20

An diesem Tag war es Robert unmöglich zu arbeiten, und er wußte genau, es würde auch am folgenden Tag nicht anders sein. Als er von Rittersville nach Langley fuhr, beschloß er, noch am selben Morgen mit Jaffe zu sprechen und ihm mitzuteilen, daß er es für richtiger halte zu kündigen. Er würde in aller Form schriftlich darum bitten. Ein weiteres Kündigungsschreiben wollte er, mit einer Entschuldigung, an Mr. Gunnarote vom Arrobritwerk in Philadelphia senden. Und dann, nahm Robert an, würden alle Leute denken, er habe aus schlechtem Gewissen gekündigt. Sollten sie. Inzwischen würde Naomi Tesser mindestens einem Dutzend Leuten erzählt haben, daß er Jenny Thierolf durch Herumschleichen um ihr Haus kennengelernt hatte, und diese Leute würden es wieder anderen erzählen. Die ganze Geschichte ödete ihn langsam an, aber für andere war sie neu und überaus aufregend. Sie würde entweder ein Gerücht bestätigen, das den Leuten zu Ohren gekommen war, oder aus heiterem Himmel kommen, doch nunmehr als feststehende Tatsache, da Robert Forester sie selbst zugegeben hatte.

Er war zehn Minuten zu spät an seinem Arbeitsplatz, und alle Zeichentische waren schon besetzt, als er hereinkam. Mehrere Kollegen sahen auf, und Robert grüßte sie mit »Guten Morgen« oder mit »Hallo«. Er war weniger befangen als am Tage zuvor, eigentlich weniger als je seit Dienstag letzter Woche. Jack Nielsen erhob sich von seinem Platz und kam auf ihn zu. Robert zog seinen Trenchcoat aus, legte ihn über den Arm und wollte zu seinem Schrank hinübergehen.

Jack sah ihn besorgt an. Er machte ihm ein Zeichen, zum hinteren Korridor zu kommen. Robert schüttelte den Kopf. »Ich muß mit Jaffe sprechen«, sagte er leise, als Jack neben ihm war. Die Männer an den Tischen ringsum hielten die Köpfe gesenkt. »Ich weiß gar nicht, warum ich meinen Mantel überhaupt in den Schrank hänge.«

»Sag ihm, du willst für den Rest der Woche frei haben«, sagte jack. »Mein Gott, das wird er doch verstehen.«

Robert nickte. Er drehte sich um und ging in Richtung auf Jaffes Büro davon.

»Bob!« Jack war wieder neben ihm. Flüsternd sagte er: »Ich glaube, vor ein paar Minuten war ein Kriminalbeamter hier. Ich hab gesehen, wie er in der Halle mit Jaffe gesprochen hat. Ich bin nicht sicher, aber …« Er hielt inne.

»Okay. Danke.« Robert fühlte sich plötzlich recht elend. Er legte den Mantel über die Lehne seines Stuhles.

»Was ist los? Geht’s dir nicht gut?« fragte Jack.

»Doch, mir geht’s gut«, sagte Robert.

Jetzt hoben sich ringsum die Köpfe.

»Wenn du dir heute frei nimmst, können wir ja drüben im Restaurant einen Kaffee trinken, bevor du fährst.«

»Gern«, sagte Robert, hob grüßend die Hand und schritt auf Jaffes Büro zu. Er warf einen Blick in die Empfangshalle und entdeckte durch die Glasscheiben Lippenholtz, der in hellgrauem Anzug und Hut eben aus dem Licht trat. Lippenholtz sah ihn auch sofort und blieb wartend stehen. Robert öffnete die Glastür zur Halle.

»Da sind Sie ja«, sagte Lippenholtz. »Sie haben anscheinend Ihren Job noch, wie?«

»Wollten Sie mich sprechen?« fragte Robert.

»Ja. Wollen wir uns nicht setzen?« Er wies auf ein grünes Sofa dicht beim Lift, breit genug für zweieinhalb Personen.

Robert wollte eigentlich nicht, aber er setzte sich doch, ganz automatisch.

»Ich habe von dem Schuß gehört«, sagte Lippenholtz. »Verwundet sind Sie anscheinend nicht.« Er rauchte eine Zigarette.

