26

Nickies Anruf kam um zehn, und als Robert aufgelegt hatte, ging er wieder auf die Galerie hinauf und fegte weiter. Das war eine der letzten Arbeiten, die er erledigen mußte, bevor er das Haus verließ. Er fegte langsam, denn sein Arm tat ihm wieder weh. Gestern abend im Krankenhaus hatten sie den Verband gewechselt und die Wunde untersucht, vielleicht auch das Penicillin herausgekratzt, das der Doktor draufgetan hatte, und seitdem schmerzte sie wieder. Es machte ihn ein bißchen schwindelig, ein wenig wirr, vielleicht hatte er Fieber.

Es war ihm, als hätte das Gespräch mit Nickie gar nicht wirklich stattgefunden. Es war so unwahrscheinlich, so völlig unglaublich, daß sie in Gregs Wohnung in Humbert Corners sein sollte, am frühen Morgen schon betrunken und in ausgelassener Stimmung.

Als er oben fertig war, setzte er sich mit einer Tasse Kaffee auf die Couch. Wieder läutete das Telefon, aber Robert machte keine Anstalten, an den Apparat zu gehen. Es klingelte zehnmal, dann dachte er, es könne ja auch jemand anders sein als Nickie, und nahm den Hörer ab.

»Bobbie, Schatz, komm doch rüber«, sagte Nickie. »Spät-frühstück, aber bring du die Eier.«

Jetzt hörte Robert Gregs Lachen. »Laß mich in Ruhe! Ihr kommt doch bestimmt ganz gut ohne mich aus. Ich will gerade fort, ich bin schon an der Tür.«

»O nein, das bist du nicht«, sagte Nickie spöttisch. »Möchtest du denn Greg nicht sehen? Den Mann, den du … den du besiegt hast?«

»Nein, danke. Von dem hab ich fürs erste genug.« Robert legte verärgert den Hörer auf die Gabel zurück. Es war siebzehn Minuten nach zehn. Er hatte den Nielsons gesagt, daß er gegen elf mit den beiden Koffern und den Kartons, die sie für ihn aufbewahren wollten, zu ihnen kommen werde. Doch er beschloß, schon jetzt hinzufahren. Je eher er das Haus verließ, desto besser. Wenn er eine halbe Stunde lang nicht ans Telefon ging, würde Nickie es vielleicht aufgeben.

Er packte Koffer und Kartons in den Wagen und fuhr los. So, Greg war also wieder zu Hause und im Begriff, sich zusammen mit Nickie gehörig die Nase zu begießen! Er verstand das nicht. Er verstand überhaupt nichts mehr. Er nahm an, daß man Greg gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt hatte, und überlegte, ob wohl Nickie ihm das Geld zur Verfügung gestellt hatte. Für die beiden war alles so einfach. Die Polizei, die Nachbarn, die anderen Leute, alle schienen sich verschworen zu haben, es Greg und Nickie leichtzumachen. Die Polizei zum Beispiel hatte es nicht für nötig gehalten, ihm mitzuteilen, daß Greg gestern abend aufgegriffen worden war. Robert hatte von kurz vor elf bis nach zwölf Uhr im Krankenhaus am Bett des Doktors gesessen, doch als er nach Hause kam, war es nicht die Polizei, die ihm am Telefon die Neuigkeit mitteilte, sondern die Nielsons, die es um Mitternacht im Radio gehört hatten, wie sie sagten.

Betty Nielson war beim Kuchenbacken, als Robert eintraf. Der Anblick des kleinen, sonnendurchfluteten Wohnzimmers, der Kuchenduft aus der Küche, zauberte ein Lächeln auf Roberts Gesicht, und er spürte, daß dieses Lächeln ihm fast das Gesicht zerriß.

»Wo ist Kathy?« fragte er. Kathy war das Töchterchen der Nielsons.

»In der Sonntagsschule. Und danach ist sie bei einer Freundin zum Essen eingeladen«, sagte Jack freundlich.

»Hast du immer noch vor, heute abzureisen?«

»Nur nach Rittersville. Da bleibe ich im Hotel, bis der Doktor …«

»Wie steht’s mit ihm?«

»Immer noch dasselbe«, sagte Robert.

»Hm, hm. Du siehst ‘n bißchen blaß aus, Bob. Setz dich, setz dich!« er schob Robert so fürsorglich zum Sofa hin, als wäre er ein Invalide. »Junge, Junge, das war ‘ne Überraschung gestern abend! Betty und ich, wir wollten gerade das Licht ausmachen, da hat sie gesagt: ›Hören wir uns noch die Zwölf-Uhr-Nachrichten an, wie das Wetter morgen wird.‹«

Jack lachte.

