Langsam ging Robert weiter, und selbst jetzt verließ ihn der Gedanke nicht, daß es noch nicht zu spät war zum Umkehren. Doch er wußte, er würde weitergehen. Aus dem Haus hörte er leise klassische Musik — aber es war nicht Schubert, was er zuerst gedacht hatte. Er nahm an, daß es eine Schumann-Symphonie war. Rasch ging er an dem hellen Viereck des Wohnzimmerfensters vorbei, um die Basketballwand herum und auf die jungen Bäume hinter dem Haus zu. Kaum hatte er die Bäume erreicht, als sich die Küchentür öffnete und auf der hölzernen Veranda Schritte zu hören waren. Er wußte, es waren die Schritte des Mädchens. Sie kam auf die Basketballwand zu. Sie trug einen großen Korb. Ihr weißer Schal wehte hinter ihr im Wind. Sie setzte den Korb ab, und er begriff, daß sie in dem Drahtkorb, der hinten links bei der Einfahrt stand, Abfall verbrennen wollte. Bei dem Wind brauchte sie mehr als eine Minute, um das Papier zum Brennen zu bringen. Doch dann wuchs die Flamme und beleuchtete ihr Gesicht. Sie stand ihm zugewandt und starrte ins Feuer. Sie waren höchstens fünf Meter voneinander entfernt. Sie nahm den Korb und warf den restlichen Inhalt ins Feuer, und die Flamme züngelte so hoch, daß sie zurücktreten mußte. Aber sie starrte immer noch wie gebannt ins Feuer, mit jenem abwesenden Ausdruck, den er schon so oft an ihr bemerkt hatte, wenn sie ihre Arbeit in der Küche unterbrach. Dann hob sie plötzlich den Blick und sah ihm direkt ins Gesicht. Ihr Mund öffnete sich, und sie ließ den Korb fallen. Sie stand wie erstarrt.

Mit einer unbewußt demütigen, um Verzeihung bittenden Geste breitete Robert die Arme aus. »Guten Abend«, sagte er.

Das Mädchen stieß einen erschrockenen Laut aus und schien davonlaufen zu wollen, doch sie rührte sich nicht.

Robert trat einen Schritt auf sie zu. »Mein Name ist Robert Forester«, sagte er automatisch, aber deutlich.

»Was wollen Sie hier?«

Robert schwieg, auch er stand reglos, einen Fuß vorgeschoben zu einem Schritt, den er nicht zu vollenden wagte.

»Sind Sie aus der Nachbarschaft?«

»Nicht ganz. Ich wohne in Langley.« Robert spürte, daß er ihr auf Gnade und Ungnade ausgeliefert war, und fand er keine Gnade — nun, dann war es aus und vorbei. »Ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte er, die Hände noch immer ein wenig ausgebreitet. »Möchten Sie lieber ins Haus gehen?«

Das Mädchen rührte sich nicht. Es schien, als wolle sie sich sein Gesicht genau einprägen, doch das Feuer war jetzt heruntergebrannt. Die Dunkelheit wurde immer dichter. Und Robert stand nicht mehr im Lichtschein, der aus dem Küchenfenster fiel.

»Bleiben Sie stehen, wo Sie sind«, sagte sie.

»Natürlich.«

Sie ging langsam, den Korb nahm sie nicht mit. Sie behielt ihn ständig im Auge. Und um in ihrem Blickfeld zu bleiben, folgte er ihr in einigem Abstand bis um die Hausecke. Das Mädchen stand auf der kleinen Veranda, die Hand am Türknauf.

»Wie heißen Sie?«

»Robert Forester. Ich nehme an, Sie wollen die Polizei rufen.«

Sie biß sich auf die Lippen. Dann sagte sie: »Sie sind schon öfter hier gewesen, nicht wahr?«

»Ja.«

Der Türknauf in ihrer Hand quietschte, doch sie öffnete die Tür nicht.

»Ich nehme an, Sie wollen die Polizei rufen. Nun gehen Sie schon und rufen Sie sie. Ich warte.« Er stellte sich so, daß der schwache Lichtschein aus dem Seitenfenster der Küche auf ihn fiel, und sah das Mädchen gelassen an. Das konnte auch nur ihm passieren, sich ausgerechnet an dem Abend erwischen zu lassen, an dem er sich geschworen hatte, nicht mehr herzukommen, sich in den Feuerschein zu stellen, während er sich leicht in das Dunkel auf der anderen Seite des Hauses hätte schleichen können, und zu guter Letzt noch dem Mädchen zu versprechen, daß er auf die Polizei warten wolle!

