14

Greg tauchte weder am nächsten noch am übernächsten Tag, Mittwoch, auf. Die Langley Gazette und sogar das Bulletin in Philadelphia brachten Bilder von ihm, neue und alte Fotos, die vermutlich seine Eltern der Presse gegeben hatten. Die Eltern waren interviewt worden. Sie hofften und beteten, doch sie fürchteten immer mehr, daß ihr Sohn im Delaware ertrunken und den Fluß hinuntergetrieben worden war.

Von Dienstag an tauchte auch Roberts Name in den Zeitungen auf. Die Schlägerei wurde beschrieben, der Grund dafür erwähnt: Eifersucht des verschmähten Liebhabers. Greg wurde beschuldigt, die Schlägerei begonnen zu haben, Roberts Verhalten wurde der Phantasie überlassen, und der durchschnittliche Leser, nahm Robert an, würde sich sagen, daß er, Robert, Jenny Thierolf liebte und Gregs Stelle als ihr Zukünftiger eingenommen hatte.

Am Dienstagmorgen im Werk sprach Jack Nielson Robert an. Er hatte Robert am Montag wegen des blauen Auges und der geplatzten Lippe gefragt und Robert hatte ihm — leichthin und in möglichst komischem Ton — erzählt, er sei in der Dunkelheit mit einem alten Verehrer Jennys aneinandergeraten, einem Riesenkerl, viel stärker als er.

Inzwischen hatte Jack die Geschichte in der Zeitung gelesen. Robert sagte ihm, daß Greg am Ufer gesessen hatte, als er ihn verließ.

»Es ist genauso gewesen, wie’s in der Zeitung steht«, sagte Robert. »Ich muß sagen, sie haben es kein bißchen schief dargestellt.«

»Was meinst du mit ›schief dargestellt‹?« fragte Jack.

»Nun, sie hätten doch leicht sagen können, ich hätte ihn ins Wasser gestoßen und wolle es nur nicht zugeben.«

»Hrn, hm. Ja. Aber was ins Wasser fällt, taucht irgendwann wieder auf. Vielleicht erst in Trenton, vielleicht auch schon vorher, aber eine Leiche kommt auf jeden Fall wieder hoch. Frag Schriever. Hat der dir schon erzählt …«

»Ja, hat er«, sagte Robert. Jack meinte die Geschichte mit der Leiche des alten Mannes, die in Schrievers Garten angeschwemmt worden war.

»Keine Angst«, sagte Jack. »Er hat sich vielleicht bei einem Freund versteckt, nur um dich in Schwierigkeiten zu bringen. Oder um dich zu ärgern. Wenn er der Typ ist, der eine Schlägerei anfängt wegen so was …« Jack wiegte den Kopf hin und her.

»Und dabei habe ich nicht im mindesten Absichten auf Jenny«, sagte Robert. »Das ist alles so schrecklich unnötig.«

»Tja, über Wyncoop hab ich schon einiges gehört. Er hat noch zwei andere Boys geprügelt, die ihm ein Mädchen weggenommen haben, stimmt’s?«

»Ja. Neuigkeiten sprechen sich wirklich schnell herum.«;

»In einer Kleinstadt vor allem!« sagte Jack grinsend. »Was meint denn Jenny dazu?«

