24
Der letzte Bus nach Trenton ging um Viertel nach sieben. Von Trenton aus gedachte Greg den Zug nach New York zu nehmen. In New York war es noch immer am besten, sich zu verstecken, in Nickies Nähe, falls er wieder Geld brauchte. Er wollte sich ein bißchen ausruhen und in Ruhe seinen nächsten Schachzug überlegen. Er hatte eine dicke Beule am Kopf, nur eine kleine Schürfwunde blutete ein wenig, aber auf sein Hemd war kein Blut getropft. Greg wünschte sich nichts sehnlicher als ein Bett zum Schlafen. Er hatte noch eine Viertelstunde Zeit bis zur Abfahrt des Busses, und so ging er in das Kaffeehaus gegenüber der Bushaltestelle. Das war sicherer, als im Busbahnhof im Wartesaal auf einer Bank zu sitzen, fand er, obwohl er bezweifelte, daß Forester schon jetzt die Polizei benachrichtigt hatte. Der freundliche Nachbar mit dem Gewehr hatte ihn bestimmt daran gehindert.
Greg grinste vor sich hin, als er an all die freundlichen Nachbarn von Forester dachte. Am Samstagabend zum Beispiel hatte er ohne die geringste Schwierigkeit herausgebracht, wo Forester steckte. Er hatte einfach einen von Foresters Nachbarn angerufen, dessen Namen ihm im Gedächtnis haftengeblieben war, weil er ihn auf dem Briefkasten gelesen hatte. Huxmeyer. Greg hatte behauptet, in der Nähe zu wohnen, und gefragt, ob Forester noch zu Hause sei. Mrs. Huxmeyer hatte ihm nur allzu bereitwillig berichtet — und zwar ohne zu fragen, wer er war —, daß Forester an diesem Morgen etwa um elf in seinem Wagen vorbeigefahren sei, hinter dem Auto des Doktors her. Ja, Dr. Knott aus Rittersville, der Arzt, der so verrückt gewesen war, die ganze Nacht bei Forester zu bleiben. Und sie hoffe, Forester werde nicht mehr zurückkommen, denn am Abend zuvor hatte sie gesehen, daß seine Sachen alle schon gepackt waren. Es schien also, daß er verreiste — auf Nimmerwiedersehen, wie sie hoffte. Die Zeitungen hatten heute berichtet, daß der Doktor noch immer durchhielt. Greg bedauerte, den alten Mann getroffen zu haben. Nach dem Schuß hatte er eigentlich warten wollen, bis Forester herunterkam, doch der Lärm, den der Revolverschuß in dieser Gegend, wo so viele Wohnhäuser standen, verursacht hatte, hatte ihm Angst eingejagt, und er war sofort davongestürzt.
Als Gregs Blick in den Spiegel hinter dem Kucheregal fiel, erlosch sein schwaches Grinsen. Er tauchte eine Papierserviette in sein Wasserglas und wischte sich einen Schmutzfleck von der Wange. Unter seinen Augen lagen tiefe Schatten. Er brauchte dringend eine Rasur. Dann fiel ihm mit Bedauern ein, daß er an der Stelle vorbeigelaufen war, wo er, nicht weit von Foresters Haus, seinen Koffer abgestellt hatte. Er hatte sich damit nicht belasten wollen. Nun ja, Wertsachen waren nicht drin, nur ein billiger Rasierapparat, Zahnbürste und ein paar schmutzige Hemden. Seinen Revolver hatte er noch. Er aß eine Bulette. Es war eine scheußliche, kleine Bulette, mit wenig Fleisch und in ranzigem Fett gebraten, doch er schüttete Ströme von Ketchup darüber und schlang sie gierig hinunter. Dann legte er fünfzig Cent auf den Tisch, damit das Mädchen hinter der Theke ihn nicht noch einmal aus der Nähe zu sehen bekam, und machte sich davon zum Busbahnhof.
