13

Am Montagmorgen erhielt Jenny in der Bank einen Anruf von Gregs Wirtin, Mrs. Van Vleet. Sie wollte wissen, ob Jenny eine Ahnung hatte, wo Greg war.

»Nein, tut mir leid, Mrs. Van Vleet. Im Augenblick nicht. Ich habe ihn jetzt mehrere Tage nicht gesehen.«

»Er ist nämlich seit Samstag verschwunden!«

»Verschwunden? Vielleicht ist er in Philadelphia.«

»Das glaube ich nicht. Die Polizei hat gestern seinen Wagen gefunden, an der River Road bei Queenstown. Der Wagen stand einfach so da, die Tür war noch auf. Die Polizei meint, er ist vielleicht ertrunken.« Beim letzten Wort bebte ihre Stimme.

»Ertrunken?«

»Ja. Im Gebüsch unten am Fluß hat man Spuren eines Kampfes gefunden, sagte die Polizei. Sie suchen den Fluß schon ab. Ich bin der Ansicht, er ist einem Verbrechen zum Opfer gefallen.«

Die Worte »den Fluß absuchen« verursachten Jenny eine Gänsehaut. In der Zeitung hatte sie schon mehrmals Fotos von Leichen gesehen, die auf die Felsen der Stromschnellen gespült worden waren. »Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Mrs. Van Vleet. Hoffentlich ist ihm nichts passiert. Ich rufe Sie heute nachmittag noch mal an, vielleicht ist er bis dahin wieder erschienen.«

Jenny legte auf und ging zu ihrem Schalter zurück, wo ein Kunde mit dem Sparbuch in der Hand auf sie wartete. Jenny starrte den Mann einen Augenblick an, dann sagte sie: »Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich kann jetzt nicht …« Sie drehte sich um, ging nach hinten zu Mr. Stoddard ins Büro und sagte, sie müsse dringend jemand anrufen. Mr. Stoddard wollte stets wissen, wann und warum seine Angestellten aus dem Haus gingen, und keiner von ihnen bat gerne um freie Zeit, doch Jenny bat ihn in einem Ton, als stünde es außer Zweifel, daß sie die Erlaubnis bekommen werde, und Mr. Stoddard sagte nur:

»Aber natürlich, Jenny.«

Sie ging zum Drugstore, ließ sich Zehn- und Fünfcentstücke geben und rief Langley Aeronautics an. Es dauerte fast fünf Minuten, bis Robert an den Apparat kam.

»Robert, Greg ist verschwunden.«

»Verschwunden? Was meinst du damit?«

»Man hat seinen Wagen gestern an der River Road gefunden. Er selbst ist unauffindbar. Seine Vermieterin hat mich gerade angerufen. Hältst du es für möglich, daß er neulich abends in den Fluß gestürzt ist?«

»Nein. Er saß am Ufer, als ich ihn verließ. Aber unter Umständen ist es möglich. Vielleicht war er so groggy, als er aufstand, daß er gestolpert ist.«

»Er saß am Ufer, als du fortgingst?«

»Na ja, zu seinem Wagen begleitet hab ich ihn natürlich nicht. Die Polizei hat den Wagen gefunden, sagst du?«

»Ja. Jetzt suchen sie den Fluß ab.« Sie hörte, wie Robert einen langen Seufzer ausstieß.

»Na ja, vielleicht sollte ich mich mit der Polizei in Verbindung setzen. Oder glaubst du, er ist vielleicht zu Bekannten gegangen, die dort in der Nähe wohnen? Es war, glaube ich, bei Queenstown.«

»Ja, das sagte Mrs. Van Vleet auch. Ich glaube nicht, daß Greg dort jemand kennt. Und ich möchte nicht, daß du zur Polizei gehst, Robert, wenn er am Ufer gesessen hat, als du weggegangen bist. Es ist nicht deine Schuld, und niemand kann dir einen Vorwurf machen.«

»Ich glaube kaum, daß man mir irgendwelche Vorwürfe machen wird, aber wenn er nicht wieder auftaucht, sollte ich mich wohl doch mit der Polizei in Verbindung setzen.«

»Aber nicht heute, Robert.«

»Na schön. Ich werde noch warten.«

»Kann ich dich heute abend sehen, Robert?« Sie hatten eigentlich nicht vorgehabt, heute einander zu treffen. Sie hatten sich erst wieder für Mittwoch verabredet.