»Ach, ich glaub, sie denkt, Greg ist auf Sauftour.«

Im Laufe der Woche änderte sich die Atmosphäre. Greg tauchte nicht wieder auf. Die Sirenen auf dem Fluß heulten und tuteten, manchmal am Nachmittag, manchmal aber weckten sie Robert noch spät in der Nacht aus dem Schlaf. Sie müssen ja nicht unbedingt nach Greg suchen, sagte er sich. Normalerweise ertönten die Sirenen etwa zweimal in der Woche des Nachts, doch jetzt heulten sie Nacht für Nacht, und in seiner Vorstellung bedeutete das, daß sie unermüdlich nach Greg suchten. Die Zeitungen hatten zweimal eine Beschreibung von Gregs Kleidung gebracht: grauer Mantel, dunkler Anzug (woher wissen die das nur, fragte sich Robert), und als sie alles, was sie über Greg wußten, dbrchgekaut hatten, druckten sie noch einmal, was seine Eltern gesagt hatten. »Wir hoffen und beten«, sagte Mrs. Wyncoop mit Tränen in den Augen. »Einer meiner besten Freunde«, stellte Charles Mitchell aus Rittersville fest — als gäbe es keinen Zweifel mehr, daß Greg tot war. Im Werk tat sich nichts, Fragen wurden nicht gestellt, und doch spürte Robert, daß sich die Kollegen zurückhielten, abwarteten, was geschehen würde, und er hatte das Gefühl, daß alle, Jack Nielson vielleicht ausgenommen, heimlich hofften, man würde im Fluß eine Leiche finden. Am Donnerstag rief Robert um sechs Uhr nachmittags Jenny an und sagte eine Verabredung für den Abend ab. Er gab vor, im Büro zu tun zu haben, was zwar der Wahrheit entsprach, Jenny jedoch verärgerte. Zuvor, um halb sechs, hatte ihn Nickie, beschwipst und unverschämt, angerufen und gesagt: »Nun, in einer hübschen Klemme steckst du da, Bobbie! Ein kleiner Mord vielleicht?« Er hatte schließlich mittendrin aufgelegt, weil sie seine Worte mit lautem Gelächter übertönt hatte, als er ihr alles zu erklären versuchte. In jener Nacht tuteten die Nebelhörner auf dem Fluß. Es war eine schlechte Nacht, er konnte keinen Schlaf finden und nahm ein Seconal, das erste, seit er sie von Jenny bekommen hatte.

Am Freitagnachmittag holte eine der Sekretärinnen Robert vom Zeichentisch weg. Zwei Herren erwarteten ihn unten in der Halle, sagte das Mädchen lächelnd und zog die Brauen in die Höhe. Es war Nancy, eine Blondine, deren größtes Vergnügen es war, andere auf den Arm zu nehmen.

»Zwei Herren?« fragte Robert und stand auf. Er wußte Bescheid.

»Nee, Polypen«, sagte Nancy. »Haben Sie einen Strafzettel nicht bezahlt?«

Robert rang sich mit Mühe ein Lächeln ab.

Er schritt durch den Zeichensaal, zwischen den langen, neonbeleuchteten Tischen hindurch. Die beiden Herren standen in der großen, verglasten Empfangshalle. Es waren die zwei von Montagabend, Lippenholtz und McGregor. Komisch, wie sich ihm die Namen eingeprägt hatten!

»Guten Tag«, sagte Lippenholtz.

»Guten Tag.«

Lippenholtz sah sich in der leeren Halle um, als wolle er sich vergewissern, daß niemand mithören konnte, und. sagte dann: »Also, bis jetzt ist die Leiche noch nicht gefunden — falls es überhaupt eine gibt —, aber wir suchen weiter, und ich glaube, wir werden auch eine finden. Wir hätten von Ihnen gerne einen genauen Bericht, was sich abgespielt hat«, sagte er leise und eindringlich. »Hier handelt es sich ja höchstens um Totschlag. Wyncoop hat Sie angegriffen. Wir nehmen Ihnen das ab, weil Sie um halb acht mit Miss Thierolf verabredet waren und Wyncoop bekannt dafür ist, daß er mit Leuten, die ihm mißliebig sind, gern Schlägereien anfängt. Schön und gut. Wir möchten jetzt folgendes wissen: Haben Sie ihn ins Wasser gestoßen oder nicht?« Er flüsterte fast.