»Nein. Heute morgen habe ich das Geschoß gefunden. Eine Zweiunddreißiger. Vermutlich haben Sie schon davon gehört?«

»Nein, hab ich nicht.«

Robert berichtete, wo er es entdeckt hatte, und sagte, daß er die Salatschüssel zur Polizeiwache von Rittersville gebracht habe. Lippenholtz schien interessiert, jedoch unbeeindruckt. »Wissen Sie zufällig, ob Wyncoop einen Waffenschein hat?« fragte Robert. »Nicht, daß er sich sonst keinen Revolver beschaffen könnte, aber …«

Lippenholtz studierte schweigend Roberts Gesicht. »Nein, Wyncoop hat keinen Waffenschein. Ich erinnere mich genau, weil wir Nachforschungen über ihn angestellt haben. Ich nehme an, Sie glauben, daß Wyncoop geschossen hat?«

»Ich habe den starken Verdacht, daß er es war.«

»Mr. Forester, heute nacht ist noch etwas geschehen, was von größtem Interesse ist. Wir haben es absichtlich aus den Morgenzeitungen herausgehalten. Wyncoops Leiche ist angeschwemmt worden. Oberhalb von Trenton. Zumindest glauben wir, daß es Wyncoop ist. Die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen.« Lippenholtz sah ihn an und rieb sich mit dem Finger das pockennarbige Kinn. »So, wie die Dinge liegen — glauben Sie nicht, daß vielleicht jemand anders den Schuß abgegeben hat? Ein Hitzkopf aus seinem Freundeskreis vielleicht?«

»Welche Beweise haben Sie, daß es Wyncoop ist?« fragte Robert.

»Bis jetzt keine, aber der Tote ist ebensogroß wie Wyncoop, einsfünfundachtzig. Unbekleidet, bis auf einen Gürtel mit gewöhnlicher Schnalle, kein Monogramm, und die Reste einer Hose, keine Haare, das ist das Schlimmste. Der Arzt sagt, die Leiche hat vier bis vierzehn Tage dringelegen. Und dann die vielen Felsen. Der Schädel ist zertrümmert. Kann von einem Felsen verursacht sein, sieht aber eher aus wie von einem kräftigen Schlag mit einem stumpfen Instrument oder einem Stein, der als Waffe benutzt wurde. Was haben Sie dazu zu sagen? Man hat ihn gestern abend gegen acht gefunden. Ein Mann, der sein Boot festmachen wollte, hat ihn an seinem Ankerplatz entdeckt.«

Robert zuckte die Achseln. »Was soll ich dazu sagen? Ich glaube nicht, daß es Wyncoop ist. Sie haben ja selbst gesagt, bis jetzt haben Sie keinerlei Beweise dafür.«

»Nein, aber zwei Dinge sind auffällig. Hier in der Gegend wird niemand vermißt, der so groß war. Und dann sieht es aus, als sei der Bursche da umgebracht werden.«

Es fiel Robert an diesem Morgen ungewöhnlich leicht, ruhig zu bleiben. »Es gibt doch noch andere Punkte, die nachzuprüfen wären, nicht wahr? Das Alter, zum Beispiel. Kann man das nicht an den Knochen feststellen? Und was ist mit der Augenfarbe?«

»Reden Sie nicht von Augen«, sagte Lippenholtz.

Robert stand nervös auf. Der Tote mußte fürchterlich aussehen.

»Wohin wollen Sie?«

Robert steckte sich eine Zigarette an und blieb die Antwort schuldig.

»Hat Ihre Freundin nicht auch geglaubt, daß Sie Wyncoop umgebracht haben, Mr. Forester? Hat sie nicht darum Selbstmord verübt und gesagt, daß Sie für sie den Tod verkörpern?«

Robert runzelte die Stirn. »Was meinen Sie mit ›Hat sie nicht auch geglaubt‹?«

»Ich frage Sie, ob sie Sie nicht im Verdacht hatte?«

Robert ließ etwas Wasser in einen Papierbecher laufen, trank einen Schluck und warf den Becher in den Abfalleimer. »Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ihre Freunde sie ins Gebet genommen haben. Wenigstens einige. Doch das steht wohl nicht zur Debatte, oder? Zur Debatte steht, ob der Tote Wyncoop ist oder nicht.«

Lippenholtz sah ihn stumm an, die dünnen Lippen zu einem schwachen Grinsen verzogen.

»Und während Sie das herauszufinden suchen, werde ich wahrscheinlich umgelegt. Vielleicht sogar noch heute abend.« — »Oh, das möchte ich bezweifeln, Mr. Forester.«

Robert hätte ihn am liebsten verprügelt. »Ich dachte immer, es ist Aufgabe der Polizei, den wahren Täter zu ermitteln. Versteifen Sie sich doch nicht auf mich, nur weil ich gerade zur Hand bin!«

»Mr. Forester, eben das haben wir vor.«

Robert warf seine Zigarette in den Sandkübel und zuckte die Achseln. »Nun ja, im Gefängnis bin ich vermutlich sogar sicherer als in meinem Haus.«

Und dann überlegte er, was geschehen würde, wenn der Arzt entschied, daß der Tote doch Wyncoop sei. Wie viele Jahre gab es für Totschlag? Oder würden sie nunmehr auf Mord erkennen?