»Ich will die Polizei gar nicht holen«, sagte sie leise und ernst. Er hatte sie schon oft so sprechen sehen, es jedoch nie gehört. »Aber ich will nicht, daß jemand um mein Haus herumschleicht. Wenn ich sicher wäre, daß Sie mich nie wieder belästigen …«

Robert lächelte ein wenig. »Sie können sicher sein.« Er war froh, daß er ihr etwas versprechen konnte. »Es tut mir sehr leid, daß ich Sie vorhin erschreckt habe. Wirklich, sehr leid. Ich …« Seine impulsiven Worte brachen ab.

Das Mädchen zitterte vor Kälte. Sie ließ die Augen nicht von seinem Gesicht, doch jetzt blickten diese Augen nicht mehr erschreckt, sondern nur noch gespannt und verwirrt. »Was wollten Sie sagen?«

»Ich möchte mich entschuldigen. Ich habe Ihnen so gerne … so gerne in der Küche zugesehen. Wenn sie kochten. Oder Gardinen aufsteckten. Ich will gar nicht erst versuchen, Ihnen das Warum zu erklären, das wäre sinnlos. Aber ich möchte nicht, daß Sie Angst haben. Ich bin kein Verbrecher. Ich war nur einsam und deprimiert und habe einem Mädchen zugesehen, wie es in der Küche wirtschaftete. Verstehen Sie?« Ihr Schweigen zeigte ihm, daß sie nicht verstand, nicht verstehen konnte. Und wer konnte das überhaupt? Seine Zähne klapperten. Sein Körper war kalt von Schweiß. »Ich erwarte nicht, daß Sie es verstehen, ich erwarte nicht, daß Sie es entschuldigen. Ich möchte es Ihnen nur gerne erklären und kann es nicht. Ich kann es nicht, weil ich den wahren Grund selbst nicht weiß. Nicht den wahren Grund.« Er befeuchtete seine eiskalten Lippen. Nun würde das Mädchen ihn verachten. Nie mehr würde er an sie denken können, ohne zu wissen, daß sie ihn kannte und verachtete. »Sie sollten ins Haus gehen. Es ist kalt.«

»Es schneit«, sagte das Mädchen überrascht.

Robert wandte den Kopf rasch zur Einfahrt hinüber und sah, daß kleine Flocken vom Himmel fielen. Ein Lächeln zuckte um seinen Mund. Der Schnee schien unwirklich, und ihn zu erwähnen, noch absurder. »Gute Nacht, Miss Thierolf. Auf Wiedersehen.«

»Warten Sie!«

Er drehte sich um.

Sie stand da und sah ihn an. Ihre Hand lag nicht mehr auf dem Türknauf. »Wenn Sie deprimiert sind … Ich finde, Sie sollten sich nicht noch mehr deprimieren lassen, weil … weil ich …«

Er verstand. »Ich danke Ihnen.«

»Depressionen können furchtbar sein. Sie sind wie eine Krankheit. Manche Menschen werden wahnsinnig.«

Er wußte nicht, was er dazu sagen sollte.

»Ich hoffe, Sie lassen sich nicht zu sehr deprimieren«, fügte sie hinzu.

»Und ich hoffe, Sie lernen Depressionen niemals kennen«, sagte er, als spräche er einen Wunsch aus. Einen überflüssigen Wunsch, dachte er bei sich.

»Oh, ich kenne Depressionen. Vor drei Jahren habe ich sie gehabt. Aber jetzt schon lange nicht mehr. Gott sei Dank!«

Die langsame, nachdrückliche Art, in der sie die letzten Worte aussprach, entspannte ihn. Sie hatte gesprochen, als redete sie mit jemand, den sie schon lange kannte. Er wäre gern bei ihr geblieben.

»Möchten Sie hereinkommen?« fragte sie. Sie machte die Tür auf, ging ins Haus und hielt die Tür für ihn auf.

Er ging auf sie zu, zu verblüfft, um etwas anderes zu tun. Er trat in die Küche.

Sie legte ihren Mantel und den weißen Schal ab und hängte beides in einen schmalen Einbauschrank neben der Tür, während sie ihn über die Schulter hinweg ansah, als habe sie noch immer ein wenig Angst.

Er war mitten im Raum stehengeblieben.

»Ich dachte nur, es ist doch dumm, draußen in der Kälte herumzustehen, wenn wir uns schon unterhalten«, sagte sie.