»Ich habe Ihnen doch genau erzählt, was passiert ist«, sagte Robert ebenso leise. »Ich habe nichts hinzuzufügen. Er ist hineingefallen, und ich habe ihn herausgezogen. Danach haben wir uns nicht mehr geschlagen. Als ich ging, saß er auf der Erde. Vielleicht ist er aufgestanden und geradewegs ins Wasser hineingelaufen. Ich weiß es nicht.«

»Warum sind Sie so nervös?« fragte McGregor.

»Ich bin nicht nervös.«

»Wir haben heute morgen mit Ihrer früheren Frau gesprochen, Mr. Forester«, sagte Lippenholtz. »Sie hatte einiges zu sagen über Ihren … Ihren Charakter.«

Robert suchte in der Jackentasche nach Zigaretten. »Zum Beispiel?«

»Nun ja, sie sagte, Sie seien unberechenbar. Neigten zu Gewalttätigkeit. Würden Sie sagen, das stimmt?«

Robert löschte das Streichholz und warf es in den Sandkübel neben dem Lift. »Meine Frau ist dazu fähig, alles und jedes von mir zu behaupten. Geschiedene Eheleute stehen ja nicht immer auf bestem Fuße miteinander.« Die Beamten wandten nicht eine Sekunde die Augen von ihm, Augen, die Entschlossenheit, aber nicht allzuviel Intelligenz verrieten, fand Robert, und das war um so schlimmer für ihn. »Und was die Gewalttätigkeit betrifft: Wyncoop hat mich angegriffen.«

»Ja, aber Sie haben nicht vielleicht einen Knüppel gepackt und ihm tüchtig auf den Kopf geschlagen, wie?« fragte Lippenholtz.

»Es war ein Faustkampf«, sagte Robert geduldig.

Lippenholtz nickte und warf McGregor einen Blick zu.

»Wie haben Sie Miss Thierolf kennengelernt?« McGregor blätterte in seinem Notizbuch.

»Was hat das damit zu tun?« fragte Robert.

»Möglicherweise sehr viel. Würden Sie uns bitte die Frage beantworten?« sagte Lippenholtz mit aufmunterndem Lächeln.

Robert zuckte die Achseln. »Ich sehe nicht ein, was …« Er zögerte.

»Miss Thierolf zieht es ebenfalls vor, sich darüber auszuschweigen. Warum, frage ich Sie, Mr. Forester? Heute morgen haben wir mit ihr gesprochen. Was ist daran so geheimnisvoll?«

Robert überlegte. Was hatte Jenny wohl auf die Frage geantwortet? Er war nicht sicher genug, um obenhin zu antworten: »Durch eine Freundin, ein Mädchen namens Rita.« Robert hatte Rita noch nie zu Gesicht bekommen.

»Ihre Frau hat uns da eine Geschichte von einem Voyeur erzählt«, fuhr Lippenholtz fort. »Sie sagte, Wyncoop habe ihr erzählt, daß sich eine Zeitlang bei Nüss Thierolf ein Voyeur herumgeschlichen habe. Miss Thierolf habe ihn draußen vor dem Haus gehört. Und dann, als sie Sie kennengelernt hatte, hätten die Geräusche aufgehört. Sie haben sie nicht zufällig kennengelernt, als Sie sich um ihr Haus geschlichen haben?«

»Nein«, sagte Robert.

»Ihre Frau meinte, das wäre möglich. Wyncoop …«

»Meine frühere Frau«, warf Robert ein.

»Ja. Entschuldigen Sie. Sie sagte, Wyncoop habe wissen wollen, wie Sie Miss Thierolf kennengelernt haben. Miss Thierolf habe ihm gesagt, durch eine Freundin. Aber Wyncoop soll festgestellt haben, daß das nicht zutrifft.«

Robert drehte sich zu dem Sandkübel um und schnippte die Asche seiner Zigarette hinein. »Sie können meiner Frau meinen innigsten Dank für ihre freundlichen Worte bestellen. Und auch dafür, daß sie sich so rücksichtsvoll aus meinem Leben heraushält.«

»Warum sind Sie so aufgebracht?« fragte Lippenholtz.