»Warum nicht! Soll ich nach dem Abendessen zu dir kommen? Ich muß um halb sechs in Langley zum Zahnarzt, und ich weiß nicht, wie lange das dauern wird mit dem Zahn. Er muß abgefeilt werden für eine Krone.«

»Das macht nichts, ich warte mit dem Essen. Du kommst doch zum Essen, ja, Robert? Es ist ganz gleich, wann du kommst. Hoffentlich tut dir der Zahnarzt nicht weh!«

Robert lachte.

Jenny war um Viertel nach fünf zu Hause. Sie hatte in Humbert Corners Lebensmittel und die Langley Gazette gekauft und überflog die Zeitung, ehe sie die Einkaufstüten auspackte. Auf der zweiten Seite war ein Foto von Gregs Wagen, die linke Tür halb offen, wie er an der River Road gefunden worden war. Darunter stand eine kurze Notiz, daß Gregory Wyncoop, achtundzwanzig, aus Humbert Corners, seit Samstag nacht verschwunden sei; seine Vermieterin habe entdeckt, daß er nicht nach Hause gekommen war. Geknickte Büsche und Fußspuren zwischen Wagen und Fluß deuteten darauf hin, daß sich ein Kampf abgespielt haben könnte. Die einzige Spur, die die Polizei gesichert habe, seien drei kleine Knöpfe von einem Herrenanzug.

Von Roberts Anzug, dachte Jenny. Aber warum eigentlich nicht Knöpfe von Greg? Sie hatte am Samstagabend nicht bemerkt, daß an Roberts Anzug Knöpfe fehlten. Die Zeitungen bauschten die ganze Geschichte nur auf, sagte sie sich, damit sie möglichst sensationell wirkte. Höchstwahrscheinlich würde Greg, genau wie Robert vermutete, schließlich bei einem Freund entdeckt werden. Mit einem gehörigen Kater. Greg hatte in Rittersville einen Freund namens Mitchell, ein Automechaniker und ein großer Säufer vor dem Herrn, und es war möglich, daß Greg ihn besucht hatte. Das sähe Greg ähnlich, sich nach der Schlägerei mit Robert zwei, drei Tage unter Alkohol zu setzen! Er hatte ihr erzählt, daß er nach der Lösung ihrer Verlobung zwei Tage lang betrunken gewesen sei.

Jenny versuchte, sich auf Mitchs Vornamen zu besinnen, aber er fiel ihr nicht ein. Im Telefonbuch von Rittersville gab es ungefähr dreißig Mitchells. Sie rief Mrs. Van Vleet an.

Mrs. Van Vleet hatte noch immer nichts von Greg gehört, aber sie berichtete Jenny, daß ein »Geschwader« von sechs Patrouillenbooten mit Suchscheinwerfern den Fluß zwischen Queenstown und Trenton nach Gregs Leiche absuchten. Jenny hatte in der Bank in Humbert Corners, die näher am Fluß lag als ihr Haus, die Sirenen heulen hören.

»Mrs. Van Vleet, wissen Sie, wie Gregs Freund Mitch mit Vornamen heißt? Den aus Rittersville meine ich.«

»Mitch? Nein, von dem hat Greg nie gesprochen. Warum? Glauben Sie, der hat was damit zu tun?«

»Nein, aber ich dachte, daß Greg vielleicht bei ihm ist. Ich glaube nicht, daß Greg ertrunken ist, Mrs. Van Vleet.«

»Nein? Und warum nicht?«

»Weil … Ich glaub’s einfach nicht.«

»Wann haben Sie Greg zuletzt gesehen?«

»Vor einem Monat, glaube ich.«

»Er ist sehr unglücklich, seit Sie mit ihm gebrochen haben, Jenny. Seit Wochen läßt er den Kopf hängen. Er selbst hat mir gar nichts davon gesagt, ich weiß es von jemand anderem. Und darum bin ich auf die Idee gekommen, er hat sich vielleicht umgebracht. Vielleicht ist er ins Wasser gegangen.«

»O nein, ganz bestimmt nicht, Mrs. Van Vleet. Wir wollen abwarten. Auf Wiedersehen.«

Robert kam um halb acht, mit hängender Oberlippe. »Ein schöner kalter Scotch wäre jetzt bestimmt nicht von Übel«, sagte er.

Jenny machte ihm den Scotch zurecht, während er die Gazette las.