Jetzt betrat von der Küche her Betty die Szene, eine Hand im Topfhandschuh. »Bob, wir waren ja so aufgeregt! Als ob wir selbst da mit drinsteckten. Kannst du dir das vorstellen?«

Und so ist es ja auch, dachte Robert. Gregs Wiederauftauchen hatte all ihre kleinen Zweifel an Robert Foresters Unschuld beseitigt … zumindest, was den Mord an Greg betraf. Die Voyeur-Geschichte freilich war etwas anderes. Er spürte, daß sie zwischen ihm und Betty stand, ja sogar zwischen ihm und Jack. Betty schenkte Jack und ihm Kaffee ein.

»Wie geht’s Dr. Knott?« fragte Betty. »Ich hab nicht gehört, was du eben zu Jack gesagt hast.«

»Wie zuvor«, sagte Robert. »Ich hab um zehn angerufen.«

»Immer noch im Koma?« fragte Betty.

»Ja, er …« Robert wurde plötzlich von einer Schwäche überfallen, als verlöre er das Bewußtsein. Er sah die starren blauen Augen des Doktors vor sich, die halbgeöffneten Lippen, die jetzt trotz des Sauerstoffzeltes bläulich schimmerten. Gestern abend war es Robert gewesen, als sei der Blick dieser Augen nun gar nicht mehr anklagend, nicht mehr erschrocken, vielmehr traurig und freundlich. Er hatte das seltsame Gefühl gehabt, daß der Doktor, trotz des Komas, alles hörte und sah, was um ihn vorging, daß er wußte, der Tod war nahe, hatte schon zu neunzig Prozent von ihm Besitz ergriffen. Und es war, als blicke der Doktor, schon im Reiche des Todes, durch ein kleines Fensterchen, das sich langsam schloß, ins Leben zurück.

»Hier, das kann dir nichts schaden«, sagte Jack und drückte Robert ein Glas Whisky in die Hand.

Robert nahm es und trank einen Schluck.

»Du bist sicher völlig fertig von all dem Packen und so«, sagte Jack. »Iunge, bin ich froh, daß du nicht heute schon auf große Fahrt gehst. Wo willst du denn bleiben in Rittersville?«

»In einem Hotel, dem Buckler Inn.«

»Ach ja, das kenne ich.« Jack saß in einem Sessel neben dem Sofa. »Nun ja, über den Doktor wirst du doch sicher innerhalb von … von vierundzwanzig Stunden Gewißheit haben, nicht wahr?«

»Ich glaube, die Ärzte wissen es jetzt schon«, sagte Robert. »Er wird’s nicht schaffen.«

»Er ist schließlich ein alter Mann, Bob«, sagte Betty. »Und im Grunde war es ja nicht deine Schuld. Du solltest dir nicht einreden, daß du dafür verantwortlich bist, wenn er stirbt.«

Robert schwieg. Das war es nicht.

»Jemand hat mir gesagt, oder ich hab’s in der Zeitung gelesen, daß vor einigen Wochen seine Frau gestorben ist«, sagte Jack. »Stimmt das?«

»Ja«, sagte Robert.

»Weißt du, es ist manchmal so, daß der Lebenswille gebrochen ist. Ich kann mir vorstellen, daß der Doktor gar nicht mehr so sehr am Leben hängt. Er kämpft nicht um sein Leben.«

Und ich, fragte sich Robert, wie werde ich sterben? Als alter Mann, im Koma? Oder noch jung, ganz plötzlich, auf der Straße? Oder vom Blitz erschlagen? In die Erde gebohrt von einem herabstürzenden, brennenden Flugzeug? Und würde er in jenen Sekunden Zeit haben, an all die Dinge zu denken, die er nicht getan hatte und doch hätte tun sollen, an die, die er getan hatte und nicht hätte tun sollen? Würde er sich an jede Freundlichkeit erinnern, die er anderen erwiesen hatte, um Mut zu schöpfen, um einen Sinn für die dreißig, vierzig Jahre zu finden, die er auf Erden verbracht hatte? Ihm schien, als sei die Güte das einzige, was zählt auf dieser Welt, und als habe jener letzte Freitag für den Doktor alles Gute im Leben dieses Mannes in vierundzwanzig Stunden zusammengefaßt, in der Güte, die der Doktor ihm hatte zuteil werden lassen und die ihm vergolten werden war durch den Schuß, der ihm den Tod brachte.