Der Bus würde kaum halb voll werden, stellte er fest. Die Fahrkarte hatte er noch nicht gekauft, das konnte er beim Fahrer erledigen. Greg setzte eben den Fuß auf die unterste Stufe des Wagens, da spürte er eine Hand auf der Schulter. Greg sah sich um und erblickte einen Mann in blauem Anzug und Hut, und unmittelbar hinter sich einen zweiten, der ihn ebenso durchdringend anblickte. Eine Sekunde wurde ihm weich in den Knien, dann hatte er sich wieder in der Gewalt.
»Bitte, nach Ihnen«, sagte er und winkte dem Mann, als erster einzusteigen.
»Wyncoop?« fragte der Mann, dessen Hand noch immer auf Gregs Schulter lag.
»Das ist er, das ist er«, sagte der Mann hinter ihm.
Greg blickte nach rechts und nach links. Sinnlos, jetzt wegzurennen oder den Revolver zu ziehen. Er spürte, daß ihm Tränen der Verzweiflung in die Augen traten, daß ihm ein Schrei in der Kehle aufstieg.
»Kein Widerstand, Wyncoop. Kommen Sie mit.« Die Hand glitt hinunter zu seinem Arm und umspannte ihn mit festem Griff.
Der andere Mann folgte ihnen, die Hand in der Jackentasche. Sie gingen zu einem schwarzen Wagen, der an einem gelbgestrichenen Bordstein geparkt war. Hier verlangten sie seinen Revolver. Greg holte ihn folgsam aus der Tasche und händigte ihn aus. Sie machten ihm ein Zeichen, einzusteigen. Mit dem zweiten Mann zusammen nahm er im Fond Platz. Nun gesellte sich ein dritter zu ihnen, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, und setzte sich vorne neben den Fahrer. Und dann fingen sie an, über ihn zu sprechen, als wäre er ein Tier, das sie eingefangen hatten. Der Fahrer lachte. Sie erwähnten einen Mann, der Lippenholtz hieß.
»Sieht ja wohl so aus, als ob der Doktor stirbt«, sagte der eine. — »Hm, hm.«
Dann drehte sich der Mann neben dem Fahrer halb herum und starrte Greg mehrere Sekunden lang schweigend und ruhig lächelnd an.
Greg starrte zurück. Er würde schon noch zu Worte kommen. Er hatte eine ganze Menge zu sagen.
»Sie wollten nach New York, Wyncoop?«
»Ja«, sagte Greg.
»Und was gibt’s in New York?« in freundlich-ironischem Ton.
»Freunde. ‘ne Menge«, erwiderte Greg.
»Wer denn?«
Greg antwortete nicht.
Greg war noch nie auf der Polizeiwache von Langley gewesen; er konnte sich nicht einmal erinnern, je daran vorbeigefahren zu sein. Sie führten ihn hinein, vorbei an einem Polizisten, der im Vorraum hinter einem Tisch saß, in ein Zimmer linker Hand, wo mehrere Beamte in Hemdsärmeln hinter einem langen Schaltertisch saßen.
»Gregory Wyncoop«, sagte einer von Gregs Begleitern. »Eben im Busbahnhof erwischt.«
Alle Köpfe hoben sich. Die Beamten sahen ihn neugierig an.
»Gebt den Jungens in Rittersville Bescheid«, sagte ein anderer Kriminalbeamter. »Das muß Lippenholtz erfahren.«
Dann trug einer der Beamten hinter dem Tisch ein riesiges Buch zu einem der Schreibtische im Hintergrund. Greg wurde nach Alter, Adresse, Arbeitsplatz und Arbeitgeber gefragt. Zwei der Beamten in Zivil blieben und hörten zu. Der dritte ging hinaus, als fühlte er sich gelangweilt. Dann wurde Greg bedeutet, sich auf eine Bank zu setzen, und einer der Beamten begann ihn auszufragen. Wo war er während der letzten Tage gewesen? In einem Hotel in Plympton. Das war ein Ort etwa fünfzehn Meilen von Langley. Hatte er am vergangenen Abend in das Haus des Doktors geschossen? Ja. Hatte er in Foresters Haus in Langley geschossen? Ja. Beide Male? Ja. Greg antwortete stur und nickte zu jedem ja. Wo hatte er dort gewohnt? In einem Hotel. In welchem Hotel? Greg war gelangweilt, die Fragen waren ihm lästig. Er wand sich unter ihnen, wie er sich früher als Kind in der Schule gewunden hatte, wenn er nach den fünf wichtigsten Flüssen von Südamerika oder den wichtigsten Gebirgszügen der Vereinigten Staaten gefragt wurde. Seine Stimme klang monoton, gar nicht wie seine eigene.