Er nickte. »Danke.«

»Wollen Sie nicht Ihren Mantel ablegen? Möchten Sie eine Tasse Kaffee? Ich habe ihn eben aufgegossen.«

Er zog seinen Mantel aus, faltete ihn sorgfältig mit der Innenseite nach außen und legte ihn auf einen Stuhl bei der Tür. »Vielen Dank«, sagte er. »Aber ich trinke keinen Kaffee mehr. Er hält mich immer so lange wach.« Er starrte sie ungläubig an, ihr weiches Haar, das jetzt so nahe war, höchstens zwei Meter entfernt, ihre grauen Augen — sie hatten blaue Pünktchen. Und hier, so nah, daß er sie berühren konnte, waren die weißen Gardinen, die sie aufgehängt hatte, während er ihr zusah, die Backofentür, nach der sie sich so oft gebückt hatte. Und noch etwas kam ihm zu Bewußtsein: das Vergnügen, die Befriedigung, die er verspürte, als er sie jetzt aus der Nähe sah, war nicht größer als vorher, als er sie durch das Fenster beobachtet hatte, und er ahnte, wenn er sie kennenlernte, und sei es auch nur flüchtig, so würde dies das Mädchen selbst und all das abwerten, was sie für ihn bedeutete — Glück und Frieden und mnere Ausgeglichenheit.

Sie machte jetzt die gläserne Kaffeemaschine warm.

Zwei- oder dreimal wandte sie den Kopf und sah ihn an. »Ich glaube, Sie halten mich für verrückt, weil ich Sie hereingebeten habe«, sagte sie. »Aber meine Angst vor Ihnen war schon nach ein paar Minuten verschwunden. Sind Sie hier aus der Gegend?«

»Ich bin aus New York.«

»Tatsächlich? Ich komme aus Scranton. Ich bin erst vier Monate hier.« Sie schenkte Kaffee ein.

Und warum sind Sie hergekommen, wollte er fragen. Aber das war ihm jetzt gleichgültig. Er zog ein Päckchen Zigaretten heraus. »Darf ich?«

»Aber natüüürlich.« Sie schüttelte den Kopf, als er ihr eine Zigarette anbot. »Arbeiten Sie in Langley?«

»Ja. Bei Langley Aeronautics. Seit drei Monaten. Ich wohne in den Camelot Apartments.«

»Und warum sind Sie aus New York weg? Ich finde …«

»Ich wollte einen Tapetenwechsel. Mußte mal was anderes sehen.«

»Genau wie ich. Einen anderen Grund hatte ich eigentlich nicht. In Scranton hab ich sogar mehr verdient. Alle haben gesagt, ich bin verrückt, meinen Job aufzugeben, aber ich mußte bei meinen Eltern wohnen, und ich fand, daß ich dazu allmählich zu alt war«, sagte sie mit scheuem Lächeln.

Er war überrascht. So überrascht von ihrer Naivität, daß er nichts zu sagen wußte. Ihre Angewohnheit, bestimmte Wörter in die Länge zu ziehen, war keineswegs Affektiertheit. Es war eher wie bei einem Kind, das Wörter in die Länge zieht, unbeabsichtigt oder aus Gewohnheit. Sie mußte Anfang Zwanzig sein, schätzte er, aber sie wirkte viel jünger, wie ein Teenager.

Sie trug den Kaffee zum Klapptisch und setzte die Tasse auf eine dunkelblaue Tischmatte. »Hier ist ein Aschenbecher«, sagte sie und schob ihn Robert über den Tisch hin. »Wollen Sie sich nicht setzen?«

»Danke.« Er setzte sich auf den Stuhl ihr gegenüber. Augenblicklich verspürte er den Wunsch wieder aufzustehen und zu gehen. Er schämte sich und wollte nicht, daß das Mädchen merkte, wie sehr er sich schämte. Nach dieser Zigarette, beschloß er, werde ich sofort gehen. Er sah ihr zu, wie sie mit dem Löffel, den sie locker in der schmalen, langen Hand hielt, langsam den Kaffee umrührte.

»Glauben Sie an schicksalhafte Fügungen?«

Er sah sie an. »Was meinen Sie damit?«

»Ich meine … Nun ja, an Zufälle. Daß ich Sie heute abend kennengelernt habe, zum Beispiel. So was kommt in allen berühmten Büchern vor. Na ja, vielleicht nicht in allen, aber in vielen. Wenn zwei Menschen einander zufällig begegnen, ist es ihnen vorherbestimmt, daß sie sich begegnen. Und so was wiegt viel schwerer, als wenn man jemand vorgestellt wird. Da ist es ja nur so, daß jemand anders die Leute schon kennt und sie einem vorstellt. Greg zum Beispiel, meinen Verlobten, hab ich durch Rita kennengelernt, in der Bank, wo ich arbeite, aber ein paar von meinen besten Freunden habe ich durch puren Zufall kennengelernt.« Sie sprach langsam und ruhig.