McGregor mühte sich, mit dem Schreiben nachzukommen.

»Ich bin nicht aufgebracht, aber mir paßt das nicht, was Sie da andeuten. Und überhaupt, was hat meine frühere Frau mit der Sache zu tun?«

»Sie kennt Sie, Mr. Forester, und es ist doch natürlich, daß wir soviel wie möglich über Sie in Erfahrung bringen wollen«, sagte Lippenholtz sanft.

Doch sie fragten nicht nur, sie wollten ihn ausquetschen, ;und zwar wegen einer Sache, die ihnen, wie er zu wissen glaubte, Nickie in den Kopf gesetzt hatte. Sie würde sich nicht scheuen, das Wort »Totschlag« fallenzulassen. Die Sekunden verrannen langsam, während ihn die beiden Männer anstarrten. »Haben Sie die Hotels nach Wyncoop abgesucht?« fragte Robert. »Unter einem anderen Namen natürlich.«

»Aber ja«, sagte Lippenholtz. »Sie sind wegen einer Gemütsstörung in Behandlung gewesen?«

Das war wieder typisch Nickie. Gerade, als Robert antworten wollte, kam einer der Zeichner — Robert wußte seinen Namen nicht — von draußen herein, und alle sahen sich nach ihm um. Robert wartete, bis der Mann im Zeichensaal verschwunden war. »Als ich neunzehn war, bin ich eine Zeitlang in psychoanalytischer Behandlunggewesen«, sagte Robert. »Freiwillig. Ich bin niemals eingesperrt worden. Vor zwei Jahren, nein, vor einem Jahr bin ich noch mal behandelt worden. Von einem Psychotherapeuten. Sechs Wochen lang. Ich kann Ihnen die Namen geben, wenn Sie wollen.«

Lippenholtz sah ihn an. »Ihre Frau hat uns erzählt, daß Sie einmal ein Gewehr auf sie gerichtet hätten. Sie sagte, Sie hätten geschossen, aber nicht getroffen.«

Robert holte tief Luft, und dann waren die ersten Worte des Satzes, den er hatte entgegnen wollen, wie weggeblasen. »Es stimmt — stimmt, daß ich ein Gewehr auf sie gerichtet habe, aber es war nicht geladen. Damals, als ich geschossen habe, das war bei einer anderen Gelegenheit. Da habe ich in den Kamin geschossen. Meine Frau hatte mich dazu herausgefordert.«

»Herausgefordert, wozu?« fragte Lippenholtz.

»Ich glaube, sie hat gesagt, ich hätte nicht den Mut, abzudrücken. Oder so ähnlich.«

»Ein Jagdgewehr«, sagte Lippenholtz.

»Ja«, sagte Robert.

»Sie schießen sonst nicht mit Jagdgewehren? Sie gehen nicht auf die Jagd?«

»Nein.« Robert dachte sich, daß Lippenholtz und McGregor Jäger waren. »Die Waffe gehörte meiner Frau. Sie geht manchmal auf die Jagd.«

»Ist es nicht gefährlich, ein geladenes Gewehr im Haus zu haben?«

»Ja. Meine Frau hatte es geladen. Sie hat den Waffenschein, nicht ich.«

Lippenholtz lehnte sich an die Wand, und wippte mit den Füßen auf und ab. »Ihre frühere Frau hat uns das aber anders erzählt, Mr. Forester.«

Robert merkte, daß er auf ein Loch in Lippenholtz dünner, dunkelblauer Socke, direkt über der Ferse, starrte. Er kniff die Augen zusammen und sah Lippenholtz an. »Wie ich schon sagte, ich kann nichts daran ändern, was meine Frau sagt.«

»Miss Thierolf scheint die Geschichte auch zu kennen. Sie sagte, Sie hätten ihr erzählt, das Gewehr sei geladen gewesen, Sie hätten aber nicht geschossen. Was sollen wir nun glauben, Mr. Forester?«

»Das, was ich eben sagte. Das ist die Wahrheit.« — »Was?« — »Daß das Gewehr nicht geladen war, als ich damit auf meine Frau zielte.«

»Wer lügt hier? Miss Thierolf oder Ihre Frau? Oder beide? Oder Sie?« Lippenholtz lachte; es hörte sich an wie ein dreimaliges kurzes Kläffen.