»Möchten Sie ins Gefängnis, Mr. Forester?«

»Nein.« Robert schob die Hände in die Hosentaschen. »Was für eine neue Methode soll das denn sein? Fragen Sie immer die Leute zuerst, ob sie ins Gefängnis wollen?«

»Nein, nicht immer. Warum sehen Sie sich den Toten nicht einmal an? Wir hätten gerne, daß Sie ihn sich mal anschaun.«

»Na schön, ich komme mit«, sagte Robert im gleichen Plauderton. »Einen Augenblick, ich hole nur meinen Mantel.« Er ging zurück in den Zeichensaal, an seinem Tisch vorbei, machte aber wieder kehrt, da ja sein Mantel auf der Stuhllehne hing, und nicht im Schrank. Jack sah ihn fragend an, doch Robert schüttelte den Kopf und winkte ab. Robert ging geradewegs zurück zu Lippenholtz.

Lippenholtz betrachtete ihn von oben bis unten, während sie auf den Lift warteten. »Warum der Trenchcoat? Es regnet doch gar nicht«, sagte er. »Die Sonne scheint ganz hell vom Himmel.«

»Ich liebe nun mal Trenchcoats«, sagte Robert. Lippenholtz tat so lustig, fand Robert, als habe er den Fall schon gelöst.

Sie fuhren in Lippenholtz’ schwarzem Dienstwagen nach Rittersville, Lippenholtz sagte, es mache ihm nichts aus, Robert nachher wieder ins Werk zurückzufahren. Sonst könne ihn ja auch einer der Fahrer zurückbringen.

»Haben Sie Miss Thierolfs Eltern gesprochen?« fragte Lippenholtz unterwegs.

»Nein.«

»Haben Sie’s gar nicht versucht?«

»Nein.« Und Robert fügte hinzu: »Ich bin ihnen nie vorgestellt worden.«

»Nette Leute.«

Robert seufzte. Er war ärgerlich und fühlte sich elend.

In Rittersville parkte Lippenholtz auf einem Platz neben der Polizeiwache, und sie gingen zusammen hinein. Mit einer Handbewegung entließ Lippenholtz den weißhaarigen Beamten, der sie begleiten wollte, und winkte ein paar Holzstufen hinunter in den Hintergrund des Raumes. Hier standen sechs Emailletische, doch nur auf einem lag ein Toter, mit einem weißen Laken bedeckt. Ein Wachtposten saß in der Ecke und las in einem Magazin. Der Mann schenkte ihnen keinerlei Beachtung.

»Das ist er«, sagte Lippenholtz. Er ergriff einen Zipfel des Lakens und zog es zurück.

Robert hatte sich auf einiges gefaßt gemacht, und doch fuhr er bei diesem Anblick zurück. Der Unterkiefer des Toten fehlte vollständig. An Schädel und Schultern lagen die Knochen bloß. Weißliche, zerrissene, blutleere Fleischfetzen hingen am Skelett. Der Tote wirkte alt, alt an Jahren. »Die Zähne«, sagte Robert. »Da sind noch ein paar im …«

Lippenholtz sah ihn strahlend an. »Ja, wir haben schon versucht, uns mit Wyncoops Zahnarzt in Verbindung zu setzen. Unglücklicherweise ist er in Utah bei Verwandten auf Besuch. Noch schlimmer, es ist ein Jagdausflug oder was Ähnliches.« Lippenholtz sah aus, als freue er sich diebisch darüber. Er hielt noch immer das Laken, damit Robert alles sehen konnte.

Robert gab ihm ein Zeichen, den Toten wieder zuzudecken. »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen, auch wenn ich ihn mir stundenlang ansehe.«

»Sie sind blaß, Mr. Forester.«

Es war ihm übel. Er drehte sich zur Tür und hob den Kopf, doch er empfand den Geruch des Raumes nur um so intensiver. Betont langsam ging Robert zur Tür, so daß Lippenholtz sie schon vor ihm erreichte.

»Danke, Charley!« rief Lippenholtz dem Beamten hinter der Zeitung zu. Als Antwort kam ein Grunzen.

