5

Jennys Freundin war etwa zwanzig Jahre alt und hieß Susie Escham. Sie wohne im Haus neben Jenny, sagte sie, eine halbe Meile die Straße hinunter, und besuche die Handelsschule in Langley. Diese Auskünfte erteilte sie Robert unaufgefordert und ohne Umschweife. Und von diesem Augenblick an, selbst dann, als sie auf ihren Skiern den sanften Abhang zum Waldrand hinunterglitten und sich später am Handseil wieder nach oben hangelten, spürte Robert, daß Susie ihn nicht mehr aus den Augen ließ, ihn ständig beobachtete, interessiert und neugierig. Kein Zweifel, Susie kannte Greg, wußte, daß Jenny mit ihm verlobt war, und hielt es für sonderbar, daß Jenny noch einen anderen Freunde hatte. Robert fühlte sich steinalt, als Erwachsener zwischen Jugendlichen.

Er achtete darauf, Jenny gegenüber ein unpersönliches und ziemlich zurückhaltendes Verhalten an den Tag zu legen. Jenny war bester Laune, sie lachte, wenn Robert stürzte, was zweimal passierte, und sauste dann hinunter zu ihm, um ihm wieder aufzuhelfen. Sie schien eine recht gute Skiläuferin zu sein und hätte es auch mit einer schwierigeren Abfahrt als dieser aufgenommen.

»Kennen Sie Greg?« fragte Susie Robert.

Sie tranken Kaffee, den Susie in einer Thermosflasche mitgebracht hatte. Jenny hatte ihre Tasse schon geleert und stand einige Meter von ihnen entfernt, im Begriff, von neuem den Hang hinunterzufahren.

»Nein«, sagte Robert. »Ich habe ihn noch nicht kennengelernt.«

»So? Ich dachte, Sie kennen Jenny schon lange.«

Robert hatte keine Ahnung, was Jenny ihr erzählt hatte. Susies wache, dunkle Augen waren auf ihn geheftet. Sie hatte einen kleinen, vollen Mund, der gerne lächelte, und jetzt lächelte sie boshaft, mit zusammengepreßten Lippen. »Nein, noch nicht allzu lange.«

Länge, besonders, was die Zeit betraf, war relativ, fand Robert.

»Wie haben Sie Jenny kennengelernt?«

Die neugierigen Fragen belustigten und ärgerten ihn zugleich. »Durch gemeinsame Bekannte«, erwiderte er. Dann erhob er sich von der Holzbank und suchte nach seinen Zigaretten. »Darf ich Ihnen eine anbieten?«

»Ich rauche nicht, danke. Sie arbeiten in Langley«, sagte Susie.

»Ja. Bei Langley Aeronautics.« Robert sah auf seine Hosenbeine hinunter, die höchst unflott in die geliehenen Skistiefel gestopft waren. »Na, ich glaube, ich versuch’s noch mal«, sagte er und strebte dem Abfahrtsplatz zu. Jenny hangelte sich eben am Handseil herauf.

»Sie haben ein Haus in Langley?«

»Nein, eine Wohnung«, rief er über die Schulter zurück, und dann war er außer Hörweite.

Jenny nahm eine Hand vom Seil und streckte sie ihm hin. »Puh!« sagte sie atemlos, mit geröteten Wangen. »Warum haben die hier bloß keine Seiiilbahn?«

Robert unterdrückte den Wunsch, ihre Hand zu ergreifen und sie die letzten paar Schritte heraufzuziehen. »Ich glaube, ich fahre lieber doch nicht mehr runter«, sagte er und spähte stirnrunzelnd den Abhang hinab. »Nee, ich hab genug.«

»Sie werden alt«, sagte Jenny.

»Kann sein.«

»Wie alt sind Sie?«

»Im Juni werde ich dreißig.«

Sie fuhren kurz vor vier ab, Susie und Jenny in Jennys Wagen und Robert in seinem eigenen. Er folgte ihnen in einiger Entfernung zu Jennys Haus. Jenny fuhr noch ein Stückchen weiter, um Susie abzusetzen, und Robert bog erst in die Einfahrt ein, als ihr Wagen nicht mehr zu sehen war. Er hoffte, daß Jenny Susie nicht erzählt hatte, daß er bei ihr zum Abendessen blieb. Der Gruß, den er Jenny zugerufen hatte, konnte ebensogut als endgültiger Abschied für diesen Tag gelten.

Er wartete bei seinem Wagen, bis Jennys Volkswagen neben ihm hielt.

»Wir wollen Feuer machen im Kamin«, sagte Jenny.