»Ich habe Jenny Thierolf erzählt, es sei geladen gewesen«, sagte Robert. »Also hat sie logischerweise auch Ihnen erzählt, daß es geladen war. Meine Frau weiß sehr gut, daß es nicht so war.«

»Und warum haben Sie Miss Thierolf erzählt, es sei geladen gewesen?« fragte Lippenholtz, noch immer lächelnd.

»Ich weiß es nicht. Es machte sich besser.«

»Wirklich?«

»Meine frühere Frau scheint derselben Meinung zu sein.«

»Warum haben Sie Miss Thierolf überhaupt die Geschichte erzählt?«

Es war wie ein zäher Morast. »Ich weiß es nicht.«

»Das ist alles reichlich unklar«, sagte Lippenholtz kopfschüttelnd, als könne Robert sich gar nicht verdächtiger machen, was auch sonst noch über seine Vergangenheit ans Tageslicht kommen mochte, und als sei er ihnen sicher, sie brauchten nur zuzupacken und ihn festzunehmen. »Okay, Mac?« fragte Lippenholtz zu McGregor hinüber, der immer noch schrieb.

»Ja«, sagte McGregor.

»Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie dieses Wochenende die Stadt nicht verließen, Mr. Forester«, sagte Lippenholtz und stieß sich von der Wand ab. »Ich hoffe, Sie hatten nicht vor wegzufahren. Kann sein, daß sich am Wochenende etwas Neues ergibt.«

»Das hoffe ich«, sagte Robert.

McGregor klingelte nach dem Lift.

»Das ist alles für heute. Vielen Dank, Mr. Forester.« Mit kurzem Nicken, einem angedeuteten Lächeln, einer schwachen Konzession an die Höflichkeit, wandte sich Lippenholtz ab.

»Bitte sehr«, sagte Robert.

Robert ging zurück in den Zerehensaal. Er steuerte auf seinen Tisch zu, änderte jedoch die Richtung und ging zur Herrentoilette, deren Tür in der hinteren Ecke lag. Minutenlang jagten seine Gedanken ziellos umher. Dann stieg Nickies Bild vor ihm auf wie die Inkarnation der Gefahr. Sie würde alles tun, was in ihren Kräften stand, um ihm zu schaden, das war sicher. und es war sinnlos zu fragen, warum. Du mußt es als Tatsache akzeptieren, sagte er sich. Einen Augenblick lang gab ihm der Zorn ein, sie anzurufen. aber schon war es wieder vorbei. Er würde ja doch nicht zu Worte kommen. Nickie würde über seine Sorgen, seine Unruhe nur lachen, und es wäre ihm unmöglich, sich nichts anmerken zu lassen, das wußte er. Er konnte ihr schreiben, doch er wollte nicht, daß sie etwas Schriftliches in der Hand hatte, selbst wenn kein Wort darin stand, das ihn hätte belasten können oder andeutete, daß er das ernst nahm, was sie der Polizei aufgetischt hatte. Die bloße Tatsache, daß er einen Brief geschrieben hatte, wäre dann schon Beweis genug, daß er sie ernst nahm.

Er erkannte, daß er so unruhig war, weil er langsam zu glauben begann, Gregs Leiche könnte tatsächlich im Fluß gefunden werden. Und wer würde ihm dann noch glauben, daß er ihn nicht absichtlich hineingestoßen, sondern alles getan hatte, um ihn zu retten? Robert wusch sich die Augen mit kaltem Wasser, als könnte er damit den Ausdruck wegwischen, mit dem ihn sein Gesicht aus dem Spiegel anstarrte. Er sah auf die Uhr. Mit Philadelphia morgen war es wohl nichts, denn er sollte ja die Stadt nicht verlassen. Er war jetzt ohnehin nicht in der Stimmung, Häuser zu besichtigen.