»Wie lange dauert es, bis Sie den Zahnarzt erreichen, was meinen Sie?« fragte Robert.

»Ich weiß es nicht.«

»Sind denn keine Aufzeichnungen vorhanden?« fragte Robert. »Kann denn niemand anders an sie ran?«

»Er hat eine kleine Praxis in Humbert Corners. Alles ist abgeschlossen.«

»Haben Sie in Utah hinterlassen, daß es dringend ist?«

»Wir haben ihn in Utah auch nicht erreicht, nur seine Verwandten. Er ist nicht da.«

»Wie heißt er?«

»McQueen«, sagte Lippenholtz. »Thomas oder Theodore.« Er ließ Robert nicht aus den Augen. »Was halten Sie von dem Toten? Er ist einsfünfundachtzig, schlank …«

Robert warf ihm einen stummen Blick zu. Er war viel zu mitgenommen, um der Frage überhaupt Beachtung zu schenken. Lippenholtz begleitete ihn nach draußen, machte aber unten an der Steintreppe halt, um mit einem Beamten zu sprechen. Robert ging zum Parkplatz voraus und gab rasch die paar Schluck Kaffee von heute morgen von sich. Als Lippenholtz lächelnd mit dem Polizisten nachkam, rauchte Robert eine Zigarette.

»Dieser Herr hier wird Sie nach Langley zurückfahren«, sagte Lippenholtz und wies auf den dicken Beamten. Ruhiger fügte er hinzu: »Es wären noch ein paar Fragen zu klären gewesen, Mr. Forester, aber Sie machen den Eindruck, als fühlten Sie sich nicht allzu wohl.«

»Was für Fragen?« wollte Robert wissen.

»Ach, warum warten wir nicht damit, bis wir uns mit dem Zahnarzt unterhalten haben?«

Robert sagte: »Ich wüßte gerne, ob ich heute nacht vielleicht Polizeischutz haben kann. Sagen wir, einen Mann im Wagen vor dem Haus?«

»Polizeischutz?« Lippenholtz’ Grinsen wurde noch breiter.

»Vor ein paar Minuten haben Sie mich gefragt, ob ich ins Gefängnis will. Ein Mann Wache verursacht doch wohl viel weniger Mühe und Unkosten, nicht wahr?«

Lippenholtz zögerte, lächelnd; offensichtlich besann er sich auf eine geistreiche Antwort.

»Ich bin nicht bewaffnet, und der, der mich umlegen will, hat ein Schießeisen«, sagte Robert.

»Hören Sie mal, machen Sie nicht ein bißchen viel Wind wegen …«

»Hier in Rittersville sind Sie doch nicht der Chef, nicht wahr, Mr. Lippenholtz?« Robert fühlte, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn trat.

Lippenholtz’ Lächeln verschwand. Seine farblosen Brauen zogen sich zu einem dicken, waagerechten Strich zusammen. »Ich an Ihrer Stelle würde …«

»Sie glauben nicht, daß mich Wyncoop abknallen will, weil Sie es nicht glauben wollen. Warum eigentlich? Weil er keinen Waffenschein hat?« Robert lachte kurz auf.

Jetzt begann der dicke Polyp neben Lippenholtz zu knurren wie ein Hund, der die Befehle seines Herrn erwartet.

Lippenholtz schob das narbige Kinn vor. »Hören Sie, Foster, Sie bringen sich nur noch tiefer in die Patsche, wenn Sie nicht aufpassen. Für wen halten Sie sich denn? Sie machen nichts als Scherereien. Ich könnte Sie verhaften als Voyeur, wissen Sie das? Und außerdem sind Sie auf dem besten Wege, wegen Mordes verhaftet zu werden. Und Sie wagen es noch…«

»Natürlich wage ich es! Haben Sie was dagegen?«

Lippenholtz zuckte zusammen und warf dem Dicken neben sich einen raschen Blick zu. »Also gut. Wir stellen Ihnen einen Mann hin. Um welche Zeit hätten Sie’s denn gern?«

»Mir egal. Je eher, desto besser.«

»Na schön«, sagte Lippenholtz und lächelte selbstgefällig, als täte er Robert einen Gefallen.

»Kann ich mich drauf verlassen? Kommt er wenigstens heute abend bestimmt?« fragte Robert.

»Ja«, sagte Lippenholtz.

Robert wußte nicht, was er davon halten sollte.

»Bringen Sie ihn nach Langley zurück«, sagte Lippenholtz.