»Bob?« sagte jack.

Betty reichte ihm einen Teller. Mitten auf dem Kaffeetisch stand ein großer, gelber Kuchen, belegt mit überzuckerten Pflaumen. Dampf stieg auf, als Betty ihn anschnitt. Jack ließ sich gerade über »diesen Hund von Kolbe« aus, und Betty bedeutete ihm ziemlich scharf, den Mund zu halten. Und der Zwischenfall von gestern abend — wie Kolbe ihn gezwungen hatte, Greg den Revolver zurückzugeben, wovon er Jack um Mitternacht am Telefon erzählt hatte — wirkte nun auf Robert ebenso unwirklich wie wohl auch auf Betty, viel unwirklicher als die Raufszenen im Fernsehen. War er tatsächlich einer der Hauptakteure dabei gewesen? Robert mußte lächeln.

Noch ehe Betty und Jack ihren Kuchen gegessen hatten, erhob sich Robert und sagte, er wolle seine Sachen aus dem Wagen holen. Die Nielsons hatten sich erboten, sie in ihrem Keller unterzubringen.

»Augenblick, ich helf dir gleich«, sagte Jack mit vollem Mund.

»Danke, ich kann’s schon allein.«

»Du solltest mit deinem Arm nicht so schwer tragen«, protestierte Betty.

Robert ließ sich jedoch nicht zurückhalten. Vermutlich benahm er sich etwas unhöflich, aber er wollte es hinter sich bringen, wollte seine anderen Sachen aus dem Haus holen und machen, daß er fortkam, denn er hatte eine Ahnung, daß Greg und Nickie zu ihm herauskommen würden. Es war ein gräßliches Gefühl. Er konnte nicht stillsitzen dabei.

Jack half ihm, und gemeinsam trugen sie die fünf, sechs Gegenstände in den Keller.

»Was wird mit dem Zeug bei dir zu Hause, das du mitnehmen willst?« fragte Jack. »Ich könnte mitkommen und dir beim Verstauen helfen.«

»Nein, vielen Dank, Jack.«

»Los, komm, ich nehme meinen Wagen mit, dann brauchst du mich nicht zurückzubringen.«

»Ich möchte lieber allein fahren, wirklich«, sagte Robert so bestimmt, daß Jack ihm einen erstaunten Blick zuwarf. »Ich nehme nicht viel mit«, setzte er hinzu.

»Okay«, sagte Jack und gab achselzuckend nach.

Robert bedankte sich. Er sagte, sie würden einander sicher noch sehen, bevor er nach New Mexico fuhr, und dann ging er zu seinem Wagen. Er fuhr schnell. Es war nicht weit, und in fünf Minuten erreichte er seine Straße. In der Küche trank er einen Schluck Wasser und starrte auf das leere Fensterbrett, wo Jennys Topfblume ihren Platz gehabt hatte. Er hatte seine Pflanzen in einem Karton zu den Nielsons geschafft und stellte sich jetzt vor, wie Betty den Karton auspackte, den er in dem kleinen Flur gleich neben der Haustür abgestellt hatte. Es war Viertel nach elf. Er hatte seiner Mutter versprochen, sie heute früh anzurufen, aber so lange wollte er nicht mehr in diesem Haus bleiben. Er würde von Rittersville aus anrufen. Doch er durfte nicht vergessen, das Telefon morgen abstellen zu lassen.

Robert trat eben mit dem ersten Koffer aus dem Haus, als er auf der Straße einen Wagen näher kommen hörte. Er blieb auf der Veranda stehen und sah ihm entgegen. Es war ein schwarzer Thunderbird, und er dachte schon, er würde weiterfahren, da brauste er in seine Einfahrt. Am Steuer saß Nickie, neben ihr Greg.

Nickie stieg aus und sagte: »Ach nein, Bobbie! Du willst fort? Da kommen wir ja gerade noch zur rechten Zeit, wie?« Sie hielt sich an der Wagentür fest und schlug sie zu.

Greg stieg langsam auf der anderen Seite aus, auf dem Gesicht ein trunkenes, dümmliches Lächeln.

