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»Hallo«, sagte sie. »Geht es Ihnen heute besser?«

»Wer ist denn da?«

»Jenny Thierolf«, sagte die ruhige, freundliche Stimme. »Ich dachte nur, ich rufe Sie mal an und sage Ihnen guten Tag. Und frage, wie es Ihnen geht. Haben Sie ein schönes Weihnachtsfest verbracht?«

»Sehr schön, danke. Sie auch, hoffe ich.«

»Ja, doch. Mit meinen und Gregs Eltern. Es war sehr gemütlich.« — »Nun, das soll Weihnachten ja auch sein. Waren Sie eingeschneit?«

»War? Ich bin’s noch. Leben Sie auf dem Mond?«

Er lachte. »In der Stadt. Hier ist wohl der Schnee nicht so schlimm.«

»Morgen früh soll ich ausgepflügt werden. Acht Dollar! Und schon zum drittenmal. Was für ein Winter! Das einzige Gute ist, daß meine Telefonkabel nicht runtergekommen sind, aber dafür hat’s neulich nachts meine elektrischen Leitungen erwischt.«

Schweigen. Ihm fiel nichts zu sagen ein. Ein paar Sekunden verweilten seine Gedanken bei der Tatsache, daß er ihr zu Weihnachten keine Blumen geschickt hatte. Fast hätte er es ja getan, doch dann hatte er es sich anders überlegt. Er hatte ihr überhaupt nichts geschickt.

»Sie hören sich nicht mehr so deprimiert an«, sagte sie.

»Mir geht es auch besser.«

»Ich dachte, vielleicht haben Sie diese Woche mal Lust, zum Abendessen zu kommen. Wie wär’s mit Mittwoch?«

»Vielen Dank, aber … Kann ich nicht lieber Sie einladen? Gehen Sie nicht gerne aus?«

»Doch, furchtbar gerne.«

»Hier in der Nähe gibt’s zwei recht gute Restaurants. Kennen Sie das Jasserine Chains in Cromwell?«

»Jasserine Chains?«

»So heißt das Hotel. Mit einem Restaurant dabei. Ich habe gehört, es soll sehr gut sein. Wollen wir uns da treffen?«

»Gern.«

»Um sieben?«

»Schön, um sieben«, sagte sie.

Für kurze Zeit versetzte ihn dieser Anruf in bessere Stimmung, doch dann kam ihm ein Gedanke: Sie würde mit Greg erscheinen, und Greg würde ihn bei der Polizei anzeigen. Doch er ließ diesen Gedanken sofort wieder fallen. Das Mädchen war einfach nicht der Typ dafür. Er hatte das sichere Gefühl, daß sie nicht arglistig war. Es stimmte ihn zufrieden, daß er spontan vorgeschlagen hatte, sich mit ihr im Restaurant zu treffen, statt sie abzuholen. Das machte ihre Verabredung etwas unverbindlicher.

Am Mittwoch abend fiel Schneeregen auf die zehn Tage alte Schneedecke und machte die Straßen glatt und gefährlich. Robert erwartete mit Bestimmtheit, daß das Mädchen sich verspäten oder anrufen würde, daß sie überhaupt nicht käme, doch sie rief nicht an und war pünktlich um sieben im Jasserine Chains. Robert hatte in der Halle auf sie gewartet, die mit ihrem mahagonigetäfelten Treppenhaus, den Teppichen, den Spiegeln und Gemälden wie die Diele eines Privathauses wirkte. Jenny hatte Gummistiefel angezogen und trug ihre hochhackigen Pumps in der Hand. Sie hielt sich an seinem Arm fest, als sie vor der Garderobe die Schuhe wechselte.

»Diese Dinger sind einfach gräääßlich«, sagte sie entschuldigend.