Der Beamte nahm Robert beim Arm, aber Robert machte sich los. Daraufhin winkte ihn der Beamte zu einem schwarzen Wagen, und Robert folgte ihm. Lippenholtz ging ins Haus zurück. Vermutlich, um über die Leiche zu faseln, dachte Robert.

Während der Fahrt nach Langley herrschte im Wagen eisiges Schweigen. Roberts innere Spannung ließ ein wenig nach. Dies war sein erster Zusammenstoß mit der Polizei, bei dem die Polizei grob geworden war. Aber hatte er nicht oft genug gehört, daß man dort rauh angefaßt wurde? Warum sollte er sich also darüber aufregen? Verkehrspolizisten waren auch oft so, nur handelte es sich dabei immer um weniger schwerwiegende Dinge. Er war froh, daß er zum Schluß ebenfalls massiv geworden war. Aber wohl nur, weil er wußte, daß er nichts mehr zu verlieren hatte.

»Wohin wollen Sie?« fragte der Polizist am Ortseingang von Langley.

»Langley Aeronautics«, erwiderte Robert.

Der Polizist hielt vor dem Tor des Parkplatzes, und Robert stieg aus. Er ging direkt zu seinem Wagen und fuhr nach Hause. Er wollte später Jack Nielson anrufen. Jetzt fühlte er sich nicht in der Lage, mit irgendeinem Menschen zu sprechen. Seine Sachen waren fast alle gepackt, bis auf ein paar Dinge in der Küche. Seine Koffer lagen offen im Zimmer herum, bis obenhin voll. Er sollte in zwei Tagen, am Sonntag, dem 31., ausziehen, und er hatte vorgehabt, in Philadelphia zunächst in ein Hotel zu ziehen. Damit war es jetzt aus. Mit allem war es aus, nur umziehen mußte er, weil er es mit dem Hausbesitzer so abgemacht hatte. Und nichts hielt ihn vom Ausziehen ab, höchstens die Hoffnung, Greg zu Gesicht zu bekommen, die verzweifelte Hoffnung, ihn zu erwischen, tot oder lebendig, und ihn zur Polizei zu schleppen. Denn wer würde ihm glauben, nur weil er sagte, er habe ihn gesehen? Er kippte einen Scotch mit Eis, um sein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen. Er mußte an Jennys Eltern denken. Was, hatte sie gesagt, war ihr Vater? Robert verspürte den Wunsch, ihnen zu schreiben, ihnen alles zu erklären …Nicht, um sich reinzuwaschen, sondern weil er versuchen wollte, ihnen so gut, wie es ging, zu erklären, warum alles so gekommen war. Oder waren Jennys Eltern vielleicht gar nicht daran interessiert? Zählte für sie nicht nur die Tatsache, daß Jenny tot war? Morgen war Jennys Beerdigung, hatte er in der Zeitung gelesen. In Scranton.

Robert sprang auf, als er draußen am Vorderfenster ein Kratzen vernahm. Schnell trat er neben das Fenster und spähte hinaus. Helles Sonnenlicht blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen. Dann sah er draußen bei seinem Briefkasten einen braunweißen Hund davontrotten, die Nase am Boden. Es schien ein Collie zu sein, Robert meinte, den Hund schon einmal gesehen zu haben. Ohne lange zu überlegen, öffnete er die Haustür und pfiff. Der Hund blieb stehen und drehte den Kopf. Er machte einen Schritt auf Robert zu und blieb wieder stehen, den Kopf fragend erhoben. Wieder pfiff Robert, trat auf die Veranda hinaus und hockte sich auf die Fersen.

Jetzt kam der Hund, den Kopf gesenkt, den Bauch flach an den Boden gedrückt, schwanzwedelnd auf ihn zu. Robert tätschelte ihm liebevoll den Kopf, dankbar für das Zutrauen des Tieres.

»Ein braver Hund! Hast du Hunger?« Welche Frage, dachte Robert. Unter dem langhaarigen Fell konnte man die Rippen zählen.

Robert ging in die Küche und fand im Kühlschrank noch einen kleinen Rest von einem Steak. Viel war es nicht, also machte er noch eine Dose Corned beef auf. Der Hund wartete auf der Veranda, zu schen, um hereinzukommen, und Robert trug das Fleisch auf einem Teller hinaus. Der Hund schlang es gierig hinunter, seine Flanken dehnten sich, und dann und wann blickte er zu Robert auf. Voll Mißtrauen? Voll Dankbarkeit? Robert lächelte. Er freute sich, daß das Tier fraß. Als der Teller leer war, folgte der Hund Robert ins Haus. Den ganzen Nachmittag schlief er. Wenn Robert sich führte, wachte er auf und lief ihm überall nach, als fürchtete er, Robert könne ihn verlassen. Es war eine Hündin, stellte Robert fest.