»Sie wollen sagen … Sie glauben also an Fügungen.«

»Natürlich. Und jeder Mensch verkörpert für den anderen etwas.« Ihre Augen hatten einen verlorenen, traurigen Ausdruck angenommen.

»Ja«, stimmte er vage zu. Gewiß hatte sie für ihn etwas verkörpert, noch ehe er je ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Doch jetzt? Sie schien ihm nicht jene Klugheit oder auch jenen gesunden Menschenverstand zu besitzen, den er ihr zugeschrieben hatte, als er sie durch das Fenster beobachtet hatte. »Und was verkörpere ich für Sie?«

»Das weiß ich noch nicht. Irgendwas. Ich komme sicher bald dahinter. Vielleicht schon morgen oder übermorgen.« Endlich hob sie die Kaffeetasse und trank. »Damals, als ich so deprimiert war, da hatten wir Besuch, einen Freund meines Vaters. Er blieb ein paar Tage bei uns. Ich mochte ihn nicht. Ich hatte das Gefühl, daß er den Tod verkörpere. Und dann, eine Woche, nachdem er fort war, hat mein kleiner Bruder spinale Meningitis bekommen und ist schließlich gestorben.«

Robert starrte sie an, er schwieg betreten. Das hatte er am allerwenigsten erwartet, daß sie vom Tod sprach. Ihre Worte gemahnten ihn an seinen eigenen Traum, an diesen verdammten Traum, der ständig wiederkehrte.

»Und was verkörpere ich für Sie?« fragte sie.

Er räusperte sich verlegen. »Ein Mädchen mit einem Heim, einem Job … Eine Verlobte. Ein Mädchen, das glücklich ist und zufrieden.«

Sie lachte, ein tiefes, weiches Lachen. »Ich habe noch nie gefunden, daß ich zufrieden bin.«

»Das tun die Menschen, glaube ich, nie. Ich fand nur, daß Sie so aussehen. Ich war deprimiert, und Sie machten einen so glücklichen Eindruck. Darum habe ich Ihnen so gerne zugesehen.« letzt war das Gefühl verschwunden, er müsse sich wegen seines Verhaltens entschuldigen oder schämen. Sie nahm bestimmt nicht an, er habe ihr beim Ausziehen zugesehen. Dafür wirkte sie zu unschuldig.

»Weshalb waren Sie denn deprimiert?« fragte sie.

»Ach, ich kann nicht darüber sprechen.« Er runzelte die Stirn. »Nichts von all dem klingt sinnvoll, es sei denn, ich sage, das Leben ist sinnlos, wenn man nicht für einen anderen Menschen lebt. Seit September habe ich für Sie gelebt — ohne Sie zu kennen.« Er zog unwillig die Brauen zusammen und blickte vor sich auf den Tisch. Er hatte das unangenehme Gefühl, sich ziemlich geschwollen ausgedrückt zu haben. Das Mädchen würde sich darüber lustig machen, nicht darauf eingehen, oder einfach hmhm sagen.

Sie seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. Wirklich, ich kann Sie gut verstehen.«

Er hob den Blick und sagte ernst: »Sie arbeiten in Humbert Corners?«

»Ja. In der Bank. Ich bin Kassiererin und helfe auch in der Buchhaltung aus, das hab ich im College gelernt. Ich habe Soziologie studiert, aber das College nie abgeschlossen. Ich gehöre anscheinend zu den Frauen, die erst ihre Kinder großziehen, und dann die Schule beenden.«

Sie ist vermutlich etwas träge, dachte er, träge und bequem. »Sie wollen bald heiraten?«

»Hmhm. Im Frühjahr. Greg möchte zwar schon eher, aber wir kennen uns schließlich erst vier Monate. Er heißt Greg Wyncoop. Er verkauft pharmazeutische Artikel.«

Robert fühlte sich plötzlich unbehaglich. »Kommt er heute abend?«

»Nein, heute ist er unterwegs. Er kommt morgen zurück.« Sie nahm geistesabwesend die Zigarette, die er ihr anbot, und ließ sich Feuer gehen, als wäre sie das Rauchen nicht gewohnt.

»Lieben Sie ihn sehr?« Er wünschte, daß es so wäre.

