17

Robert rief Jenny am Montagmorgen an, bevor er zur Arbeit ging. Er fragte, ob er sie abends sehen könne.

»Tja … Ich weiß nicht.«

Robert lachte. »Du weißt nicht? Hast du eine Verabredung?«

»Nein.«

»Ich möchte dich nur ein paar Minuten sprechen. Ich komme zu dir, oder du kommst zu mir. Was ist dir lieber?«

»Kannst du es mir nicht jetzt sagen?«

»Ich möchte lieber nicht am Telefon davon sprechen. Nur ein paar Minuten, Jenny. Um welche Zeit ist es dir recht?«

Schließlich verabredeten sie, daß Jenny gegen neun zu ihm kommen sollte. Robert runzelte die Stirn, als er auflegte. Jennys Stimme hatte so seltsam geklungen. Natürlich, sie war aufgeregt wegen Greg, und vielleicht hatten ihr auch am Wochenende ihre Freunde »ins Gewissen« geredet. Leute wie Susie Escham. Susie war genau der Typ, der aus purer Lust am Sensationellen fähig war, zu Jenny zu sagen: »Nun ja, möglich ist es schon, daß Robert ihn reingestoßen hat, nicht? Robert würde das natürlich nie zugeben, auch wenn er es wirklich getan hat.« Und da Greg Susie kannte, hatte er ihr vermutlich von Jennys »Voyeur« erzählt. Und wie viele Bekannte wie Susie hatte Jenny noch, fragte sich Robert.

Im Laufe des Vormittags kam Nancy zu Robert und teilte ihm mit, Mr. Jaffe wünsche ihn in seinem Büro zu sprechen.

Das hatte Robert erwartet. »Okay. Danke, Nancy«, sagte er mechanisch, und dann brach die Angst wie ein Guß eiskalten Wassers über ihn herein. Er sah Nancy an, als er aufstand. Nancy lächelte nicht. Sie wandte den Kopf ab.

Mr. Jaffe war Roberts unmittelbarer Vorgesetzter, und sein Büro befand sich auf der anderen Seite der Empfangshalle. Er war ein Mann mit einem kantigen Gesicht, mit Schnurrbart und Brille, schwammig und mit einer Neigung zum Fettansatz. Zwischen den Sätzen machte er immer wieder Pausen und preßte die vollen Lippen zusammen, und Robert konnte hören, wie er den Atem durch den buschigen Schnurrbart blies, während er auf die Wirkung seiner Worte wartete. Mr. Jaffe versuchte anscheinend, sich sorgfältig auszudrücken, doch es war gleichfalls deutlich, daß ihm nicht viel Zeit geblieben war, die Worte zurechtzulegen. Mr. Jaffe eröffnete ihm, im Verlauf des Vormittags habe ihn ein Polizeibeamter aufgesucht, und der langen Rede kurzer Sinn war, daß Roberts Übersiedlung nach Philadelphia, die in zehn Tagen geplant war, am besten aufgeschoben werden sollte, bis die Dinge hier geklärt waren; und daß dies nicht so sehr seine Ansicht oder die von Mr. Gerard, dem Präsidenten von Langley Aeronautics, sei, sondern die der Polizei, die sicherlich wünsche, daß er sich vorläufig in der Stadt aufhalte.

Robert nickte. »Ich verstehe. Ich hoffe, die Geschichte klärt sich noch vor Ablauf der zehn Tage auf. Eigentlich ist es ja nur noch eine Woche. Aber ich werde selbstverständlich keine Pläne machen, bevor nicht alles geklärt ist.«

Mr. Jaffe nickte ebenfalls. Robert, der auf seinem Stuhl an der Wand saß, wartete, beobachtete ihn, wie er unschlüssig neben dem Schreibtisch stand, die Hände in den Taschen der ausgebeulten, grauen Hose. Was Robert Sorgen machte, war das, was Mr. Jaffe nicht ausgesprochen hatte, die Zweifel, die Robert aus den Pausen zwischen den Sätzen herausgehört hatte, während die braunen Augen mit bedauerndem, forschendem Blick durch die dicken Gläser Robert musterten. Robert war überzeugt, daß der Polizeibeamte — Lippenholtz wahrscheinlich — Mr. Jaffe von dem Voyeur vor Jennys Haus berichtet hatte, vielleicht sogar auch von dem Gewehrmärchen seiner ehemaligen Frau und von den Psychiatern. Und als nächstes kommt vielleicht der Rausschmiß, dachte Robert. In Form eines immer wieder verlängerten Urlaubs.

»Nun, ich kann Ihnen ja auch gleich erzählen«, fuhr Mr. Jaffe fort, den Blick auf den Schreibtisch gesenkt, »daß wir … Ich meine, daß Mr. Gerard, heute morgen einen Brief bekommen hat. Gerichtet an den Präsidenten der L, A.«

Robert folgte Mr. Jaffes Blick und sah auf dem blaßblauen Löschpapier des Schreibtisches zwei maschinenbeschriebene Bogen liegen.