Um fünf verließ Robert das Haus, um ein paar Zeitungen zu holen, und rief den Hund nach draußen. Er fand, er dürfe das Tier nicht einsperren, falls es nach Hause zurückkehren wollte.

Die Morgenzeitungen mochte Lippenholtz daran gehindert haben, die Geschichte mit der Leiche zu drucken, doch die Abendzeitungen brachten sie auf der Titelseite. »Behörden erwarten endgültige Bestätigung von Gregory Wyncoops Zahnarzt, Dr. Thomas McQueen aus Humbert Corners, der sich im Augenblick auf Reisen befindet.« »Endgültige Bestätigung« als gäbe es Dutzende von Tatsachen, die bestätigen, daß der Tote Gregory Wyncoop war!

Dann klingelte das Telefon. Nicht mehr lange, und die Nacht brach herein. Robert betrachtete müde seine drei Wohnzimmerfenster. Ich muß wenigstens die Jalousien herunterlassen, dachte er. Und zwar sofort, denn auf der Straße hatte er, als er die Zeitungen holte, nichts gesehen, was einem Polizeiposten oder -wagen ähnlich sah. Er nahm den Hörer ab.

Lippenholtz meldete sich barsch. »Dr. McQueen kommt am Samstagnachmittag zurück. Dachte, Sie wüßten’s vielleicht gern.«

»Danke. Gut.« Bis Samstagnachmittag waren es noch fast achtundvierzig Stunden.

»Bleiben Sie heute abend zu Hause?«

»Ja«, sagte Robert. »Haben Sie einen Posten vor mein Haus gestellt?«

»Hmmm … Ja. Muß gleich kommen.«

»Danke«, sagte Robert trocken. »Hoffentlich.«

»Ich lasse wieder von mir hören«, sagte Lippenholtz und legte auf.

Robert ließ die Jalousien herunter und schaltete die Schreibtischlampe ein. Die Eier kochten. Er nahm sie vom Herd und aß sie im Stehen neben dem Spülstein. Er überlegte, ob er abends ins Kino gehen sollte, nur, um nicht im Haus bleiben zu müssen. Er fand es ekelhaft, daß er dazu gezwungen sein sollte, so ekelhaft, daß er es ließ. Er trank noch einen Scotch, diesmal pur. Er warf einen Blick zu den Wohnzimmerfenstern hinüber, dann sah er den Hund an, der den Kopf zwischen die Pfoten gelegt hatte und ihn beobachtete. Er fürchtete, daß er den ganzen Abend so dasitzen und den Hund beobachten würde, ob der etwas hörte.

»Bellst du schön, wenn du was hörst, ja?« Er bückte sich und tätschelte ihm die mageren Flanken.

Er wunderte sich, daß Jack Nielson und die Tessers noch nicht angerufen hatten, und sei es auch nur aus Neugier. War dies vielleicht der letzte Beweis für sie, die Auffindung der Leiche? Nahmen sie alle an, er sei schon im Gefängnis? Die Zeitungen, hatte Robert festgestellt, erwähnten ihn heute abend gar nicht. Die Zeitungsberichte waren knapp und handelten hauptsächlich davon, wo und durch wen die Leiche entdeckt werden war.

Robert rief die Nielsons an. Ans Telefon kam Betty, freundlich und besorgt, denn Jack hatte ihr erzählt, heute morgen habe er gar nicht gut ausgesehen. Robert beruhigte sie, er fühle sich vollkommen wohl. Dann kam Jack an den Apparat.

»Gott sei Dank, daß du noch zu Hause bist!« sagte Jack. »Als ich um fünf die Zeitung gelesen habe — von dieser Leiche, da war ich gar nicht so sicher, wo du steckst.«

»Im Gefängnis wäre ich vermutlich sicherer, wie ich schon heute morgen zu meinem Freund Lippenholtz sagte. Das ist der Kriminalbeamte, den du gesehen hast. Er hat mich heute morgen mitgenommen, damit ich mir den Toten ansehe, und dann …« Er schwieg.