»Knöpfe?« Robert warf einen Blick auf seine Jackenärmel. Dann ging er zum Schrank, wo sein Mantel hing. »Tatsächlich! Drei Knöpfe von meinem rechten Ärmel sind weg«. Er drehte sich zu Jenny um. »Ich glaube, ich gehe doch lieber zur Polizei.«

Jenny stand mitten in der Küche, das Glas in der Hand. »Nur wegen der paar Knöpfe?«

»Danke«, sagte er und nahm ihr das Glas ab. »Zumindest kann ich ihnen sagen, daß er am Ufer saß, als ich weggegangen bin.«

»Und auch, daß du ihn einmal rausgezogen hast.«

Robert lächelte nervös und trank.

»Ich werde Susie anrufen«, sagte Jenny.

»Warum?«

»Sie weiß vielleicht Mitchs Vornamen. Mitch ist ein Freund von Greg.«

Jenny wählte Susies Nummer.

Susie war am Apparat. »Du liebe Zeit, was ist das bloß mit Greg? Glaubst du, er hat sich umgebracht?«

»Nein«, sagte Jenny. Robert beobachtete sie von der Küche her. »Sag mal, weißt du, wie Mitch mit Vornamen heißt. Du weißt doch, Gregs Freund in …«

»Charles, glaube ich. Ja, natürlich, Charles. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben, als wir damals zu dem Tanzabend gegangen sind. Als ob ich diesen Gorilla je anrufen würde! Warum fragst du?«

»Hast du die Nummer noch? Kannst du sie mir geben?«

»Gern. Augenblick.«

Jenny wartete und beobachtete Robert, der in der Küche umherwanderte und an seinem Whisky nippte.

»Cleveland 7 — 3228«, sagte Susie. »Glaubst du, Mitch und Greg haben sich geschlagen?«

»Nein. Ich spreche später noch mit dir, Susie. Okay?« Sie legte auf und wählte Mitchs Nummer.

Am Apparat war eine Frau. Jenny nahm an, es sei Mitch Mutter. Mitch war nicht zu Hause.

»Wissen Sie, ob Mitch mit Greg zusammen ist? Greg Wyncoop?« fragte Jenny. »Hier ist Jenny Thierolf.«

»Ach so. Nein, Jenny. Wir haben auch die Zeitung gelesen. Mitch ist vor fünf Minuten gegangen. Er sagte, Greg hat sich vielleicht umgebracht, weil er so traurig war über … über den Bruch mit Ihnen. Mitch ist zu jemand gegangen, der vielleicht was weiß, sagt er.«

»Wenn er etwas erfährt, würden Sie ihn bitten, daß er mich anruft?« Jenny gab der Frau ihre Nummer. »Ich bin den ganzen Abend zu Hause. Er kann ruhig spät anrufen.«

»Sicher, ich will’s ihm ausrichten, Jenny. Vielen Dank für den Anruf.«

Jenny legte auf. »Mitch ist ein Freund von Greg«, erklärte sie Robert. »Ich dachte, er wäre vielleicht bei ihm, aber er ist nicht da.«

Robert schwieg. Er wanderte langsam mit gesenktem Kopf in der Küche umher.

Jenny schob zwei gefrorene Hühnerpasteten in den heißen Backofen. Dann machte sie Salat. Robert ging ins Wohnzimmer. Kurz darauf kam Jenny eine neue Idee. Sie kam an die Wohnzimmertür und sagte: »Weißt du, Greg ist vielleicht in Philadelphia bei seinen Eltern. Möglicherweise weiß die Polizei inzwischen längst, daß er heil und gesund ist. Die Zeitung ist doch schon Stunden alt.«

Robert nickte nur. Er saß mit der Zeitung auf dem Sofa. Er legte sie hin und stand auf. »Ich kann ja anrufen und fragen«, sagte er und ging zum Telefon.

»Anrufen? Wen? Seine Eltern?«

»Nein, die Polizei hier. Bestimmt haben sie sich bei seinen Eltern erkundigt.«

»Robert, laß dich nicht mit der Polizei ein«, sagte sie bittend.

»Seit wann hast du Angst vor der Polizei? Wir wollen diesen Burschen doch finden, nicht?« Er sah sie einen Moment an, die Hand am Telefon. Dann hob er den Hörer ab. Er ließ sich die Polizeistation in Rittersville geben. Als sich jemand meldete, nannte er seinen Namen und fragte, ob es Neues gäbe in der Sache Gregory Wyncoop. Der Beamte verneinte. »Ich bin der, mit dem sich Wyncoop am Samstagabend geschlagen hat«, sagte Robert.