Sie fanden einen Tisch in angenehmer Entfernung vom Kamin. Als er einen Cocktail vorschlug, bat sie um einen Manhattan. Sie trug ein blau-schwarz gemustertes Kleid, und Robert fand es ein wenig zu alt und streng für sie. Ihre Ohrringe waren Halbmonde aus Silber. In den ersten fünfzehn Minuten war ihre Konversation nichtssagend. (»Oh, wenn es einen Wagen gibt, dem Matsch nichts ausmacht, dann den Volkswagen«, sagte Jenny.) Robert fühlte sich unbehaglich, weil seine Haare so stark rochen; er hatte sie sich kurz vorher schneiden lassen, und der Friseur hatte ihn, ehe Robert es verhindern konnte, mit Haarwasser besprüht. Die Augen des Mädchens ruhten auf ihm, starrten ihn an, doch ihre Gedanken konnte Robert nicht erraten, und ihr Geplauder gab ihm keinerlei Anhaltspunkte. Sie erwähnte beiläufig ihre Familie in Scranton, ihren altmodischen Vater, der nicht einverstanden gewesen war, daß sie ein College besuchte, und darauf bestand, daß sie wenigstens außer Soziologie noch Handelskurse belegte. Sie fragte nach seinen Schulen. Er hatte die Universität von Colorado besucht. Er hatte, wie er ihr sagte, sein Studium aus finanziellen Gründen erst mit vierundzwanzig Jahren beendet, obwohl der wahre Grund eine Depression gewesen war, die ihn mit neunzehn gepackt hatte, ein Jahr, nachdem sich seine Mutter wieder verheiratete. Er war völlig zusammengeklappt, obwohl er im Grunde mit der Wiederverheiratung seiner Mutter vollkommen einverstanden gewesen war, und auch ihren neuen Ehemann schätzte. Roberts Vater hatte viel zuviel getrunken, nie mit Geld umgehen können, und lediglich die Engelsgeduld seiner Mutter hatte die Familie — sie waren nur zu dritt, er hatte keine Geschwister — zusammengehalten, bis der Vater bei einem Autounfall ums Leben kam. Robert war damals siebzehn gewesen. Doch von all dem erwähnte er Jenny gegenüber nichts.

»Wie lange werden Sie in Langley bleiben?« fragte sie.

»Ich weiß es noch nicht. Warum?«

»Weil Sie aussehen, als würden Sie es nicht allzu lange dort aushalten, als würden Sie sich in einer Großstadt wohler fühlen.«

Robert schenkte ihr Wein nach, bis ihr Glas halb voll war. Er entdeckte, daß er die goldenen Manschettenknöpfe trug, die Nickie ihm zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte, und zog die Jackenärmel tiefer herab. »Wo wollen Sie und Greg wohnen, wenn Sie verheiratet sind?«

»Ach, Greg möchte nach Trenton, aus geschäftlichen Gründen. Die Stadt ist ja häßlich, wenn man sie mit Princeton vergleicht, aber Princeton ist so teuer. Er hat in Trenton schon ein Haus gefunden. Wir sollen es am ersten Juni übernehmen.«

»Gefällt Ihnen das Haus?«

Sie zögerte lange mit der Antwort, dann sagte sie ernst: »Ich glaube, letzten Endes läuft es darauf hinaus, daß ich mir gar nicht klar bin, ob ich Greg überhaupt heiraten soll.«

»So? Und warum nicht?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn genug liebe.«

Robert fiel keine passende Bemerkung ein. Sie war mit dem Essen fertig.

»Ich werde ihn nicht heiraten«, sagte sie.

»Wann haben Sie sich denn dazu entschlossen?«

»Kurz nach Weihnachten.«

Sie rollte den brennenden Stummel ihrer Zigarette im Aschenbecher hin und her

Der Ober kam, um den Tisch abzuräumen und ihre Bestellung für das Dessert entgegenzunehmen. Robert wollte keinen Nachtisch, doch der hausgemachte Apfelkuchen war auf der Speisekarte wärmstens empfohlen, und Jenny entschied sich auf seinen Vorschlag hin, ein Stück zu probieren. Er bestellte also zwei Stück, dazu Kaffee.