Das Haus war angenehm warm, obwohl Jenny behauptete, es sei schrecklich undicht und sie fände dauernd Stellen, die sie mit Glaswolle und Schutzstreifen abdichten müsse. Sie machten Feuer im Wohnzimmerkamin, und Robert ging hinaus, um noch mehr Holz zu holen. Jenny bereitete derweil Huhn mit Klößen vor. Im Wohnzimmer tranken beide einen Manhattan und schauten die Bilder in Jennys Fotoalbum an. Es waren meistens Familienfotos, aber auch einige Bilder von Jennys früheren Freunden.

»Das ist der, den ich so gerne mochte«, sagte Jenny und wies auf einen kräftigen jungen Mann im Smoking.

Robert fand ihn weder eindrucksvoll noch interessant. »Der, den Ihre Eltern nicht mochten?«

»Ja. Heute bin ich froh darum. Er hat letztes Jahr irgendeine dumme Pute geheiratet. Ich glaube, ich war einfach nur verknallt in ihn.«

Noch mehr Bilder. Jenny und ihr kleiner Bruder im Badeanzug im Sommerhaus der Familie in der Nähe von Scranton. Jennys Bruder Eddie, der mit zwölf Jahren gestorben war.

»Eddie hat sehr gut zeichnen können. Ich glaube, er wäre vielleicht Maler geworden«, sagte Jenny. »Ich hab noch ein paar von seinen Skizzen.«

Robert warf ihr einen Blick zu. Ihr Gesicht war traurig, doch in ihren Augen standen keine Tränen. »Sie haben von einem Mann gesprochen, der bei Ihren Eltern zu Besuch war, bevor Ihr Bruder krank wurde — wie sah der aus?«

»Ach …« Jenny starrte ins Leere. »Er war ein ganz gewöhnlicher Mann«, sagte sie. »Braunes Haar, braune Augen. Ungefähr fünfundvierzig. Ein bißchen dick. Er hatte falsche Zähne.«

Robert lächelte; er fühlte sich seltsam erleichtert. Der Mann sah dem Bruder Tod aus seinem Traum nicht im geringsten ähnlich.

»Warum?« fragte Jenny.

»Nun, ja … Ich habe manchmal einen seltsamen Traum. Ich gehe zu einem Mann, der ganz allein an einem Tisch sitzt, ein Mann im Priestergewand. Ich sage: ›Sind Sie Bruder Green?‹ oder auch ›Bruder Smith‹ oder ›Bruder Jones‹ oder so. Und dann sieht er lächelnd zu mir auf und sagt: ›Nein, ich bin Bruder Tod.‹«

»Und dann?«

»Dann wache ich auf.«

»Und wie sieht er aus?«

»Er hat glattes, schwarzes Haar, an den Schläfen leicht ergraut. Auf einer Seite hat er einen Goldzahn. Außerdem eine schwarzgeränderte Brille.« Robert zuckte die Achseln. Er hätte noch mehr sagen können, hätte ein genaues Bild von Bruder Tod zeichnen können, wenn er ein Blatt Papier gehabt hätte. Er wandte den Blick von Jennys gespanntem Gesicht ab.

»Und dann bekommen Sie Depressionen?« wollte sie wissen.

»Ja, aber nicht lange. Höchstens zwei Minuten«, sagte Robert lächelnd. Er stand auf. »Kann ich Ihnen etwas in der Küche helfen?«

»Nein, danke. Ich glaube wirklich, daß der Tod so kommt, als Person. Ich glaube, wenn man diese Person trifft oder sieht, weiß man sofort Bescheid, weil es einen ja selbst betrifft.«

Robert wollte schon sagen: »Das ist doch großer Unsinn«, aber er unterließ es. Jenny nahm ihre Gedanken sehr ernst, das lag auf der Hand. »Ich habe das Obergeschoß noch gar nicht gesehen. Würden Sie es mir zeigen?«

Oben gruppierten sich vier quadratische Räume und ein Bad um den Flur. Die Zimmer waren spärlich, doch freundlich möbliert, und überall standen Topfblumen. Manche hatten ihren Platz auf vier Fuß hohen viktorianischen Blumenständern.

»Haben Sie einen Schraubenzieher?« fragte Robert.

»Natürlich. Wozu?«

Er deutete auf eine offenstehende Schranktür, die er vergeblich zu schließen versucht hatte. »Das hab ich in zwei Minuten repariert. Und auch das Fenster im Schlafzimmer. Wenn ich den Riegel in Ordnung bringe, brauchen Sie ihn nicht mehr mit einem Buch festzuklemmen.«

Sie ging in die Küche, um den Schraubenzieher zu holen, und brachte auch gleich einen Hammer und eine Schachtel mit Schrauben mit.