»Ich glaube«, gab sie ernsthaft zurück. »Kein Gefühlsüberschwang, wie bei … Nun ja, ich hab in Scranton einen Jungen gekannt, den mochte ich noch lieber. Das war vor zwei Jahren, aber er hat eine andere geheiratet. Greg ist ein großartiger Kerl. Er ist furchtbar nett. Und unsere Familien mögen sich auch, das ist sehr wichtig. Meine Familie war mit dem Jungen in Scranton nicht einverstanden. Nicht, daß mich das gestört hätte, aber es erschwert alles so sehr.«

All dies erschien Robert sehr dürftig und höchst beklagenswert. Ihren Worten konnte er entnehmen, daß sie Greg nicht allzusehr liebte. Aber sie gehörte wohl zu den Frauen, die eine gute Ehe mit einem Mann führen können, den sie zwar nicht leidenschaftlich lieben, jedoch von Herzen gern haben. Was war denn aus Nickie und ihm geworden nach dem allzu enthusiastischen Beginn! Er wollte gerade seinen Stuhl zurückschieben und aufstehen, da sagte sie: »Ich glaube, ich habe Angst vor der Ehe.« Sie starrte auf den Aschenbecher, den Kopf auf die zur Faust geballte Hand gestützt.

»Das habe ich schon öfter von Mädchen gehört — vor der Ehe. Und von Männern auch.«

»Sind Sie schon einmal verheiratet gewesen?«

»Nein.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, daß man einen anderen so leicht heiraten kann wie Greg. Ich glaube, wenn ich überhaupt heirate, dann muß er es sein.«

»Ich hoffe, Sie werden sehr glücklich.« Er erhob sich. »Vielen Dank … Vielen Dank für …«

»Mögen Sie Plätzchen?«

Er sah, daß sie die Backofentür öffnete, Pergamentpapier von einer Rolle abzog und es abriß. Jedes Plätzchen hatte eine Rosine in der Mitte. Sie legte etwa ein halbes Dutzend davon auf das Papier.

»Ich weiß«, sagte sie verlegen, »Sie werden bestimmt denken, ich hab ‘nen Klaps oder so. Aber vielleicht kommt es daher, daß bald Weihnachten ist. Es ist doch nichts dabei, wenn man jemand Plätzchen schenkt, oder?«

»Ich finde es sehr nett«, erwiderte er, und beide lachten. Er verstaute die Plätzchen vorsichtig in seiner Manteltasche. »Vielen Dank.« Er ging zur Tür.

»Wenn Sie wieder mal mit jemand reden möchten, dann … dann rufen Sie mich doch einfach an und kommen Sie her. Ich möchte, daß Sie Greg kennenlernen. Wir brauchen ihm ja nicht zu sagen, daß — daß wir uns so kennengelernt haben. Er würde das wahrscheinlich nicht verstehen. Ich werde ihm sagen … nun, zum Beispiel, daß ich Sie durch Rita kennengelernt habe.«

Robert schüttelte den Kopf. »Danke, Miss Thierolf. Ich bin überzeugt, daß Greg dafür kein Verständnis haben würde. Ich glaube, wir sollten uns lieber nicht wiedersehen.« Sofort merkte er, daß sie seine Worte als Ablehnung ihrer Person auffaßte. Nun ja, das mußte er in Kauf nehmen.

»Ich hoffe, Sie rufen mal an«, sagte sie einfach, als sie mit ihm zur Tür ging. »Haben Sie einen Wagen?«

»Weiter unten am Weg.« Wieder überkam ihn die Scham in voller Stärke. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.« Sie machte ihm Licht auf der Veranda.

Die Lampe beleuchtete ein Stück der Einfahrt. Dann nahm er seine Taschenlampe. Einmal auf der Straße, begann er ein Liedchen zu pfeifen. Aus Nervosität, aus Scham, aus Wut? Vielleicht aus allem zusammen.

Eine halbe Stunde später war er zu Hause. Er steckte sich eine Zigarette an. Dann klingelte das Telefon. Es war Nickie. Aus New York.

»Na, wo bist du gewesen?«

Robert machte es sich in seinem tiefen Sessel bequem, damit seine Stimme gutgelaunt und entspannt klang. »Ein bißchen weg. Tut mir leid. Hast du zuvor schon angerufen?«

»Stundenlang. Ich habe dir eine freudige Nachricht zu übermitteln. In einem Monat bist du ein freier Mann. Und ich heirate Ralph, sobald es geht.«

»Das ist sehr schön. Ich bin froh, daß die Sache jetzt vorankommt. Von deinem Rechtsanwalt habe ich noch nichts gehört.«

»Warum auch? Ich bestimme doch, was er tut.« Ihre Stimme klang jetzt ein bißchen beschwipst.