»Ich würde Ihnen raten, die Hochzeit erst einmal ein paar Monate zu verschieben«, sagte er. »Vielleicht stört es Sie nur, daß Greg Sie allzusehr bedrängt.«

Ihre schmalen Brauen zogen sich leicht zusammen.

»Aufschieben hilft gar nichts. Ich bin meiner Sache völlig sicher.«

»Haben Sie schon mit Greg darüber gesprochen?«

»Ja, aber er glaubt, ich überleg mir’s doch wieder anders. Zwischen Weihnachten und Neujahr hab ich mit ihm gesprochen.«

Apfelkuchen und Kaffee kamen. Robert bestellte zwei Courvoisier. Letzten Endes wird sie Greg doch heiraten, dachte er.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?« sagte Jenny. — »Warum nicht? Was möchten Sie denn wissen?«

»Sind Sie wegen einer Frau aus New York weggegangen?«

Robert sah sie an. Er hatte seine Züge völlig in der Gewalt. »Nein. Wegen einer Unstimmigkeit im Büro. Außerdem sollte das Haus, in dem ich wohnte, abgerissen werden.«

Sie stellte keine weiteren Fragen. Er spürte, sie wußte, daß er gelogen hatte. Schweigend nippten sie an ihrem Cognac.

»Können wir bald gehen?« fragte sie.

»Aber gewiß. Gerne.« Er sah sich nach dem Ober um.

Robert bezahlte die Rechnung an der Tür und ging dann an den Tisch zurück, um ein Trinkgeld hinzulegen.

Das Mädchen stand an der Garderobe und zog die Stiefel an. Er half ihr in den Mantel.

»Fahren wir noch ein Stück spazieren?« fragte sie.

»Von mir aus«, sagte er überrascht. »In Ihrem oder in meinem Wagen?«

»In Ihrem.«

Robert wußte nicht, was er von ihrem Einfall halten sollte. Er sah, daß ihr Wagen auf dem Hotelparkplatz stand. Er hielt ihr die Wagentür auf. Er fuhr ein Oldsmobile-Cabriolet, das er ungefähr ein Jahr lang zusammen mit Nickie gehabt hatte, aber Nickie hatte es nicht gewollt, als sie sich trennten. Ralph Jurgen besaß zwei Wagen.

»Wohin wollen wir denn?« fragte er.

»Das ist mir gleich.«

Die einzigen gründlich von Schnee und Eis geräumten Straßen waren die großen Highways, und die waren eintönig. Er drehte die Heizung weit auf, denn das Mädchen hatte sich ganz in ihren Mantel verkrochen. Sie blickte starr geradeaus durch die Windschutzscheibe. Er beschloß, kein Gespräch anzufangen, doch nach wenigen Minuten fühlte er sich unbehaglich. Warum wollte sie mit ihm durch eine solche Nacht fahren — der Schneeregen hatte sich inzwischen in kalten Sprühregen verwandelt —, ohne Sinn, ohne Ziel? Was führte sie im Schilde? Wollte sie ihn dazu bringen, irgendwo zu parken und zudringlich zu werden? Bat ein Mädchen einen Mann, der sich wie ein Voyeur verhalten hat, sie in seinem Auto spazierenzufahren? Robert fühlte sich plötzlich elend und bedrückt. »Das Wetter ist zu schlecht zum Spazierenfahren«, sagte er und bog in eine Tankstelle ein. »Wollen wir nicht lieber umkehren?« Er wendete und fuhr zurück in die Richtung, wo das Restaurant lag.

»Mir macht das Wetter nichts aus. Manchmal habe ich das Gefühl, ich muß einfach herumfahren, irgendwohin.« Sie starrte noch immer durch die Windschutzscheibe. »Manchmal, wenn ich dieses Gefühl habe, mache ich einen langen Spaziergang.«

Roberts Verstimmung, seine Abwehr, ließ langsam nach. Das Mädchen dachte überhaupt nicht an ihn. Sie war ausschließlich in ihre Gedanken versunken. Er empfand plötzlich ein seltsames Mitgefühl für sie, eine Verbundenheit; oft genug war er in der gleichen Stimmung gewesen. »Der Wirklichkeit entrückt«, hatte Nickie das genannt.