»Kann ich einen Drink haben?« fragte Greg. »Ich brauch einen, dann geht’s besser.«
Der Mann, der ihn vernahm, lächelte ein wenig und gab die Frage an den Beamten weiter, der schreibend am Tisch saß: »Kann er einen Drink haben; Stew? Ich glaube schon, wie?«
»In vino veritas, heißt das Sprichwort«, sagte der Beamte in Hemdsärmeln. »Ich glaube, da steht was im Schrank.«
Der Kriminalbeamte holte eine Flasche, aus der er Whisky in einen Papierbecher goß. »Wasser?«
»Nein«, sagte Greg und nahm dankbar den Becher entgegen. Mit einem Schluck trank er ihn halb leer.
»Und jetzt die große Preisfrage«, sagte der Kriminalbeamte. »Was ist wirklich passiert damals, als Sie die Schlägerei mit Forester hatten, unten am Fluß?«
Greg antwortete nicht gleich.
»Wer hat wen angegriffen? Sie haben doch jetzt Ihren Drink, Wyncoop, macht der Sie denn noch immer nicht gesprächig? Wenn meine Fragen Ihnen lästig sind — die Polizei in Rittersville wird Ihnen noch viel mehr stellen. Also, wer hat wen angegriffen?«
»Ich ihn«, sagte Greg. »Ich wollte ihn zusammenschlagen. Aber er wollte mich umbringen. Er hat versucht, mich ins Wasser zu stoßen und hat es auch getan, zweimal sogar. Das zweite Mal bin ich fast nicht mehr rausgekommen. Forester war abgehauen. Ich glaube, ich muß irgendwo mit dem Kopf aufgeschlagen sein, ich war wie … wie ‘n Nachtwandler. Als ich wieder richtig zu mir kam, war ich irgendwo weit weg auf der Straße …«
»Auf welcher Straße?«
»Auf der River Road. Meinen Wagen hab ich nicht gesehen, ich weiß auch nicht, ob ich überhaupt danach gesucht hab. Ich bin einfach weitergelaufen. Und dann … dann hat mich die Wut gepackt Ich dachte, Forester hat versucht, mich umzubringen — also tu ich eben so, als hätte er’s wirklich geschafft. Soll er nur Schwierigkeiten kriegen. Er hat’s verdient.«
Die Wut peitschte ihn auf, verstärkte die Wirkung des Alkohols. »Aber richtig vorgenommen hatte ich es mir nicht. Eine ganze Weile war es so, als wenn ich zeitweise Amnesie hätte.« Die Phrase kam ihm beruhigend und tröstend vor. Er hatte sie sich während der letzten drei Wochen zurechtgelegt, falls er Sie eines Tages parat haben müßte.
Doch der Krirninalbeamte grinste nur stumm seinen Kollegen an, der jetzt aufgehört hatte zu schreiben und die Arme über der Brust verschränkt hielt.
»Ich bin erst nach Tagen wieder richtig zu mir gekommen«, sagte Greg.
»Und wo waren Sie da?«
»In New York.«
»Und woher hatten Sie das Geld, mit dem Sie sich die ganze Zeit über Wasser gehalten haben?«
»So viel hatte ich bei mir.«
»Wieviel?«
»Och … So zweihundert.«
»Zweihundert? Tragen Sie immer zweihundert Dollar mit sich herum? Ich glaube kaum, daß Sie genug Geld bei sich hatten, um zwei Wochen davon zu leben, schon gar nicht im Hotel!«
Greg konnte es nicht ertragen, als Lügner, wie ein Stück Dreck behandelt zu werden. »Warum nehmen Sie sich denn Forester nicht vor? Er hat ein Mädchen verführt, und dann … und dann auch noch zum Selbstmord getrieben! Warum hacken Sie immer nur auf mir herum?« Greg stürzte den Rest seines Drinks herunter.