»Na, dann vielen Dank für die Nachricht.«

»Die Rechnung kriegst du dann, wenn’s soweit ist. Fifth-fifty, okay?«

»Selbstverständlich.«

»Und was macht der Verstand, mein Guter? Hast du ihn schon verloren?«

»Ich glaube kaum.« Wie sehr bereute er, jemals Nickie gegenüber etwas von seinem »Verstand« erwähnt zu haben. Er hatte es einmal so dahingesagt, als sie über seine Depressionen sprachen. Er hatte gesagt, Depressionen seien eine derartige Tortur, daß man den Verstand darüber verlieren könne oder so ähnlich, und Nickie hatte damals viel Mitgefühl gezeigt. Sie hatte vorgeschlagen, er solle doch einen Psychotherapeuten aufsuchen, und er hatte ihren Rat befolgt. Und dann, wenige Tage danach, hatte sie angefangen, ihm seine eigenen Worte vorzuhalten, hatte sie verdreht, hatte behauptet, er habe zugegeben, den Verstand verloren zu haben, also habe er ihn auch verloren, und sie habe Angst, mit ihm im selben Haus zu leben, und wie könne man einen Menschen lieben oder ihm vertrauen, der den Verstand verloren habe.

»Verkriechst du dich immer noch in deinem Mauseloch da drunten?« fuhr sie fort, und er hörte ihr Feuerzeug schnappen.

»Die Stadt ist gar nicht so übel. Ich habe ja nicht vor, hier den Rest meines Lebens zu verbringen.«

»Mich interessiert nicht, was du vorhast.«

»Okay, Nickie.«

»Schon interessante Mädchen kennengelernt?«

»Veronica, wie wär’s, wenn du dich an Ralph und deine Malerei hältst und mich in Ruhe läßt?«

»Ich laß dich ja in Ruhe, darauf kannst du dich verlassen. Du bist ein Kriecher, und von Kriechern habe ich die Nase voll. Und was meine Malerei angeht, ich habe heute zweieinhalb Leinwände bepinselt. Was sagst du dazu, hm? Ralph inspiriert mich eben. Der ist nicht so wie du und bläst dauernd Trübsal …«

»Ja, ich weiß. Ich verstehe.«

Sie lachte verächtlich. In der Zeit, die sie brauchte, um sich etwas Neues einfallen zu lassen, sagte er: »Also nochmals vielen Dank, Nickie, daß du mich angerufen und mir Bescheid gegeben hast.«

»Leb wohl!« Sie knallte den Hörer auf die Gabel.

Robert nahm die Krawatte ab, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Warum war sie immer so böse, fragte er sich, so schnippisch, so versessen darauf, andere zu verletzen? Er hatte es satt, sich ständig dieselbe Frage vorzulegen, und doch, war es nicht natürlich, sich das zu fragen? Selbst Peter Campbell — oder war es Vic McBain gewesen? — hatte ihm dieselbe Frage gestellt, als Robert ihm von einer seiner Streitereien mit Nickie erzählt hatte. Damals war es um eine lachhafte Kleinigkeit gegangen, ein Mißverständnis hinsichtlich der Farbe eines Sofabezuges, nur darum hatte er davon erzählt. Aber das Ende war gar nicht so komisch gewesen, denn Nickie war den ganzen Tag auf diesem Zwischenfall herumgeritten, den ganzen Tag, die ganze Nacht und den folgenden Tag, ein ganzes Wochenende lang, erinnerte sich Robert. Er hatte es Peter erzählt, und jetzt fiel ihm ein, wie Peters Lächeln verschwunden war und er gefragt hatte: »Aber weshalb war sie so böse darüber?« Für sich selbst konnte Robert mit einigen Antworten aufwarten. Zum Beispiel, daß Nickie ihn nicht mochte, weil er so oft deprimiert, völlig unmotiviert melancholisch war, und das konnte er ihr nicht einmal übelnehmen. Oder daß Nickie sehr ehrgeizig war, was ihre Malerei betraf, und daß ein Mann in ihrem Leben für sie nur eine Beeinträchtigung war, eine Beeinträchtigung ihrer Zeit, eine Beeinträchtigung vielleicht auch ihrer Selbständigkeit (Beweis: der neue Ehemann, den sie sich ausgesucht hatte, Ralph Jurgen, war ein recht schwacher Charakter, ein Mensch, den Nickie spielend zu beherrschen vermochte). Oder, daß Nickies Selbstbewußtsein so labil oder empfindlich war, daß sie nicht die leiseste Kritik vertrug. Und zuletzt hatte sie begonnen, ihm Dinge vorzuwerfen, die er gesagt haben sollte — obwohl er sie nicht gesagt hatte —, um dann, als er sie bestritt, zu behaupten, er verlöre den Verstand. Wieder und wieder führte sich Robert all dies vor Augen, aber es erklärte nicht ihre wütende Bösartigkeit ihm gegenüber, erklärte sie zumindest nicht zufriedenstellend. Irgendwo fehlte ein Bindeglied, und er bezweifelte, daß er es je finden würde, daß ihm jemals die Erleuchtung kommen würde, so daß er sagen konnte: »Ja, jetzt verstehe ich alles, jetzt wird mir endlich alles klar.«