Sie erreichten den Parkplatz des Restaurants, und das Mädchen öffnete die Tür, sobald der Wagen hielt.

Er stieg ebenfalls aus. »Finden Sie den Weg zurück? Haben Sie genug Benzin?«

»Aber ja.« Ihre Stimme klang ein wenig traurig und verloren.

Robert war enttäuscht über den Ausklang des Abends. Er hatte gehofft, sie würde fröhlich und gesprächig sein, und hatte sich vorgestellt, daß sie noch einen zweiten Cognac trinken und am Tisch sitzen bleiben würden bis elf oder so. Jetzt war es kaum zehn. »Vielen Dank für den Abend«, sagte er.

Sie schien ihn nicht gehört zu haben. Sie stieg in ihren Wagen.

»Jenny, wenn ich heute abend etwas gesagt haben sollte, was Sie gekränkt hat, dann bitte ich um Verzeihung. Ich hätte nicht von Greg sprechen sollen. Das geht mich nichts an.«

»Nein«, sagte sie. »Sie haben mich nicht gekränkt, wirklich nicht. Ich bringe nur manchmal kein Wort heraus. Es ist schrecklich, ich weiß, aber ich kann’s nicht ändern.«

Er lächelte. »Macht nichts.«

»Kommen Sie mich mal besuchen?«

»Ja, wenn Sie möchten. Vielleicht einmal, wenn Greg da ist? Sie könnten mich als Freund von Rita vorstellen?«

»Ich sehe Greg erst am zwanzigsten Januar wieder. Wir haben es so ausgemacht. Da hat er Geburtstag.«

»Na gut, also dann nach dem Zwanzigsten.«

»Warum nicht nächste Woche?« fragte sie, und unwillkürlich breitete sich ein neues Lächeln über ihr Gesicht. »Warum nicht Montag? Oder Sonntag? Ich kann nämlich kochen, wissen Sie?«

Als ob er das nicht wüßte! Robert wollte ihr Haus nicht betreten, wenn sie allein war. Er sah das Verhalten des Mädchens plötzlich in einem neuen Licht. Er sagte mit Mühe, aber in bestimmtem Ton: »Ich möchte lieber warten, bis … bis nach dem Zwanzigsten.«

»Seien Sie doch nicht so ein Dickkopf, ich lade Sie ein! Oder sind Sie so beschäftigt?«

»Nein. Nein, ich bin nicht so beschäftigt.«

»Dann kommen Sie am Sonntag zum Abendessen. So gegen fünf. Ich gehe nachmittags mit einer Freundin Skilaufen, aber um vier bin ich bestimmt wieder zurück. Laufen Sie auch Ski?«

»Früher. Aber jetzt habe ich keine Skier mehr.«

»Man kann dort welche leihen, wo wir hin wollen. Kommen Sie doch mit am Sonntag. Wissen Sie, wo Vareckville liegt?«

Er wußte es nicht, aber sie erklärte es ihm, und sie erklärte ihm ebenfalls den Weg zur Skiliftstation vor der Stadt. Sie schien so glücklich bei der Aussicht, er könne mitkommen, daß Robert es nicht über sich brachte, nein zu sagen. Sie venabredeten, daß er sie um zwei Uhr mittags treffen und hinterher bei ihr zu Hause zu Abend essen sollte.

In dieser Nacht schlief Robert schlecht. Vielleicht war es der Kaffee oder der Cognac. Oder der ganze Abend. Er hatte die letzten Second-Tabletten verbraucht, die er aus New York mitgebracht hatte, und sich nicht die Mühe gemacht, in Langley einen Arzt zu suchen, der ihm ein neues Rezept ausschrieb. Er hatte gedacht, er brauchte keine Schlaftabletten mehr, aber offensichtlich hatte er sich geirrt.