Der Kriminalbeamte wirkte noch immer ruhig und leicht amüsiert. »Wer hat Ihnen das Geld gegeben? Jemand in New York? Ein Freund in Langley? Humbert Corners? Ritters-Ville?«
Greg blieb stumm.
»Und was ist mit New York? Haben Sie Freunde dort?«
»Ich habe überall Freunde.«
»Und wen in New York, zum Beispiel? Warum sind Sie zuerst dorthin gegangen?«
»Eine bestimmte Dame«, sagte Greg. »Ich möchte ihren Namen nicht nennen.«
»Ach, kommen Sie! Ich glaube Ihnen kein Wort, wenn Sie den Namen nicht nennen.«
»Na schön, dann sag ich ihn eben, Mrs. Veronica Jurgen, die ehemalige Mrs. Forester«, sagte Greg und richtete sich auf seinem Stuhl auf. »Sie kennt Forester genau. Muß sie ja. Klar, daß sie mir Geld gegeben hat und dazu einen guten Rat.«
»Was für einen Rat?«
»Weiterzumachen«, sagte Greg. »Weiterzumachen, bis Forester da ist, wo er hingehört — in der Klapsmühle oder im Kittchen.«
»Hm hm … Hat sie Sie in ihrer Wohnung in New York versteckt? Oder wo? Los, machen Sie den Mund auf, Wyncoop.«
»Nein, aber sie hat mich eingeladen in ihre Wohnung.«
»Was heißt eingeladen?« fragte der Kriminalbeamte ungeduldig. »Zum Essen?«
Die protokollierenden Beamten lachten unterdrückt.
»Ja, zum Beispiel zum Essen. Ich bin nie hingegangen.«
»Soso. Wie ist ihre Telefonnummer?«
Greg zögerte. Aber sie würden die Nummer ja doch kriegen, auch wenn er sie ihnen nicht gab. Er gab sie ihnen. Der Kriminalbeamte schlenderte zum Tisch und ließ sich mit New York verbinden.
Bei Nickie meldete sich niemand.
»Wer sonst noch?« fragte der Kriminalbeamte, als er zurückkam. »Wer hat ihnen außerdem in New York geholfen?«
Greg runzelte die Stirn. »Was spielt es denn für eine Rolle, wer mir geholfen hat?«
»Wir sind nun mal neugierig, Wyncoop. Wir müssen alle Einzelheiten wissen.« Der Kriminalbeamte grinste. Es war ein böses Grinsen.
Greg sah, daß jetzt nicht einmal mitgeschrieben wurde. Die wollten ihn anscheinend nur aufs Glatteis führen. Dann sah Greg drei Männer zur Tür hereinkommen, zwei Polizisten und ein Mann in Zivil, aber mit dem gewichtigen Schritt eines Polypen. Er war klein und trug einen grauen Anzug; den grauen Hut hatte er weit nach hinten geschoben.
Die anderen begrüßten ihn als Lippy. Das also war Lippenholtz. Jetzt fiel Greg ein, daß er den Namen in der Zeitung gelesen hatte. Er war Kriminalinspektor. Der Beamte, der Greg verhört hatte, sprach leise auf Lippenholtz ein, und Lippenholtz sah zu Greg hinüber und nickte, während er zuhörte.
»Ja, ich komme gerade von Forester«, sagte Lippenholtz und lachte. »Foresters Nachbarn …«
Das übrige konnte Greg nicht verstehen. Dann sagte Lippenholtz: »So? Das ist ja interessant. Die ehemalige Mrs. Forester?«
»Wir haben eben versucht, sie telefonisch zu erreichen. Sie meldet sich nicht.«
Ein Wink von Lippenholtz, und einer der Polizisten, die mit ihm gekommen waren, trat zu Greg und zog Handschellen aus der Tasche.