Entweder machst du jetzt einfach weiter, packst den Wagen voll und fährst los, dachte Robert, oder du versuchst höflich zu sein und siehst zu, daß du sie möglichst schnell los wirst. Oder beides. »Nein, ihr kommt ein bißchen zu spät«, sagte Robert. »Ich fahre nämlich jetzt.«

»Das hast du vor einer Stunde auch schon gesagt. Willst du uns nicht etwas zu trinken anbieten? Wir … wir sitzen auf dem trockenen, nicht wahr, Greg?«

»Stimmt, Mr. Forester.« Greg kam schwankend, aber entschlossen auf ihn zu. Er grinste noch immer.

»Nun, ich habe auch nichts mehr. Warum fahrt ihr nicht nach Jersey hinüber und kauft euch dort was?« fragte Robert und ging mit dem Koffer auf seinen Wagen zu. Er mußte um Greg, der absichtlich im Weg stehenblieb, einen Bogen machen. Sein Herz schlug wie ein Hammer. Seine Kehle war so zugeschnürt, daß es schmerzte. Erbeugte sich über den Kofferraum und versuchte, nur mit dem rechten Arm den schweren Koffer in die richtige Lage zu bringen. Da wurde er bei der Schulter herumgerissen , und Gregs Faust fuhr ihm ins Gesicht.

Robert landete hart auf dem Boden, ein paar Meter von seinem Wagen entfernt. Greg riß ihn am linken Arm wieder hoch, und Robert schrie auf vor Schmerz.

»Schlag ihn nicht k.o.«, lachte Nickie. »Ich will mich noch mit ihm unterhalten!«

Robert rappelte sich mühsam auf. Sein Kinn schmerzte, als bereite es sich auf noch viel schlimmere Schmerzen vor, und sein linkes Ohr klingelte von dem Schlag, den er hatte einstecken müssen. Greg würde ihn nicht noch einmal treffen, schwor er sich, und auch jetzt hatte er ihn nur erwischt, weil Robert ihm den Rücken zugedreht hatte. Greg war so betrunken, daß er in Bewegung bleiben mußte, um nicht umzufallen. Robert schickte sich an, den zweiten Koffer aus dem Haus zu holen.

»Einen Augenblick«, sagte Nickie.

Robert holte den Koffer und kam wieder nach draußen. Jetzt stand Greg auf der Veranda und tastete blind nach dem Türpfosten. Sollen sie nur reingehen, dachte Robert. Drinnen ist ja doch nichts mehr, was mir gehört. Nickie folgte ihm. Robert öffnete den Wagenschlag und stellte die Koffer auf den Boden. Da ertönte vom Haus her ein lautes Krachen. Robert lief auf die Treppe zu. Jetzt hörten sie das Splittern von Glas.

»Um Gottes willen, hören Sie auf!« schrie Robert, als er ins Haus kam.

Greg war in der Küche. Vor dem Kamin lag ein umgestürzter Stuhl. Robert duckte sich, als ein Teller durch die Luft geflogen kam.

»Huch! Fliegende Untertassen!« kreischte Nickie und bog sich vor Lachen.

Greg hielt einen Augenblick verdutzt inne, als wundere er sich über etwas oder wisse nicht, womit er noch werfen könnte.

»Na, und jetzt?« Nickie sah Robert an, die Arme herausfordernd in die Hüften gestemmt. Sie schwankte ein wenig.

»Du weißt doch, was du immer von mir gesagt hast, Bobbie, nicht? Ich sauf die Flasche leer und fall aufs Gesicht. Mein Stil, mich zu besaufen, und darum werd ich’s jetzt vielleicht genauso machen.«

Robert ging zur Küche und sagte: »Sie verschwenden Ihre Zeit da drinnen, Greg. Das Zeug gehört nicht mir.«

Greg wandte sich um, so daß er mit dem Rücken zum Spülstein stand, untätig jetzt, vielleicht aber nur, weil es in der Nähe nichts mehr zum Werfen gab. Die paar Schüsseln und Teller, die Robert auf dem Ablaufbrett hatte stehenlassen, waren alle schon kaputt.

Das Telefon läutete.

»Laß nur«, sagte Robert mit einem Blick auf Nickie.

Sie ging mit trägen Bewegungen auf den Kamin zu, den Kopf nachdenklich gesenkt.

Robert sammelte die größten Scherben auf, da sie unter Umständen zu gefährlichen Waffen werden konnten, und warf sie in den Kamin.

Das Telefon läutete immer noch.

»Geh dran, Bobbie.«

»Laß nur. Ich weiß schon, wer anruft«, sagte Robert. Wenn es die Nielsons waren, das hatte Zeit, und wenn es das Krankenhaus war, so wußte er, was los war.