»Einen Brief, der Sie betrifft, Mr. Forester. Zweifellos von einem nicht ernst zu nehmenden Menschen, aber dennoch …« Mr. Jaffe sah ihn an.

»Kann ich ihn mal sehen?« bat Robert.

»Natürlich«, sagte Mr. Jaffe und nahm das Blatt zur Hand. »Es ist nicht gerade schmeichelhaft. Und denken Sie nicht, daß wir den Unsinn glauben, Mr. Forester, aber — nun, ich finde, Sie sollten Kenntnis davon haben. Jawohl.« Er reichte Robert den Brief.

Robert begann zu lesen. Dann glitt sein Blick nur noch oberflächlich über die mit frischem Farbband geschriebenen Abschnitte des Briefes. Manche Wörter waren durchgestrichen, andere enthielten Fehler. Die Unterschrift fehlte natürlich, doch Robert wußte genau, daß Greg ihn verfaßt hatte. Hier war die Voyeur-Geschichte, das Gewehrmärchen (Nickies Version), und die Feststellung, daß Forester einen üblen, psychopathischen Einfluß auf Jenny Thierolf, »ein ungewöhnlich naives Mädchen von 23 Jahren«, ausübe und bereits ihre Verlobung auseinandergebracht habe … Im letzten Absatz behauptete der Schreiber, ein Freund Greg Wyncoops zu sein und aus persönlichen Gründen seinen Namen verschweigen zu müssen, gleichwohl aber: der Gerechtigkeit dienen zu wollen. »Kein Unternehmen von Ruf, wie Langley Aeronautics, sollte einen Mann beschäftigen …«

Robert stand auf und wollte Mr. Jaffe den Brief wieder aushändigen, doch als dieser keine Anstalten machte, ihn entgegenzunehmen, legte er die Bogen auf das Löschpapier zurück.

»Ich denke, der Brief ist von Wyncoop«, sagte Robert. »Von wo ist der Poststempel auf dem Umschlag?«

»New York, Grand Central«, sagte Jaffe.

Robert blieb stehen. »Mr. Jaffe, ich bedauere diese Angelegenheit außerordentlich, aber ich habe Grund anzunehmen, daß Wyncoop noch lebt, und daß es der Polizei nicht schwerfallen dürfte, ihn zu finden, wenn sie richtig nach ihm sucht.«

»Welcher Grund wäre das?«

»Der Hauptgrund ist die Tatsache, daß ich ihn nicht in den Delaware gestoßen habe, und ein weiterer ist dieser Brief. Ich bin der Ansicht, daß Wyncoop ihn geschrieben hat, und ich bin fest davon überzeugt, daß er sich in New York versteckt hält.«

Mr. Jaffe rieb sich den Schnurrbart. »Nun ja — hm … Sind die Behauptungen in diesem Brief in irgendeiner Hinsicht zutreffend, Mr. Forester?«

Robert blickte auf die engbeschriebenen Seiten hinunter. Er setzte zu einer ausführlichen Antwort an, schüttelte dann aber heftig den Kopf und sagte: »Nein. So wie es hier steht — nein. Nicht im geringsten.«

Mr. Jaffe starrte ihn an, offenbar sprachlos. Oder wartete er auf weitere Erklärungen?

»Mr. Jaffe, ich möchte noch hinzufügen — Wyncoop täuscht sich gründlich über meine Absichten in bezug auf Jenny Thierolf. Diese Absichten existieren nicht. Die Schlägerei hätte überhaupt nicht stattzufinden brauchen. Nichts von all diesem hätte zu geschehen brauchen.«

Mr. Jaffe starrte ihn noch immer an. Endlich nickte er: »Es ist gut, Mr. Forester. Ich danke Ihnen, daß Sie zu mir gekommen sind.«

Wie immer, aß Robert mit Jack Nielsen in der kleinen Imbißstube gegenüber zu Mittag. Gewöhnlich aßen noch zwei Kollegen mit ihnen, Sam Donovan und Ernie Cioffi, doch heute waren Jack und Robert allein. Falls Jack es so arrangiert hatte, so hatte Robert nichts davon bemerkt. Der Gedanke schoß Robert durch den Kopf, daß Sam und Ernie ihm heute vielleicht absichtlich aus dem Wege gingen. Vielleicht dachten sie, Jaffe habe ihn entlassen. Unzweifelhaft wußte der ganze Zeichensaal, daß Jaffe ihn heute morgen hatte kommen lassen. Robert berichtete Jack über die Zurückstellung seiner Versetzung nach Philadelphia und sagte, daß Gerard einen häßlichen Brief über ihn mit New Yorker Poststempel bekommen habe, und daß er persönlich glaube, Greg habe den Brief geschrieben.