»Die können Sie sich sparen«, sagte Greg und stand bereitwillig auf.
»Hände her!« befahl der Polizist scharf.
Eine der Handschellen schnappte um Gregs rechtes Handgelenk zu, die andere um das linke des Polizisten.
Die nun folgende Fahrt nach Rittersville ging endlos durch die Dunkelheit. Nur zwölf Meilen betrug die Entfernung, das wußte Greg genau, aber ihm kam das doppelt so weit vor. Die Polizisten und Lippenholtz unterhielten sich über Baseball und schenkten ihm nicht die geringste Beachtung. In der Polizeistation von Rittersville, einem noch tristeren, älteren Bauwerk als das in Langley, stellte man Greg dieselben Routinefragen noch einmal. Er hatte eigentlich erwartet, Forester hier vorzufinden, und war ziemlich erleichtert, daß er nicht da war. Wieder wurde Greg gefragt, ob er die Schüsse in Foresters Haus abgegeben habe, und Lippenholtz hatte die Daten der betreffenden Tage. Greg beantwortete alle Fragen mit ja.
»Welches Verbrechen soll ich eigentlich begangen haben?« fragte Greg. »Warum behandeln Sie mich so?« Er saß da, noch immer in Handschellen; neben ihm stand der Polizist.
Lippenholtz lachte und stieß Wolken von Zigarettenrauch aus. »Schwere Körperverletzung. Und Mord, falls der Doktor stirbt.«
»Mord? Totschlag allerhöchstens«, meinte Greg.
»Mord. Sie wollten Forester treffen und haben jemand anders getroffen, der vielleicht stirbt. Das ist Mord, Wyncoop.«
Greg wurde es fast schlecht. »Aber … Er lebt ja noch …«
Nicken. »Noch, ja.«
»… und wenn er stirbt, dann nicht an meiner Kugel«, stieß Greg hervor. »Ich hab’s in der Zeitung gelesen. Er hat einen Schädelbruch.«
»Ja, er ist ausgerutscht und gestürzt«, sagte Lippenholtz voll Abscheu. »Als Sie nach New York gefahren sind — was haben Sie dort getrieben?«
»Ich hab mir ein Hotelzimmer genommen.«
»Wo?«
»Im Sussex Arms.«
»Stimmt«, sagte Lippenholtz, nachdem er einen Notizblock zu Rate gezogen hatte. »Vom siebzehnten bis zwanzigsten Mai. Ich hörte, Sie haben von der ehemaligen Mrs. Forester finanzielle und moralische Unterstützung erhalten. Ist das richtig?«
»Das ist richtig«, sagte Greg.
»Geben Sie mir ihre Telefonnummer.«
»Ich weiß nicht, warum Sie sie überhaupt belästigen müssen. Sie hat doch nichts verbrochen!«
Lippenholtz grinste ihn nur gelangweilt an. Einer der Polizisten lachte. Fünf oder sechs Polizisten standen um sie herum und hörten zu. »Geben Sie mir die Nummer!« befahl Lippenholtz.
Greg gab sie ihm.
Dieses Mal meldete sich jemand. Lippenholtz nahm den Hörer. »Oh, Mr. Jurgen? Könnte ich bitte mit Ihrer Frau sprechen? Hier ist das erste Polizeirevier in Rittersville … Aber es ist wichtig … Ja. Danke.« Als er jetzt zu Greg hinübersah, grinste er zufrieden.
Greg zog notgedrungen den Polizisten mit, als er mit der gefesselten Hand nach einer neuen Zigarette griff. Er selbst hatte keine mehr aber einer der Polizisten hatte eine fast leere Packung Lucky Strike neben ihn auf den Tisch gelegt.