»Was sagen sie den? Ist es Wyncoop?«

»Ich glaube es nicht.« Robert berichtete ihm von dem Schuß in der vergangenen Nacht. »Ich bin der Ansicht, daß das Wyncoop war«, sagte Robert müde. »Und darum glaube ich auch nicht, daß der Tote Wyncoop ist.«

»Aha. In meiner Zeitung steht nichts von dem Schuß. Kein Wunder, daß du heute morgen kreidebleich warst.«

Sie sprachen noch etwa zehn Minuten, und für Robert war das Gespräch so anstrengend, daß er in einen Sessel sank. Er lächelte ein klein wenig bitter: Betty war es nicht gelungen, ihr Mißtrauen vor ihm zu verbergen. Sie hatte den Toten nicht erwähnt. Sie hatte nichts als Gemeinplätze von sich gegeben, fand Robert, Phrasen, um kein Schweigen aufkommen zu lassen. Als Jack ihn gebeten hatte, zu ihnen zu kommen und über Nacht zu bleiben, glaubte Robert gehört zu haben, wie Betty im Hintergrund »Nein, nein!« sagte, aber ganz sicher war er nicht. Robert hatte Jack gedankt und das Angebot abgelehnt.

Das Telefon läutete.

Es war Peter Campbell. Er rief aus New York an.

»Gott sei Dank, daß du da bist«, sagte Peter. »Was ist eigentlich los bei euch da unten?«

Er wollte natürlich Näheres über den Toten wissen, und Robert berichtete, in welch fürchterlichem Zustand die Leiche war und daß Wyncoops Zahnarzt am Samstag die Identität feststellen solle. »Ich habe noch einen Trumpf in der Hand«, sagte Robert.

»Und das wäre?«

»Das einzige, was mich vor der Anklage wegen Totschlags retten kann, wäre, wenn Wyncoop noch einmal auf mich schießt. Aber sie müssen Wyncoop erwischen und beweisen, daß der Schuß aus dem Revolver stammt, der in seinem Besitz ist. Hier bei uns suchen sie nicht allzu intensiv nach ihm.« Er erzählte Peter von der Kugel in der Salatschüssel. Er stimmte sogar ein, als Peter lachte.

»Bob, kannst du nicht kommen und ein paar Tage bei uns bleiben?«

»Vielen Dank, aber ich darf die Stadt vorläufig nicht verlassen.«

»Was?« fragte Peter ungläubig.

»Meine Lage ist ziemlich übel. Ich bin froh, daß man das aus den New Yorker Zeitungsberichten nicht entnehmen kann. Glaub ja nicht, daß ich nicht gern bei euch in New York wäre. Wie geht’s Edna?«

Edna Campbell kam an den Apparat und unterhielt sich eine Weile mit ihm. Sie fragte sehr taktvoll, ob er das Mädchen, das sich umgebracht hatte, geliebt habe.

»Ich weiß es nicht«, sagte Robert. »Ich mochte sie gern, ja. Aber geliebt? Ich weiß es nicht.«

Als er aufgelegt hatte, fiel ihm ein, daß die Campbells die Voyeurgeschichte überhaupt nicht erwähnt hatten. Und gemieden hatten sie das Thema auch nicht, überlegte er, dazu waren sie zu gut mit ihm befreundet. Sie hatten es einfach nicht für so wichtig gehalten, schien es. Das war schon etwas.

Gegen halb zehn erwachte Robert aus einem kurzen Schlaf. Er schwitzte. Er lag auf der roten Couch. Er hatte etwas Unangenehmes geträumt, doch er konnte sich nicht an den Traum erinnern. Der Hund schlief noch. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Die Schreibtischlampe brannte. Das Fenster, durch das die Salatschüsselkugel gekommen war, stand noch immer vier Zoll breit offen, doch jetzt war die Jalousie heruntergezogen. Ob er das Fenster schließen sollte? Er ließ es, wie es war.

Robert trat an den Schreibtisch und betrachtete den Brief an Jennys Eltern, den er zu schreiben begonnen hatte. Er steckte noch in der Maschine.

Sehr geehrter Herr Thierolf, sehr verehrte Frau Thierolf,

ich schreibe Ihnen, um Ihnen einige Tatsachen zu berichten, einige Vorfälle, von denen ich nicht werß, ob sie Ihnen bekannt sind, da ich nicht unterrrichtet bin, was und wieviel Jenny Ihnen erzählt hat. Um mit dem Schluß zu beginnen: Sie kam am letzten Montag abends zu mir, um mir zu sagen, daß wir uns nicht mehr sehen könnten. Wir hatten uns keineswegs gestritten. Sie war nicht …

Er schüttelte den Kopf. Es las sich banal, kühl und vielleicht unterwürfig.