Auf einmal war der Beamte äußerst interessiert an dem, was Robert zu berichten hatte. »Wo sind Sie?« wollte er wissen.

Robert erklärte es ihm — bei einer Bekannten, Jennifer ’ Thierolf, in der Nähe von Humbert Corners. Der Beamte sagte, er würde gleich jemand schicken, um mit ihm zu sprechen, und Robert beschrieb ihm den Weg.

»Ach, Robert!« sagte Jenny.

»Ich kann’s nicht ändern«, sagte Robert, als er auflegte. »Tu ich es jetzt nicht, muß ich’s später tun. Es ist schon richtig so, Jenny. Er braucht mindestens eine halbe Stunde. Wir können …«

»In einer halben Stunde sind die Hühnerpasteten noch nicht fertig«, sagte Jenny.

Robert stand unter der Küchentür. »Tut mir leid, Jenny. Kannst du sie nicht rausnehmen und nachher wieder hineintun?«

»Nein! Was kannst du denn der Polizei schon viel erzählen?« Sie war ärgerlich.

Robert sah sie einen Augenblick an, machte dann langsam kehrt und ging zum Sofa zurück.

Jenny stellte den Backofen auf größere Hitze ein. Wenigstens heiß müssen sie sein, dachte sie. Wenn sie sie nach dem Besuch der Polizei äßen, waren sie bestimmt verdorben. Wieder machte Greg alles kaputt, Greg … Ob er nun noch lebte oder in den Delaware gegangen war, das war ihr völlig egal. Sie rührte wütend in der Salatsoße und goß sie über die Schüssel voll Grünzeug. Dann rief sie Robert zu Tisch.

»Wir essen erst mal den Salat«, sagte sie.

Und Robert aß gehorsam.

Sie hatten keinen Wein, fiel ihr ein. Es war ein trauriges Essen. Das Polizeiauto fuhr in die Einfahrt hinein, als Jenny eben den Kaffee eingoß. Robert erhob sich vom Tisch, um zu öffnen.

Draußen standen ein Polizist und ein Kriminalbeamter, die sich als McGregor und Lippenholtz vorstellten.

»Robert Forester«, sagte Robert. »Und dies ist Jenny Thierolf.« Robert berichtete, was sich Samstagabend ereignet hatte. Er sagte, er habe heute morgen von Jenny gehört, daß Greg verschwunden sei, habe aber bis jetzt gezögert, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, da er angenommen habe, Greg würde wieder auftauchen. »Die drei Knöpfe stammen von meinem Mantel.«

Die Beamten hörten höflich schweigend zu. Dann fragte McGregor, ein großer, schwerer Mann: »Weswegen haben Sie sich geschlagen?«

Robert holte tief Luft. »Ich nehme an, es hat Wyncoop nicht gepaßt, daß ich Miss Thierolf ab und zu besucht habe. Sie hat ihre Verlobung mit ihm gelöst. Er hatte mir schon früher gedroht. Ich war auf eine Schlägerei mit ihm gefaßt. Ich wußte, früher oder später würde er sie vom Zaun brechen.«

Lippenholtz nickte. »Das hat uns Wyncoops Freund auch gesagt. Ein ziemlicher Hitzkopf, nicht wahr?«

»Ja. Übrigens, ich bin nicht verlobt mit Miss Thierolf. Sie hat Wyncoop deutlich erklärt, daß die Auflösung der Verlobung nichts mit mir zu tun hat. Aber Greg wollte das nicht einsehen.«

McGregor machte sich auf einem Block Notizen.

Lippenholtz sah Robert an. »Sie sagten, als Sie ihn verließen, saß er am Ufer. Wie weit vom Wasser war das?«

»Ich würde sagen, mindestens eineinhalb Meter«, erwiderte Robert. »Es war ziemlich dunkel. Genau kann ich’s nicht sagen.«

»Saß er? War er so zusammengeschlagen, daß er am Boden lag?«

»Ich bin mir sicher, daß er saß. Ich weiß nicht, wie weit er angeschlagen war.«

»Aber er war so angeschlagen«, fuhr Lippenholtz fort, »daß Sie ihn einige Minuten zuvor aus dem Wasser ziehen mußten? Er ist nicht von selbst herausgeklettert?«

»Nein. Soweit ich sehen konnte, nicht.«

Schweigen, während der eine Beamte eifrig schrieb.