»Hallo, Mrs. Jurgen? Hier ist Kriminalinspektor Lippenholtz. Wir haben eben Gregory Wyncoop gefunden … Ja … Nun ja, er wollte vor ein paar Minuten in Langley in den Bus steigen, er ist keineswegs tot, Mrs. Jurgen«, sagte Lippenholtz grinsend und zwinkerte einem der eifrig lachenden Beamten zu. »Warum ich anrufe? Weil er behauptet, er sei ein Freund von Ihnen oder Sie eine Freundin von ihm.« Nach diesen Worten hielt Lippenholtz erschrocken den Hörer vom Ohr ab.
Von seinem Platz aus konnte Greg ihre Stimme hören, aber nicht verstehen, was sie sagte. Lippenholtz schüttelte den Kopf und grinste seinen Kollegen zu.
»Aha. Aber stimmt es, daß Sie ihm während seines Aufenthalts in New York Geld gegeben haben? … Hmhm … Gegeben oder geliehen? … Ich verstehe … Nun…« Er wurde unterbrochen. »Davon weiß ich nichts, Mrs. Jurgen. Hoffentlich nicht.« Er sprach in freundlichem Ton. »Mrs. Jurgen, Sie werden noch Gelegenheit haben …« Lippenholtz sah einen der Polizisten an, schüttelte den Kopf und seufzte. Er legte die Hand über die Sprechmuschel und sagte: »Junge, junge, die kann reden!« Dann sagte er ins Telefon: »Mrs. Jurgen, das ist alles sehr interessant, aber wir haben einige verzwickte juristische Probleme, mit denen wir uns hier beschäftigen müssen. Es wäre vielleicht besser, wenn Sie nach Rittersville kämen und … Also gut, dann müssen wir eben zu Ihnen kommen … Nein, kann ich nicht, aber sicher bald … Wir werden es nicht vergessen, Sie können sich darauf verlassen. Auf Wiedersehen, Mrs. Jurgen.« Lippenholtz legte den Hörer auf und sah Greg an. »Da haben Sie eine schöne Freundin, Wyncoop.«
»Was soll das heißen?«
»Sie sagte, sie hat Ihnen Geld gegeben, weil Sie pleite waren, aber nur unter der Bedingung, daß Sie auf der Stelle nach Pennsylvania zurückkehren und sich bei der Polizei melden.«
Greg beugte sich vor. »Das ist alles erlogen! Sie war’s doch, die wollte, daß ich in New York bleibe. Sie… sie muß Angst haben oder sonstwas, sonst hätte sie das nie behauptet.«
»Da haben Sie verdammt recht, sie hat Angst. Sie hat sich der Beihilfe und Anstiftung schuldig gemacht. Ach, lassen wir den Quatsch! Also, Wyncoop, ich denke, diesmal kann ich Ihnen tatsächlich glauben. Aber sie sagt, sie ist keineswegs Ihre Freundin, und sie wollte, daß Sie nach Hause zurückkehren.«
»Ha!« Greg riß den linken Arm hoch, daß ihm die Zigarette aus der Hand flog. »Sie wollte, daß ich für immer in New York bleibe. Aber dann ist Forester gekommen und hat gesagt, er glaube, daß Nickie wüßte, wo ich stecke, und da hat sie mir gesagt, ich solle aus New York verschwinden, und hat mir Geld gegeben.«
»Hm … Sie hat es ein bißchen anders dargestellt. Sie hat gesagt, Sie wären ein Strolch, ein Beatnik …«
»So, wirklich?« sagte Greg. »Aber geschlafen hat sie mit mir! Zweimal sogar.«
»So, hat sie das? Interessant … Aber ohne Belang.« Lippenholtz schlenderte auf ihn zu, die Hände unter der Jacke in den rückwärtigen Hosentaschen. »Und wie stehen Sie zu Mr. Jurgen? Ist das auch ein Freund von Ihnen?«
»Ja«, sagte Greg bestimmt.