Nicht ganz eine Stunde später, als Robert nach unten kam, hatte er zwei Türriegel und den Fensterriegel repariert und ein gefährlich schiefes Glasregal im Bad heruntergenommen und an der hölzernen Wandtäfelung unter der Hausapotheke befestigt. Jenny ging hinauf, um sein Werk zu bewundern.

»Du lieber Gott, dazu hätte ich eine ganze Woche gebraucht«, sagte sie.

Robert stellte fest, daß sie sich parfümiert hatte. »Ich hab ein bißchen Wein mitgebracht«, sagte er. Er zog seine Überschuhe an und ging zum Wagen, um die Flasche zu holen. Es war glücklicherweise Weißwein, der zum Huhn paßte.

Sie hatten kaum fünf Minuten bei Tisch gesessen, als ein Wagen die Einfahrt herauf kam.

»Himmel, wer überfällt uns denn da?« fragte Jenny und ging zur Tür.

Bremsen quietschten, eine Tür schlug zu.

»Greg, du hast doch versprochen…« sagte Jenny, und Robert erhob sich.

Greg kam mit finsterer Miene zur Tür herein.

»Greg, dies ist …dies ist …«

»Robert Forester«, stellte Robert sich vor.

»Freut mich.« Gregs Blick wanderte zum Tisch, zu Jenny, dann wieder zu Robert. »Ich dachte, ich müßte mal nach dir sehen.«

»Also schön, das hast du ja nun. Wir sind beim Essen, Greg.« Jenny sah todunglücklich aus. »Könntest du nicht wieder gehen? Nur diesmal?«

Das Verkehrteste, was sie sagen konnte, stellte Robert fest, denn in Gregs Augen blitzte es böse auf.

»Ich will euch zwar nicht beim Essen stören, aber ich sehe auch nicht ein, weshalb ich gehen soll. Warum kann ich nicht im Wohnzimmer warten?«

Jenny machte eine resignierte Geste und wandte sich an Robert.

Greg stapfte auf Socken ins Wohnzimmer hinüber. Seine Schuhe hatte er anscheinend mit den Überschuhen abgestreift.

»Greg, würdest du bitte oben warten?« rief ihm Jenny von der Küche nach.

Robert lächelte nervös. Sie kam ihm vor wie eine Schwester, die ihren Bruder um einen Gefallen bittet.

Greg war ein kräftiger Bursche, über eins achtzig groß. Robert war gar nicht wohl bei dem Gedanken an eine Rauferei mit ihm.

»Nein«, sagte Greg, und Robert hörte Papier rascheln, als er sich aufs Sofa setzte.

Wenigstens konnte Greg sie in der Küche nicht beobachten. Jenny nahm wieder Platz, und auch Robert setzte sich. Sie hatte Tränen in den Augen. Robert zuckte die Achseln und lächelte ihr zu. Dann nahm er die Gabel und forderte sie Stumm auf, seinem Beispiel zu folgen. Gehorsam nahm sie die Gabel, legte sie aber gleich wieder hin. Sie ging ins Wohnzimmer und legte eine Schallplatte auf. Robert erhob sich, als sie an den Tisch zurückkam.

»Soll ich nicht lieber gehen?« fragte er flüsternd.

»Nein, auf keinen Fall.«

Sie aßen in kleinen Bissen, aber entschlossen. Zur Musik des Schwanensee-Balletts, die Robert in der gespannten Atmosphäre geradezu unwirklich vorkam, doch Jenny nahm alles so ernst, daß er nicht lächeln konnte. Er zog sein Taschentuch heraus und reichte es ihr.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte er beruhigend. »Ich gehe gleich. Sie müssen mich nicht wiedersehen.« Er nahm sie am Handgelenk, drückte es tröstend und ließ es wieder los, doch sie hielt seine Hand fest.

»Er ist so gemein und unfair. Daran ist Susie schuld, das weiß ich bestimmt. Diese verdammte Susie!«

»Aber das ist doch nicht so tragisch.« Er wollte ihr seine Hand entziehen, doch es gelang ihm erst beim zweiten Versuch.

Der Kaffee schien fertig zu sein, also stand er auf und stellte die Maschine ab. Jenny hatte sich über ihren Teller gebeugt. Er berührte ihre Schulter leise. »Ich gehe jetzt«, sagte er, und dann sah er, daß Greg in der Tür stand. Er hatte den Plattenspieler abgestellt.

»Mr… Mr.….«

»Forester«, sagte Robert.