»Ich bin’s!« sagte Nickie und riß mit einem unsteten Lächeln den Hörer von der Gabel. »Hallo? Wer? … Na-natürlich. Bobbie? Eine Frau.«

Robert nahm den Hörer.

Es war das Krankenhaus. Der Doktor war vor einer Viertelstunde, um halb zwölf, friedlich entschlafen.

»Sie sind kein Verwandter, nicht wahr, Mr. Forester?«

»Nein. Aber … Ich glaube, gestern abend war ein Vetter da, ein älterer Herr. Irgend jemand sagte, es sei ein Vetter. Ich weiß nicht, wie er heißt.« Der Doktor hatte mehrere Besucher gehabt, unter ihnen das Ehepaar von nebenan, mit Namen George und Irma, doch anscheinend hatte er keine nahen Verwandten.

»Aha. Ich frage nur, weil Sie am häufigsten gekommen sind, ihn zu besuchen.«

»Vielen Dank für den Anruf«, sagte Robert und legte auf.

»Na? Schlechte Nachrichten?« fragte Nickie.

Greg kam zögernd von der Küche hereingeschlendert, wieder das dumme Grinsen auf dem Gesicht. Robert nahm sich zusammen. Er sah Greg mit zusammengekniffenen Augen an, als wäre er ein Geist, von dessen Existenz er sich erst überzeugen müsse. Er war sich nicht klar, was Greg jetzt vorhatte, ob er ihn angreifen würde oder nur an ihm vorbeigehen. Doch dann sah Robert das Messer in Gregs rechter Hand, die locker herabhing — ein kleines Schälmesser, aber sehr scharf.

»Schlechte Nachrichten, Bobbie?« wiederholte Nickie.

»Der Doktor ist tot«, sagte Robert.

Greg blieb stehen, die Hand mit dem Messer halb erhoben. Er war nur einen Meter von Robert entfernt.

»Aber Greg, doch kein Messer! Ich will einen richtigen Boxkampf sehen!« Nickie lachte.

»Er ist tot?« fragte Greg. »Sie lügen!«

»Rufen Sie doch selbst an«, sagte Robert zornig und deutete mit dem schmerzenden Arm auf das Telefon.

»Dann haben Sie’s getan!« sagte Greg und fletschte die Zähne. Er hob das Messer.

Robert duckte sich, unterlief Greg und packte ihn um die Hüften. Greg fiel rücklings zu Boden. Dann spürte Robert ganz kurz Nickies Hände auf seinen Schultern und hörte ihr: »Hurra für den Sieger! Und jetzt ist Schluß!«, doch er hatte jetzt Greg unter sich, kniete rittlings auf ihm und gab ihm zwei Kinnhaken, bevor Greg ihn abwerfen konnte. Robert schlug mit dem Gesicht auf den Boden. Dann spürte er den scharfen Stich des Messers in der Seite. Gregs rechte Hand war noch immer frei und fuchtelte wild mit der Klinge in der Luft herum. Robert traf ihn noch einmal mit der rechten Faust und stand dann erschöpft auf.

»Komm, hör auf, Greggie. Hör auf!« sagte Nickie und i beugte sich kniend über ihn. »Au! … Greg!«

Robert sah auf die beiden hinunter, Greg noch immer kraftlos mit dem Messer fuchtelnd, die Augen geschlossen, Nickie rittlings über seinen Beinen, die Hand an der Kehle.

»Bobbie!« sagte sie. Es klang erstaunt. Sie drehte ihm den Kopf zu.

Da sah Robert, daß zwischen ihren Fingern Blut hervorsprudelte. Gregs Arm fiel herab. Das Messer stürzte klirrend zu Boden.

»Nickie, hat er dich verletzt?« Robert fiel neben ihr auf die Knie und zog ihr die Finger vom Hals. Das Blut kam unter dem Ohr hervor. Es quoll unaufhaltsam, im Rhythmus ihres Pulsschlages.

»Mein Gott«, sagte Nickie. »O mein Gott, mein Gott!«

Robert packte siebei der Schulter und preßte die Daumen auf eine Stelle direkt über ihrem Schlüsselbein. Die Stelle, aus der das Blut kam, war weiter oben, und das Pressen schien nichts zu helfen. Die Halsschlagader, dachte Robert… Er konnte die Schnittwunde sehen, ein kleiner Mund, aus dem rotes Blut quoll. Robert riß sich die Krawatte ab, aber er wußte nicht, wie er es anstellen sollte, eine Aderpresse daraus zu machen. Er knüllte sein Taschentuch zu einem Ball zusammen und drückte es gegen ihren Hals. Die Krawatte band er so fest darum, wie er glaubte, eben noch riskieren zu können. Das Blut floß weiter.