»Und er sieht es gern, wenn Sie mit seiner Frau schlafen, wie?«
Greg brauchte ein paar Sekunden, bis ihm eine Antwort einfiel. Lippenholtz drehte ihm den Rücken zu und begann sich mit einem der Kriminalbeamten zu unterhalten. Greg wurde vom Stuhl gezerrt. Es wurde beschlossen, daß er über Nacht hinter Schloß und Riegel gesetzt werden solle. Er erhielt die Erlaubnis, ein Telefongespräch zu führen, und er überlegte, ob er Nickie anrufen solle, entschied sich dann aber doch für seine Eltern. Er wollte sie bitten, eine Kaution für ihn zusammenzutrommeln.
Zwanzig Minuten später lag Greg mit dem Gesicht nach unten auf der schmalen, harten Pritsche einer Zelle. Er war allein. Es war dunkel, bis auf den dreieckigen Lichtschein, der vom Flur durch das Gitterfenster der Tür hereinfiel. Aus einer Zelle in der Nähe, vielleicht nebenan, drang lautes Schnarchen, wie das Schnarchen eines Betrunkenen. Greg preßte das Gesicht in die rauhe Decke, und das Gespräch, das er soeben mit seinen Eltern geführt hatte, klang ihm noch in den Ohren. Wie konntest du nur! … Warum, Greg? Die schrille Stimme seiner Mutter, nachdem sie zuerst beim Klang seiner Stimme einen Schrei der Erleichterung ausgestoßen und dann gefragt hatte: »Wie geht es dir, mein Liebling? Bist du verletzt?« Wie konntest du nur!… Warum, Greg? Als könnte er am Telefon, mit einem halben Dutzend Polypen um sich herum, den Grund erklären. Sie hatten ihm nicht einmal erlaubt, die Telefonzelle zu benutzen, die es hier gab. Er mußte den Apparat auf dem großen Schreibtisch nehmen, von dem aus Lippenholtz mit Nickie gesprochen hatte. Ich habe Freunde, Mama, mach dir bitte keine Sorgen, hatte Greg in den Hörer geschrien, und die Polypen hatten alle gelacht. Ich hatte Amnesie! Dann sein Vater, in dem kalten förmlichen Ton, den sein Vater jedesmal annahm, wenn er fuchsteufelswild war, und wobei er den Lederriemen holte — damals, als Greg noch ein Junge war — und vor Wut die Zähne entblößte. Ich werde so bald wie möglich ein Wörtchen mit dir reden, Greg. In genau dieser Stimmung war sein Vater jetzt, doch er wollte versuchen, das Geld zusammenzubekommen. Er werde sich erkundigen, wieviel Kaution verlangt wurde, und das Geld sofort aufzutreiben suchen, noch heute abend, wenn es ging. Und es wird gehen, dachte Greg, denn sein Vater hielt es für die ärgste Schande, im Gefängnis zu sitzen. Greg wand sich, die Zähne in die Decke verkrampft. Auch sein Chef, Alex, würde sich wie ein Pharisäer aufführen. Sollten sie nur über ihn herziehen, ihm Predigten halten, was kümmerte es ihn? Er hatte nichts Unrechtes getan, nichts, wofür man ihn einsperren konnte. Es war einfach lächerlich. Wenn er so etwas Schlimmes getan hatte, dann hatte Nickie genauso viel Schuld. Er steckte ja nicht allein in der Klemme. Nickie würde ihm helfen. Nickie mochte ihn, mochte ihn sehr. Das wußte Greg bestimmt.
Schritte kamen den Flur herunter. Irgend so ein verdammter Aufseher, dachte Greg. Oder hatte sein Vater schon etwas erreicht und holte ihn raus? Wieviel Zeit war verstrichen? Er hielt die rechte Hand in das Licht. Auf seiner Uhr war es erst zehn vor eins.