Da läutete schrill das Telefon; er empfand es als Schock, als geradezu physischen Schmerz. Das war vielleicht nochmals Nickie. Nickie hatte ein paar Minuten nach den Campbells angerufen. »Weißt du nun, wo Greg ist!« hatte sie gefragt. »Tot ist er, Tot, tot, tot!« Um sie zum Schweigen zu bringen, sie zu unterbrechen, hatte er laut nach Ralph gefragt. Doch Ralph, sagte sie, sei zu einem langen, langen Spaziergang aufgebrochen. Er starrte das klingelnde Telefon an und ergriff schließlich doch den Hörer.

»Ferngespräch für Robert Forester … Bitte melden, Chicago.«

»Mutter?« fragte er.

»Ja, Bob. Wie geht’s dir, mein Liebling?«

»Gut, Mutter. Ich …«

Der Hund fuhr knurrend hoch, den Kopf zum Fenster gewandt, und Robert sah, wie sich die Jalousie bewegte.

»Mutter, ich muß …« Ein Knall. Irgend etwas hatte ihn am linken Arm getroffen.

Er ließ den Hörer fallen und stieß die Lampe vom Tisch. Als sie fiel, krachte ein zweiter Schuß. Dann noch einer, und der Hund jaulte auf. Zwei weitere Schüsse fielen.

Robert lag reglos im Dunkeln. Der Hund winselte. Dann sprang Robert plötzlich auf, lief ans Fenster und zog rasch die Jalousie hoch — pechschwarze Nacht. Er rannte in die Küche, tastete auf dem Tisch nach der Taschenlampe, stieß sie herunter, fand sie dann doch und lief ans Fenster zurück. Rasch leuchtete er das Gelände ab, so weit der Strahl reichte, doch er konnte nichts Verdächtiges entdecken. Er machte die Lampe aus, packte sie wie einen Knüppel und trat mit mutigen, geräuschvollen Schritten auf die Veranda hinaus. Er sprang auf den Rasen hinunter und ging bis hinter die Sträucher beim Zaun. Er spähte auf die Straße hinaus, wo es zwar keine tiefen Gräben gab, wo sich aber jemand verstecken konnte, wenn er sich flach an den Straßenrand preßte. Dann merkte er, daß sein linker Arm blutete, und zwar ziemlich heftig. Weiter links, nach Langley zu, sah er die roten Lichter eines Wagens verschwinden. Gregs Wagen? Lohnte es sich, hinterherzufahren? Innerhalb von drei Sekunden würde er außer Sicht sein. Es war aussichtslos, ihn zu verfolgen.

Er ging ins Haus zurück und schaltete die Hauptbeleuchtung neben der Tür an. Dann sah er den Hund. Er lag auf der Seite, den Kopf zum Fenster, und hatte eine kleine Wunde zwischen den Rippen. Und er war tot.

Er nahm den Telefonhörer, legte ihn auf die Gabel zurück und starrte einen Augenblick stumpf vor sich hin. Er konnte sich nicht mehr an die Nummer der Polizeistation in Rittersville erinnern. Er hob den Hörer wieder ab.

»Die Polizeistation in Rittersville«, sagte er, als die Vermittlung sich meldete.

»Welche Abteilung, bitte? Alle Abteilungen sind im Telefonbuch verzeichnet.«

»Ich bin nicht in der Stimmung, im Telefonbuch nachzusehen«, sagte Robert. »Ich wünsche die Zentrale.« Während er wartete, starrte er interesselos auf die abgesplitterte Ecke des Schreibtisches, auf das zerbrochene Glas eines Bildes, das vor seinen Augen schief an der Wand hing. »Hallo?« sagte Robert. »Hier ist Robert Forester. Ich möchte melden, daß …«

Jemand hämmerte an seine Tür.

Die Tür stand ein wenig offen. Herein kam ein großer, grauhaariger Mann in Arbeitskleidung, den Mund halb offen vor Bestürzung. Es war Kolbe, sein nächster Nachbar.

»Ich weiß, die Schüsse. Ich rufe eben die Polizei«, murmelte Robert, als sei er betrunken.

Der Mann sah den Hund, runzelte die Stirn und beugte sich über das Tier. »Das ist ja Huxmeyers Hund«, sagte er empört.

Die schnarrende Männerstimme am Telefon sagte: »Hallo!! Reden Sie doch! Ist jemand am Apparat?«

»Ich möchte melden, daß hier mehrmals geschossen worden ist. Hier ist Robert Forester«, sagte Robert und legte den Hörer auf. Er wollte aufstehen. Dann verlor er die Besinnung.