»Bobbie … Bo-b-bie, hilf mir!« sagte Nickie.

Er rutschte aus in der Blutlache, als er sich erhob. Er griff nach dem Telefonhörer. Die Vermittlung meldete sich. Er sagte: »Ich brauche sofort einen Arzt. Gursetter Road, bei Forester. Der Name steht auf dem Briefkasten …« Und dann überflüssige Instruktionen, wie die Farbe des Hauses, die Entfernung bis zur Gabelung der Autostraße, bevor er endlich wieder abhängen konnte.

Nickies Kopf lag jetzt auf dem Boden. Ihr Mund stand offen. Die Aderpresse hilft wohl doch, dachte er, denn das Blut strömte nicht mehr so heftig. Oder hatte sie nicht mehr viel Blut zu verlieren? Er preßte das Taschentuch mit der Hand gegen den Hals und zog auf der anderen Seite die Aderpresse vom Hals ab. Er dachte, Nickie sei ohnmächtig geworden. Das Blut bildete jetzt einen grausigen See auf dem Boden und färbte eine Ecke des Teppichs dunkelrot. Er tastete nach ihrem Puls und glaubte zuerst, er schlug nicht mehr. Doch dann fühlte er ihn, aber nur ganz schwach.

»Nickie?«

Ihr Mund stand halb offen. Die Augen blickten glasig. Er berührte mit dem Daumen ihre Wange, ihr Augenlid, dann zog er die Hand voll Furcht und Schrecken zurück. Er sprang auf die Füße, riß seine Jacke herunter und entdeckte, daß die linke Seite seines Hemdes, vom Ärmel abwärts, ebenfalls rot von Blut war. Er zog Nickie auf die rote Couch und richtete sie auf, bis ihr Kopf und ihre Schultern an den Polstern der Vorderseite lehnten. Ihr Kopf rollte zur Seite.

»Nickie?« Wieder nahm er ihr Handgelenk. Jetzt hatte der Pulsschlag ganz und gar aufgehört. Er versuchte es am anderen Handgelenk. Das rote Blut leuchtete zwischen ihren Brüsten wie eine Blüte durch die weiße Seide ihrer Bluse, mitten darin ein weißer Perlknopf. Sie war tot. Robert stand auf. Er starrte auf sie hinunter. Ihre Hände lagen auf dem Boden, die Handflächen nach oben gekehrt, in einer Geste der Erwartung, der Ergebung.

Er durchlebte einen Augenblick der Panik, verspürte den Wunsch, wegzulaufen, laut zu schreien. Dann fiel sein Blick auf Greg, und ohne zu überlegen warum, bückte er sich und lauschte angestrengt, bis er seinen Atem vernahm. Dann richtete er sich auf, ging zum Telefon und wählte hastig eine Nummer.

»Ja! Jack, komm sofort her, ja? … Dank … Ich kann jetzt nicht sprechen.« Er hing auf und drückte das Gesicht in die Hände. Seine Stimme hatte schrill geklungen. Er hatte Jack gerufen, weil er am nächsten war, nur darum. Wenn Jack hereinkam … Robert sah ihn schon vor sich, wie er entsetzt an der Tür stehenblieb, sah sein Gesicht, wie er von Nickie zu Greg und dann zu ihm herüberblicken würde. Und dann würde Jack einen Augenblick lang glauben, daß er, Robert Forester, es getan hatte, wie zuvor würde Robert diesen Gedanken auf Jacks Gesicht geschrieben sehen.

Robert nahm die Hände vom Gesicht. Er ging zur Tür, wollte das Haus verlassen, doch das Sonnenlicht blendete ihn, und er blieb stehen. Er sah sich nicht noch einmal um nach Nickie, doch das Weiß ihrer Bluse, das Schwarz ihrer langen Hose stand wie ein Farbmuster vor seinen Augen, wohin er auch blickte. Das Messer lag zu seinen Füßen; kein Blut war daran zu sehen. Er bückte sich, wollte es aufheben, doch sofort zuckte er wieder zurück. Nicht anfassen, dachte er. Bloß nicht anfassen!