»Gewöhnlich pflege ich bei Leuten nicht einzudringen, aber in diesem Fall … Ich bin nämlich zufällig mit Jenny verlobt.«

»Ja, das weiß ich«, sagte Robert.

Jenny wandte sich unvermittelt um und sagte: »Greg, mach bitte keine Szene!«

»Nein, mach ich nicht, keine Sorge«, sagte Greg, keuchend vor Wut. »Aber glaubst du nicht, daß du mir eine Erklärung schuldig bist?«

»Eine Erklärung? Wofür?«

»Na ja … Ist er der Grund, warum du mich nicht mehr sehen willst? Und nicht heiraten willst?«

»Greg, jetzt wird es aber langsam peinlich«, sagte Jenny. »Das ist mein Haus, und du hast kein Recht …«

»Ich habe das Recht auf eine Erklärung!«

»Greg, ich habe keinerlei Absichten auf Jenny«, warf Robert ein.

»So? Ach nein!«

»Und ich bin sicher, Jenny hat auch keine auf mich«, fuhr Robert fort. »Ich weiß zwar nicht, was man Ihnen erzählt hat, aber …«

Gregs Adamsapfel hüpfte auf und nieder. »Wie lange kennst du ihn schon, Jenny?«

Jenny sah Greg offen an und sagte: »Diese Frage möchte ich lieber nicht beantworten, Greg.«

»Na schön. Susie hat mir genug erzählt«, sagte Greg.

»Das kann ich nicht ändern. Ich habe Susie nichts erzählt. Ich weiß nicht, woher sie ihre Weisheit hat, aber ich finde, sie sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.« Jenny saß immer noch auf ihrem Stuhl. Ihre Hand umklammerte die Lehne.

»Genau das tue ich jetzt«, sagte Greg. »Ich kümmere mich um meine Angelegenheiten. Ich bin der Ansicht, ein Mädchen, das verlobt ist, hat sich nicht heimlich mit einem anderen Mann zu treffen, in den sie verknallt ist oder angeblich verknallt ist. Zumindest nicht, ohne mir was davon zu sagen.«

»Wer sagt das? Susie? Susie habe ich kein Wort erzählt.«

»Susie hat vermutlich Augen im Kopf.«

Robert strich sich mit der Hand über die Stirn. »Greg, was Susie sagt, stimmt nicht, und ich verspreche Ihnen in die Hand, ich werde Jenny nicht wiedersehen, wenn das soviel Ärger macht.«

»Wenn es soviel Ärger macht!«

Robert holte seinen Mantel aus dem Schrank.

»Woher sind Sie, Mr. Forester? Woher kommen Sie?«

»Ich wohne in Langley«, erwiderte Robert.

»Da sind Sie ja ziemlich weit von zu Hause.«

»Greg, dein Ton paßt mir gar nicht«, sagte Jenny. »Du beleidigst meinen Gast.«

»Ich hab das Recht zu wissen, warum meine Verlobte sich wochenlang weigert, mich zu sehen und die Verlobung lösen will«, gab Greg zurück.

»Ich bin jedenfalls nicht der Grund«, sagte Robert kurz, während er seine Überschuhe anzog. »Auf Wiedersehen, Jenny. Und vielen Dank. Auf Wiedersehen«, sagte er zu Greg.

Jenny war aufgestanden. »Ich bitte um Entschuldigung — für einen unhöflichen Freund. Es tut mir wirklich sehr leid, Robert.«

»Schon gut«, sagte Robert lächelnd und ging hinaus. Durch die geschlossene Tür hörte er noch Gregs Stimme: »Also los, wer ist das eigentlich?«

Wieder ein Schnitzer, dachte Robert, als er losfuhr. Aber vielleicht war es ganz gut so. Greg würde Jenny jetzt die Leviten lesen, und sie würde ihn nicht mehr treffen und anrufen können. Robert machte sich Vorwürfe, daß er sich überhaupt darauf eingelassen hatte, das Mädchen heute zu treffen. Er hätte entschieden »Nein, danke« sagen sollen, als sie den Skiausflug vorschlug. Greg hatte ein junges, aber muffiges Gesicht — eine bucklige, kräftige Nase, dicke, schwarze Brauen, große, knochige Hände. Er hatte den grauen Glencheckanzug angehabt, in dem Robert ihn sch on früher gesehen hatte (mit einem Fettfleck auf dem Revers, wie Robert heute bemerkt hatte), und zwischen Hosenbund und Weste hatte sein Hemd hervorgeschaut. Möglicherweise floß eine gehörige Portion irischen Blutes in seinen Adern.