»Was glauben Sie denn?« fragte Robert. »Daß er aufgestanden und noch mal ins Wasser gefallen ist?«

»Das wäre eine Möglichkeit«, sagte Lippenholtz. Der Kriminalbeamte war ein kleiner, schlanker Mann mit hellblauen Augen und Pockennarben auf der linken Gesichtshälfte. »Schließlich läßt man ja nicht einfach seinen Wagen mit offener Tür auf der Straße stehen …«

Die Beamten beobachteten Robert, dann blickten beide zu Jenny hinüber, wie um auch ihre Reaktion zu registrieren.

»Haben Sie bei seiner Familie in Philadelphia angerufen und gefragt, ob er da ist?« fragte Jenny.

»Ja, natürlich«, erwiderte Lippenholtz. »Da haben wir als erstes angerufen. Wir haben mit mehreren Freunden von ihm in Humbert Corners und Umgebung gesprochen. Niemand hat ihn gesehen.«

Robert fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Wie sieht das Wasser an der Stelle aus? Ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen. Ich weiß nur, daß dort Felsen waren…«

»Ja, Felsen, dicht am Ufer. Mehrere«, sagte McGregor. »Dahinter wird es sofort ziemlich tief. Drei Meter etwa.«

»Nun, würden die Felsen am Ufer nicht einen Stürzenden aufhalten?« fragte Robert.

»Sicher. Vorausgesetzt, er hat sich an ihnen nicht bewußtlos geschlagen«, sagte Lippenholtz. »Ist einer bewußtlos, dann bleibt er vielleicht liegen, ertrinkt und wird weggeschwemmt.« Lippenholtz zog die Brauen zusammen. »Was haben Sie Wyncoop geantwortet, als er Ihnen drohte, Mr. Forester? Wie hat er Ihnen gedroht?«

»Oh, er hat gesagt, er würde mir den Hals umdrehen oder so ähnlich, wenn ich Jenny nicht in Ruhe ließe.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

Robert zuckte die Achseln. »Ich hab gesagt: ›Ich verstehe.‹ Irgend so was. Ich habe ihn meinerseits nicht bedroht, falls Sie das meinen.«

»Sie sind also ruhig geblieben«, sagte Lippenholtz.

»Ja, und ich nehme an, das hat ihn geärgert.«

»Sie haben nicht gesagt, daß Sie Miss Thierolf doch wiedersehen würden?«

»Nein«, sagte Robert.

»Wo war das, als er Sie bedrohte?«

»Auf dem Parkplatz von Langley Aeronautics, wo ich arbeite. Greg rief mich an und sagte, er wolle mich sprechen. Wir verabredeten, uns auf dem Parkplatz zu treffen.«

»Wann war das?« fragte McGregor.

»Vor etwa einem Monat.«

»Und haben Sie danach wieder von ihm gehört?«

»Nein. Erst wieder am Samstagabend.«

»Ist Ihr Mantel hier?« fragte Lippenholtz.

Robert holte den Mantel aus dem Schrank. Lippenholtz hielt den knopflosen Ärmel hoch und besah ihn eingehend.

Dann prüfte er auch noch den zweiten, dessen drei Knöpfe noch alle vorhanden waren, und nickte. »Nun, wir werden den Fluß absuchen«, sagte Lippenholtz düster und seufzte. Das Telefon klingelte, Jenny entschuldigte sich und ging ins Wohnzimmer, um abzuheben. Die beiden Beamten : warteten in der Küche und beobachteten sie interessiert durch die offene Tür.

»Ja, Mitch … Nein, hab ich nicht, darum hab ich dich ja angerufen … Hast du denn mit allen Leuten gesprochen, von denen du weißt, daß er sie kennt?« Jenny sah, daß sich die Polizisten enttäuscht abwandten. »Ruf mich an, wenn du etwas hörst, ja? … Ich weiß nicht, Mitch … Auf Wiedersehen.«

Jenny kam in die Küche zurück. »Ein Freund von Greg«, sagte sie. »Er weiß auch nichts. Ich wollte sagen«, sie sah die beiden Beamten an, »Greg geht manchmal auf Sauftour.«

»Vielleicht hat er sich irgendwo versteckt — und läßt sich ein paar Tage lang vollaufen.«

»Haben Sie eine Ahnung, bei wem er sich aufhalten könnte?« fragte McGregor.