»Ich habe noch einmal mit Mrs. Jurgen gesprochen«, sagte Lippenholtz, »Ihrer Freundin. Ich habe ihr gesagt, Sie hätten behauptet, eine Affäre mit ihr gehabt zu haben. Junge, Junge, erbaut war die nicht gerade davon.«
»Nein? Vermutlich hat sie’s abgestritten?«
»Hm, hm. Und sie ist sehr böse auf Sie, weil Sie das gesagt haben. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, daß sie kommt und Sie sprechen will.«
Greg sah ihn an. »Wann? Heute nacht noch?«
»Ja. So wütend ist sie. Ich habe ihr gesagt, Sie dürften heute keinen Besuch mehr empfangen, aber sie ließ sich nicht abhalten. Ich wollte ihr eigentlich nur sagen, daß wir morgen ganz früh jemand zu ihr schicken, um mit ihr zu sprechen. Aber sie hat gesagt: ›Ich werde wahrscheinlich nicht zu Hause sein, Sie können sich das also schenken‹ oder so ähnlich. Nun, dann habe ich gesagt: ›Vielen Dank, das erspart uns viel Mühe.‹ Gute Nacht, Wyncoop.« Und damit ging Lippenholtz.
Greg biß die Zähne zusammen. Er stellte sich vor, wie Nickie vorne in der Polizeistation nach ihm fragte, ihn sehen wollte … Und wie sie das natürlich nicht gestatten würden. Sie würde bis sechs, sieben, acht Uhr morgens warten müssen, oder wann eben sein Vater die Kaution zusammen hatte, wenn sie mit ihm sprechen wollte. Dann endlich würden sie ungestört miteinander reden können. Auf keinen Fall wollte er sich hier in der Polizeistation mit ihr unterhalten, wo ständig ein Dutzend Polypen die Ohren spitzten. Er nahm die Krawatte ab, ließ sie auf den Boden fallen und versuchte, sich zu entspannen. Dann schlug der Gedanke an Forester wie eine Bombe ein. Er hatte zwar, als sie ihn am Busbahnhof stellten, sofort an Forester gedacht, aber jetzt, in der Dunkelheit der Zelle, war dieser Gedanke viel schrecklicher, und er drehte und wand sich auf der harten Pritsche hin und her. Forester mußte inzwischen erfahren haben, daß er in Rittersville im Gefängnis saß. Sicher lachte er sich ins Fäustchen.
Aber er, Greg, hatte zweimal mit Nickie geschlafen. Zweimal, jawohl, und das konnte niemand abstreiten. Selbst Ralph wußte davon oder vermutete es wenigstens. Zweimal, und Nickie hätte ihn noch viel öfter besucht, wenn er in New York geblieben wäre. Bei diesem Gedanken durchlebte er einen Augenblick des Triumphs. Doch das Triumphgefühl verließ ihn sofort wieder. Er mußte sich vorbereiten, mußte seine Verteidigung planen. Er würde sagen, er habe für ein, zwei Tage den Verstand verloren gehabt. Und später, als er erkannte, was er getan hatte, nämlich Forester in Mordverdacht gebracht, da habe er Angst gehabt, zurückzukommen. Er beschloß, diese Rolle bis zum Ende durchzuhalten. Nickie würde ihm dabei zur Seite stehen müssen, würde sagen müssen, sie habe versucht, ihm zu helfen und es auch getan Forester verdiene nicht nur, ein Mörder genannt zu werden, er habe tatsächlich einen Menschen umgebracht, hatte Nickie gesagt, und zwar auf einem ihrer Jagdausflüge. Ein Mann sei in ihr Lager gekommen und habe gedreht, sie anzuzeigen, weil sie zu viele Rehe geschossen hätten, und Forester habe ihm mit dem Gewehrkolben den Schädel eingeschlagen und ihn im Walde verscharrt. Nickie hatte vor Erschütterung geweint, als sie ihm diese Geschichte erzählte, und gesagt, sie habe nie den Mut aufgebracht, jemand davon zu erzählen, weil Forester gedroht habe, sie auch umzubringen, wenn sie nicht den Mund hielt. Greg überlegte, ob er der Polizei von jenem Mord berichten sollte. Das Dumme daran war nur, daß Greg nicht ganz sicher war, ob Nickie die Wahrheit gesprochen hatte, und eine unwahre Beschuldigung Foresters konnte ihm mehr schaden als nützen.