»Was stand denn drin?« wollte Jack wissen.

Robert zögerte. Er rauchte, obgleich sein Essen schon auf dem Tisch stand. »Eines Tages erzähl ich’s dir mal. Jetzt möchte ich lieber nicht darüber sprechen. Okay, Jack?«

»Okay.«

»Ich verspreche es dir.« Robert sah Jack an. Dann drückte er seine Zigarette aus und widmete sich seinem Essen.

»Ach, wart noch ein paar Tage«, sagte Jack zuversichtlich, als bliebe ihnen etwas anderes übrig.

Gleich nach Büroschluß suchte Robert den Dentisten in Langley auf und ließ sich die Jackettkrone auf den Eckzahn setzen. Robert hatte diesen Besuch schon zweimal aufgeschoben. Er fand den Zahn zu weiß, doch der Dentist versicherte, er werde nachdunkeln, und fügte hinzu, er sei außerdem »praktisch unzerbrechlich«, doch Robert hatte keine Lust, das auszuprobieren, nicht einmal an einem harten Apfel.

Jenny kam um neun, sie war ernst und still. Robert hatte Espresso gemacht und bot ihr einen Cognac an. Sie saßen einander am Teetisch gegenüber, sie auf der roten Couch, er im Ledersessel.

»Ich habe deinen Pullover noch nicht ganz fertig«, sagte Jenny. »Einen Ärmel muß ich noch zu Ende stricken.«

Es war das erste Mal, daß sie den Pullover erwähnte. »Ich werde ihn mit größer Vorsicht behandeln«, sagte Robert. »Mir hat noch nie jemand einen Pullover gestrickt.«

Sie nickte mit abwesender Miene. Unter ihren Augen lagen schwache, dunkle Ringe. »Was wolltest du mit mir besprechen?«

»Ich bin also Sonntag abend nach New York gefahren. Ich wollte mit Nickie sprechen. Ihren Mann habe ich auch getroffen. Ich habe so eine Ahnung, die wissen genau, wo Greg steckt, und ich bin der Ansicht, er ist in New York.«

»Wieso?«

»Nun, ich kenne Nickie, deshalb. Ich weiß, wie sie blufft, ich weiß, wie sie lügt, wie sie aussieht, wenn sie lügt. Ich glaube, Greg sitzt irgendwo in einem Hotel in New York, und Nickie weiß, in welchem. Außerdem hat der Präsident meiner Firma heute morgen einen Brief bekommen, aus New York, und ich bin der Ansicht, daß Greg ihn geschrieben hat. Ich habe ihn gelesen.«

»Was stand denn drin?«

Robert stand auf, holte sein Feuerzeug aus der Tasche und steckte sich eine Zigarette an. »Genau, was man von Greg erwarten würde. Daß ich ein Voyeur bin, daß ich ein Psychopath bin — laut Aussage meiner ehemaligen Frau, laut Aussage aller, die mich näher kennen. Der Brief war ohne Unterschrift. Es sollte aussehen, als käme er von einem von Gregs Freunden.« Jenny starrte ihn an, und plötzlich fiel ihm ein, daß Jaffe ihn am Vormittag auch so angestarrt hatte, nur war Jennys Ausdruck trauriger. »Ich habe die Polizei in New York angerufen, wenn es vielleicht auch nichts nützt. Ich habe gesagt, meiner Meinung nach sollten sie in den Hotels von New York nach Greg suchen. Natürlich könnte er sich auch bei Freunden aufhalten. Jedenfalls mußte ich ihnen noch einmal eine genaue Beschreibung von Greg liefern. Offensichtlich hatten sie da, wo ich angerufen habe, noch keine. Die Polizei in New York meint, der Fall sei Sache der Polizei in Pennsylvania. Und natürlich wird sie die Tatsache, daß der Hinweis von mir kam, auch nicht allzusehr beeindruckt haben. Meinen Namen habe ich natürlich angegeben. Jenny, was ist los?«

Sie sah aus, als wäre sie den Tränen nahe.

Er setzte sich neben sie auf die Couch, legte ihr behutsam den Arm um die Schultern und nahm ihn wieder fort.