»Nein. Darum habe ich ja Mitch angerufen, Charles Mitchell aus Rittersville. Er ist der einzige, von dem ich weiß, daß er öfter mit Greg trinkt. Ich meine«, sie strich sich nervös das Haar zurück, »es kommt bei Greg zwar nicht sehr häufig vor, aber es kann ja sein, daß es ihn gerade jetzt gepackt hat nach dieser Schlägerei.«

»Hm, hm«, machte McGregor. »Eine Routinefrage, Mr. Forester: Sind Sie irgendwie vorbestraft?«

»Nein«, sagte Robert.

»Und wer hat Ihrer Meinung nach den Kampf gewonnen?«

Robert zuckte die Achseln. »Keiner. Ich möchte bezweifeln, daß Greg so zugerichtet ist wie ich.«

»Nun. Vielen Dank, Mr. Forester«, sagte Lippenholtz. »Und Ihnen danken wir ebenfalls, Ma’am.«

Sie sagten gute Nacht und gingen.

»Ich weiß gar nicht, daß du vor einem Monat mit Greg gesprochen hast«, sagte Jenny. »Warum hast du mir nichts davon gesagt?«

»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«

»Und er hat dich bedroht? Hast du dich darum so selten bei mir sehen lassen?«

»Nein, Jenny. Wir hatten schon angefangen, uns weniger häufig zu treffen, bevor Greg mit mir gesprochen hat.« Er senkte vor ihren traurigen Augen den Blick. »Kann ich einen heißen Kaffee haben?«

»Hat er da auch schon versucht, sich mit dir zu schlagen?«

»Vor allen Leuten? Aber doch nicht Greg!« Er stellte die Heizplatte unter dem Kaffee an.

»Robert … Du glaubst doch nicht, daß Greg wirklich in den Fluß gefallen ist, oder?«

»Nein. Sonst hätte ich es gesagt. Soweit ich sehen konnte, waren bei den Felsen keine Stromschnellen. Er müßte ziemlich weit hineingestolpert sein, um ins Tiefe zu kommen. Wenn er nur das Ufer hinuntergerollt ist, war es nicht weiter gefährlich. Aber die Hauptsache ist: Ich glaube gar nicht, daß Greg so fertig war.«

Aber Jenny dachte im stillen, das sei doch möglich. Wohin hätte er gehen können, daß man ihn bis jetzt nicht gefunden hatte? Sie konnte sich sehr gut vorstellen, daß Greg eine Minute, nachdem Robert ihn verlassen hatte, aufgestanden und blindwütig in die falsche Richtung davongestolpert war, um von neuem auf Robert einzuschlagen. Sie wußte, Greg mußte fürchterlich wütend gewesen sein. Sie betrachtete Roberts ernstes Gesicht, während er die Kaffeemaschine beobachtete, und sie fragte sich, was er jetzt wohl dachte. Aber womit seine Gedanken auch beschäftigt sein mochten, mit ihr nicht, das wußte sie sehr gut. »Warum hast du so viel Wert darauf gelegt, ihnen zu sagen, daß wir nicht verlobt sind?« fragte sie.

»Weil … Nun, weil wir’s doch nicht sind, und ich dachte, wenn ich das klarstelle, sieht die Sache nicht gar so dramatisch aus. Vielleicht war es unnötig. Aber schaden kann‘s nicht, oder?«

»Schaden? Wieso?«

»Ach, Jenny, ich weiß es nicht. Aber gewöhnlich will die Polizei in so einem Fall Einzelheiten wissen.«

»Was heißt ›in so einem Fall‹?« beharrte sie, ohne selbst recht zu wissen, warum sie so fragte. Sie wußte nur, daß sie nicht anders konnte.

Jetzt runzelte Robert die Stirn, ärgerlich oder verwirrt. »Ein Mann ist verschwunden — so sieht es aus. Die Polizei kennt mich nicht, die Leute’m der Stadt kennen mich nicht. Woher sollen sie wissen, daß ich ihn nicht absichtlich hineingestoßen und drinnen habe liegenlassen, um einen lästigen Rivalen loszuwerden?« Er schaltete die Kochplatte ab und schenkte erst ihr, dann sich Kaffee ein. »Ich glaube, daß er wieder auftauchen wird, wenn er am Ende seiner Bierreise angelangt ist, aber bis dahin ist es alles andere als angenehm, Fragen beantworten zu müssen — vielleicht in den Verdacht zu geraten, die Unwahrheit zu sagen.« Er setzte sich mit seiner Tasse an den Tisch.