Er stand am Fenster und sah zu dem weißen zweistöckigen Haus auf der anderen Straßenseite hinüber, zu dem Fenster im ersten Stock, das voller Blumen war. Manchmal saß ein alter Mann dicht hinter den Blumen in einem Lehnstuhl und las Zeitung, doch heute war der Sessel leer. Im Schatten der Veranda konnte er ein Kinderdreirad erkennen. Weiter links, an der Ecke, war ein Drugstore mit einer kleinen Imbißecke, der nach Schokoladensirup duftete; Robert hatte dort ein paarmal Zahnpasta und Rasierklingen gekauft. Unten, an der nächsten Ecke, außerhalb seines Blickfeldes, stand ein ziemlich düsteres CVJM-Heim, und zwei, drei Häuserblocks weiter, immer geradeaus, lag der Bahnhof, wo er die Kiste mit vergessenen Sachen abgeholt hatte, die Nickie ihm nachgeschickt hatte. Im Grunde waren es nicht nur vergessene Sachen, denn die meisten hatte er für den gemeinsamen Haushalt gekauft — eine teure Kleiderbürste, eine Vase, einen großen, gläsernen Aschenbecher, eine zehn Zoll hohe Maya-Statuette, die er irgendwann einmal in einem Antiquitätenladen aufgestöbert hatte — , aber Nickie hatte wohl mit dem Nachsenden der Kiste dokumentieren wollen: »Mit uns ist Schluß. Und nimm das ganze verfluchte Zeug wieder, das du angeschleppt hast!« Ja, sie hatte sehr plötzlich mit ihm Schluß gemacht, ebenso plötzlich, wie sie mit den Künstlernamen, die sie sich zulegte, Schluß zu machen pflegte. Augenblicklich war sie beim vierten oder fünften angelangt: Amat. Oder hatte Ralph sie zu einem neuen inspiriert? Und wann fing sie wohl an, Ralph in die Kur zu nehmen? In die Rinin-die-Kartoffeln-raus-aus-den-Kartoffeln-Kur, die an den Haaren herbeigezogenen Streitereien, die Wutausbrüche mit den anschließenden Entschuldigungen? Wann würde Ralph die Nase voll haben von all den Betrunkenen, die in der Badewanne, auf dem Wohnzimmersofa oder sogar in seinem eigenen Bett ihren Rausch ausschliefen?

Robert ging in die kleine Küche und holte sich einen Scotch mit Wasser. Er hatte fast ein halbes Jahr dazu gebraucht, das ganze letzte halbe Jahr, um einzusehen, daß Nickie ein Spiel spielte, es so perfekt spielte, daß sie echte Tränen herauspreßte, wenn sie ihn um Verzeihung bat, wenn sie ihm sagte, daß sie ihn liebe, daß sie immer noch daran glaube, sie könnten wieder zueinanderfinden. Und jedesmal war in Robert neue Hoffnung aufgekeimt, und er hatte gesagt: »Aber gewiß können wir das. Ja, mein Gott, wir lieben uns doch!« Und auf Nickies Bitten zog er aus dem Hotel aus, in das er auf ihr Verlangen eingezogen war, und dann fing das Ganze wieder von vorne an, fing wieder an mit einem an den Haaren herbeigezogenen Streit. »Geh doch zurück in dein dreckiges Loch von Hotel! Ich will dich heute nacht nicht hier im Hause haben. Geh doch hin und such dir ne Hure, mir ist das egal!« Und langsam, aber sicher hatte Ralph Jurgen die Szene betreten, und je sicherer Nickie seiner wurde, desto mehr hatte ihr Interesse an dem Spiel mit Robert nachgelassen.