»Trink deinen Cognac. Du hast ihn nicht mal angerührt.«

Sie hob das Glas, trank aber nicht. »Ich wargestern bei den Tessers«, sagte sie. »Ich hab dich gestern abend angerufen und du warst nicht da, da habe ich bei ihnen angerufen. Ich war nur eine halbe Stunde dort, weil ich mich so über die beiden geärgert habe. Jetzt behaupten sie, du seist der Voyeur und hättest vielleicht auch Greg umgebracht, und das Ganze ließe sie völlig kalt.«

»Mein Gott, Jenny …! Naja, ist das nicht ganz normal? Ich meine, was, zum Teufel, wissen die Tessers schon von mir?«

»Wie meinst du das?«

Die Angst in ihren Augen entlockte ihm ein Lächeln. »Ich meine, sie haben mich doch nur einen Abend lang erlebt, nicht wahr? Und, offen gesagt, ich glaube, sie sind ein bißchen dumm.«

»Dumm?«

Sofort bereute er seine Worte. »Nun ja, was für einen Eindruck kann ich schon von ihnen haben? Ich war einen Abend lang ihr Gast. Dick hatte zuviel getrunken. Kann man da erwarten, daß ich mir eine hohe Meinung von ihnen bilde?«

»Es sind meine Freunde.«

»Das weiß ich, Jenny. Aber wir sind drauf und dran, ein Urteil über Menschen zu fällen.« Er stand auf. »Also gut. Ich will nicht über Dick urteilen. Es war ein einziger Abend, und er war blau.«

»An diesem Abend hat er dich verteidigt.«

»Inzwischen scheint er aber seine Meinung geändert zu haben.«

»Ja. Und Naomi auch.«

Robert vergrub die Hände in den Taschen. »Na schön. Und haben sie deine Einstellung auch geändert?«

Jenny erhob sich von der Couch. »Ich habe dir doch gesagt, daß ich weggelaufen bin, weil ich ihr Gerede nicht mit anhören konnte.« Sie machte sich auf den Weg zum Bad, kam aber noch einmal zurück und holte ihre Handtasche, die auf der Couch lag.

»Jenny …«

Sie ging hinaus und machte die Badezimmertür fest hinter sich zu. Wasser rauschte ins Waschbecken. Mit gerunzelter Stirn rauchte Robert seine Zigarette und schlürfte Cognac. Er schenkte sich noch einmal nach. Jenny kam zurück. »Jenny, wenn du mir nur sagen wolltest, was los ist … Nach allem, was ich in der letzten Woche verkraftet habe, kann ich jetzt alles hören.« Sie blieb stumm, hielt die Handtasche an sich gepreßt, und sah ihn nicht einmal an.

»Als ich dich bat, heute abend herüberzukommen, da dachte ich, du interessierst dich vielleicht für das, was ich dir zu sagen habe. Viel ist es nicht, ich weiß. Nichts Endgültiges. Und dennoch …« Er merkte, daß sie ihm nicht zuhörte. »Willst du dich nicht setzen und deinen Kaffee austrinken? Und den Cognac?«

Jetzt sah sie ihn an, abwesend und traurig. »Nein. Ich glaube, ich gehe jetzt lieber.«

»Jenny, was ist denn nur? Wenn du glaubst, ich … Daß ich Greg wirklich ins Wasser gestoßen habe, dann sag’s doch! Sag irgendwas!«

Jenny ging zum Kamin, dem leeren, schwarzen Kamin, aus dem Robert die Asche herausgeräumt hatte, und starrte hinein. Robert fand, sie war dünner geworden, dünner noch als damals, als sie im Jasserine Chains gesessen hatten.

»Wen hast du noch gesprochen an diesem Wochenende?« fragte er.

Sie sah ihn an. Dann zuckte sie kaum merklich die Achseln, wie ein unwilliges Kind, das von Erwachsenen ausgefragt wird. »Ich bin Sonntag bei Mrs. Van Vleet gewesen.«

Robert stöhnte. »Und was hat die zu sagen gehabt?«

»Ich habe mir Gregs Zimmer angesehen. Mit ihr.«

Robert zog ungeduldig die Brauen zusammen. »Hast du was gefunden?«

»Nein. Ich dachte, es gäbe vielleicht einen Hinweis, aber wir haben nichts finden können.«

Robert zündete sich eine neue Zigarette an. »Sind alle seine Sachen da? Alle Koffer und so?«

Jenny sah ihn schmerzlich an. »Ich glaube, wir sollten uns nicht mehr sehen, Robert.«

Er erschrak.

»Nun gut, Jenny. Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«

Sie nickte. Dann nahm sie, sehr steif und befangen, ihre Zigaretten vom Tisch, von denen sie nicht eine einzige geraucht hatte, steckte sie in die Tasche und ging zum Schrank, um ihren Mantel zu holen. Robert war schneller und half ihr hinein. Er bildete sich ein, daß sie die Berührung seiner Hände mied, als sie hineinschlüpfte.

»Du brauchst mir nicht zu sagen, was Mrs. Van Vleet dir eingeredet hat«, sagte Robert. »Ich glaube, ich weiß es auch so.«

»Nein, das ist es nicht«, sagte Jenny, schon an der Tür. »Auf Wiedersehen, Robert.«