»Hast du das Gefühl, sie hatten dich im Verdacht, die Unwahrheit zu sagen?«

»Nein, ich glaube nicht. Du?«

»Ich weiß nicht. Sie sind so undurchschaubar. Aber ich glaube nicht, daß es nötig war, ihnen all diese Details zu erzählen.«

»Was meinst du? Daß wir nicht verlobt sind?«

»Ja«, sagte sie bestimmt und fand, daß sie im Recht war. »Für so was interessieren die sich nicht. Sie interessieren sich dafür, ob Greg wirklich am Ufer gesessen hat und ob er imstande war, zur Straße hinaufzuklettern.«

»Ja, ich weiß. Ich habe versucht, dir zu erklären, warum ich es erwähnt habe, warum ich gesagt habe, daß wir nicht verlobt sind, Jenny, und mir erscheint das ganz vernünftig. Es tut mir leid, daß du es nicht vernünftig findest.«

Sein Ton war freundlich, besänftigend, doch darunter spürte Jenny eine große Festigkeit, eine Festigkeit, die sie überraschte und kränkte. Sie waren nicht verlobt, das stimmte. Vielleicht würden sie es nie sein. In ihr war eine große Leere, die Furcht vor plötzlichem Schmerz, und in ihrer Phantasie sah sie, wie Robert mit der geballten Faust auf Greg einschlug, ihn auf die Felsen schleuderte und noch ein Stück hinterherging, um sich zu überzeugen, daß Greg auch wirklich ins tiefe Wasser gefallen war.

»Was hast du?« fragte Robert.

»Nichts. Warum?«

»Du hast ein Gesicht gemacht, als …«

»Ich verstehe dich nicht«, sagte sie.

Robert erhob sich. »Jenny, was ist eigentlich heute abend mit dir los? Du bist müde, nicht wahr? Diese ganze Sache muß einem ja auf die Nerven gehen.« Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb aber dann stehen. Er zog die ausgestreckte Hand wieder zurück. »Was meinst du damit, daß du mich nicht verstehst?«

»Was ich sag. Du bist mir noch immer ein Rätsel. Seltsam.«

»Mein Gott, Jenny! Wenn ich ein Rätsel bin, dann ist … dann ist diese Fensterscheibe hier auch eins!«

»Das zu beurteilen mußt du schon mir überlassen. Ich stehe vor einem Rätsel.«

»Jenny, willst du etwa behaupten, daß du mir nicht glaubst, was ich über all das gesagt habe? Ich habe dir doch jede Sekunde dieser Nacht geschildert!«

Das war es eigentlich nicht, was sie bedrückte. Sie sah, daß Robert ungeduldig wurde, aber ihr war jetzt alles gleichgültig.

»Was wolltest du also sagen?« fragte er.

»Ich weiß nicht. Aber bald … bald werde ich es wissen.«

Sie bemerkte, daß sich seine Lider zusammenzogen, als er sie ansah.

Dann zündete er sich eine Zigarette an und ging in der Küche auf und ab. Er umkreiste den Tisch und sagte: »Ich muß gehen, Jenny. Du brauchst Schlaf.«

Sie spürte Langeweile in ihm und auch Ärger und Gleichgültigkeit, und sie merkte, wie allmählich in ihr der Groll aufstieg. »Wie du willst.«

Er sah sie an.

Dieses war das einzige Mal, daß sie sich fast stritten. Und ein Streit war es, das erkannte sie. Das meiste blieb ungesagt, nur der kleinste Teil zeigte sich an der Oberfläche und kam jetzt zur Sprache. Er holte seinen Mantel, zog ihn an und trat auf sie zu. »Ich wünsche dir eine gute Nacht, Jenny. Es tut mir leid, wenn ich zornig geworden bin.«

Sie bereute plötzlich ihr Verhalten und schämte sich. »Ach, Robert, ich wollte nicht böse zu dir sein! Wirklich nicht.«

Er lächelte und berührte rasch mit dem Zeigefinger seine geschwollene Lippe. »Okay, Schwamm drüber. Ruf mich bitte morgen an, wenn du etwas hörst! Oder noch heute abend. Es ist erst Viertel nach zehn.«

»Natürlich. Gerne, Robert.«