Nickie und er, sie hatten ganz anders angefangen, waren sehr verliebt ineinander gewesen, und Nickie hatte oft und oft gesagt: »Ich werde dich immer lieben, mein ganzes Leben lang. Du bist für mich der einzige Mann auf der ganzen Welt.« Und er hatte Grund genug gehabt, ihr zu glauben. Ihre gemeinsamen Freunde berichteten ihm, daß sie zu ihnen das gleiche gesagt habe. Es war Nickies zweite Ehe, doch diejenigen, die ihren ersten Mann gekannt hatten — es waren nur sehr wenige, zwei oder drei Personen, da Nickie offensichtlich mit allen Bekannten aus der Zeit ihrer Ehe mit Orrin Desch den Kontakt verloren hatte —, sagten, daß sie sich aus Orrin nie sehr viel gemacht habe. Robert und Nickie hatten vorgehabt, in zwei Jahren — jetzt war es noch ein Jahr, wie Robert einfiel — eine Reise um die Welt zu machen. Er entsann sich, daß sie einmal bis nach Brooklyn gefahren war, um eine bestimmte Zeichenfeder zu bekommen, die sie sich in den Kopf gesetzt hatte. Und eine Zeitlang, ein Jahr vielleicht, hatte Nickie ihn geliebt. Dann hatten sich immer häufiger diese Szenen abgespielt, Winzigkeiten, die Nickie zu einem Wirbelsturm aufzublähen verstand. Was hatten Marions Briefe hinten in seiner Schreibtischschublade zu Hause zu suchen? Marion war ein Mädchen, in das er vier Jahre zuvor verliebt gewesen war. Robert hatte die Briefe vollkommen vergessen. Nickie hatte sie gefunden und allesamt gelesen. Sie verdächtigte Robert, Marion, die inzwischen verheiratet war, hier und da heimlich in New York zu treffen, vielleicht zum Lunch, oder wenn er vergab, im Büro Überstunden zu machen. Schließlich hatte Robert die Briefe genommen und in den Müllschlucker geworfen — und es später bereut. Welches Recht hatte Nickie überhaupt, in seinem Schreibtisch herumzukramen? Robert nahm an, daß ihre Zweifel an sich selbst — und das schien es zu sein — von ihrer Unzufriedenheit mit sich als Malerin herrührten. Robert hatte sie zu einem Zeitpunkt kennengelernt, als ihr klarzuwerden begann, daß es ihr allein durch rauschende Feste, die sie für Kritiker und Galeriebesitzer gab, nicht gelingen würde, in die bekannten Galerien aufgenommen zu werden. Nickie bezog ein kleines Einkommen von ihrer Familie, und damit plus Roberts Gehalt war sie in der Lage, recht kostspielige Parties zu geben. Aber anscheinend hatte ihr jeder Galeriebesitzer geraten, es zunächst doch in der Zehnten Straße zu versuchen, und sich dann nach oben zu arbeiten. Endlich hatte sich Nickie damit abgefunden, daß ihr wohl nichts anderes übrigbleiben würde. Und selbst in der Zehnten Straße war es schwierig genug. Während der zweieinhalb Jahre ihrer Ehe hatte Nickie vielleicht drei Ausstellungen beschickt, und das waren Kollektivausstellungen in der Zehnten Straße gewesen. Die Kritiker nahmen davon nur wenig Notiz.

Robert ging an den Schrank und suchte in seiner Manteltasche nach dem Papier mit den Plätzchen. Da waren sie, greifbar, ja sogar eßbar. Er lächelte. Es gab doch noch nette Menschen auf der Welt, freundliche Menschen, gütige Menschen, vielleicht sogar Eheleute, die einander nicht gleich wie Todfeinde angifteten, wenn sie sich mal zankten. Robert machte sich Vorwürfe, daß er den Bruch mit Nickie zu schwer nahm, nur aus dem Grund, weil es sie beide betraf, warf sich vor, daß er seinen Schmerz zu schwer nahm, nur weil es um ihn selbst ging. Man mußte die Dinge im rechten Verhältnis sehen. Das war der Unterschied zwischen einem geistig gesunden und einem geistig gestörten Menschen. Vergiß das nicht, ermahnte er sich.

Er knabberte an einem Plätzchen und dachte an Weihnachten. Jack Nielson hatte ihn eingeladen, die Feiertage mit ihm und Betty zu verbringen, und Robert beschloß, die Einladung anzunehmen. Er nahm sich vor, für das Töchterchen der beiden eine Menge Spielzeug zu kaufen. Das schien ihm vernünftiger, als den weiten Weg bis nach Chicago zu machen, um seine Mutter und Phil, ihren Mann, zu besuchen. Ihnen würde er bestimmt von seinem Bruch mit Nickie erzählen müssen, wenn seine Mutter auch nicht der Mensch war, der viele Fragen stellte. Roberts Stiefvater hatte aus erster Ehe zwei Töchter, die schon Kinder hatten, so daß das Haus zu Weihnachten sowieso voll sein würde. Die Einladung der Nielsons war auch angenehmer als die zwei, drei Einladungen, die er von Freunden in New York erhalten hatte, die zugleich auch Freunde von Nickie waren.