Den ganzen Nachmittag zitterten ihm die Hände. War es nicht bezeichnend, daß Nickie sich so für das Skandälchen interessierte, in das er in Langley verwickelt war, daß sie sogar der Polizei mitteilte, Greg wisse nicht, wie er, Robert, Jenny kennengelernt habe, und Greg nehme an, er sei der Voyeur, der um das Haus herumgeschlichen war? Daß sie erwähnt hatte, er sei zweimal in psychiatrischer Behandlung gewesen und vermutlich außerdem gesagt oder angedeutet hatte, er sei praktisch in der Zwangsjacke hingebracht werden? War es nicht bezeichnend, daß sie das Jagdgewehr erwähnt hatte, und zwar mit einigen höchstpersönlichen Ausschmückungen? Nickie hatte so vielen ihrer gemeinsamen Freunde davon erzählt, daß sie schließlich selbst glaubte, es habe sich so zugetragen, wie sie es beschrieb, er habe vor Wut die Besinnung verloren, das Gewehr sei geladen gewesen, sie habe mit ihm gekämpft und es sei ihr mit knapper Not gelungen, den Lauf beiseite zu drücken. Robert hatte bemerkt, daß sie diese Version niemals den Leuten auftischte, die ihn gut kannten oder ihn lieber machten als sie, wie zum Beispiel die Campbells. In Wahrheit war Folgendes, und zwar ohne Zeugen, geschehen: Nickie hatte eines Abends erklärt, er sei ein solcher Psychopath, daß er auf nichts außer auf Menschen schießen könnte, und das sei der Grund für seine Abneigung gegen die Jagd. Dann hatte sie das Gewehr geladen, es ihm in die Hand gedrückt und gefragt, ob er den Mut habe, auf sie zu schießen. Nun war Robert wütend geworden, hatte das Gewehr genommen, in den Kamin gezielt und abgedrückt — einzig, um die verdammte Kugel loszuwerden oder vielleicht auch nur, um durch ein lautes Krachen wenigstens ein paar Sekunden erholsamer Stille zu erzwingen. Er wußte nicht genau, warum er geschossen hatte, aber es war nun einmal geschehen. Und danach war nichts passiert, niemand hatte an die Tür geklopft, nur Nickie hatte wieder eine neue Geschichte zum Erzählen. Nickie hatte das Loch gefunden, das die Kugel in die Rückwand des Kamins geschlagen hatte, und sie freute sich jedesmal diebisch, wenn sie es anderen zeigen konnte. Robert erinnerte sich, wie Ralph sich umständlich gebückt hatte, um die Stelle in Augenschein zu nehmen. Es war das zweite Mal gewesen, daß Robert ihm begegnet war, und Nickies Absichten waren damals noch nicht klar. »Sie haben geschossen?« hatte Ralph gefragt. »Ja«, hatte Robert geantwortet. »In den Kamin. Glauben Sie, ich schieße auf meine Frau?« Da war Nickie nicht im Zimmer gewesen. War das nun komisch, oder war es einfach langweilig? Beides, fand Robert. Er hatte nie erfahren, was Ralph wirklich glaubte, und es hatte ihn auch nicht interessiert. Sollte er sich jetzt dafür interessieren, fragte er sich?

Plötzlich kam ihm die Erleuchtung: Greg war bei Nickie. Sie versteckte ihn oder half ihm dabei. Mit dem größten Vergnügen. Roberts Zeichenstift hielt inne. Er starrte auf das grellweiße Papier vor ihm auf dem Tisch. Und Ralph? Würde der sich das gefallen lassen? Es kam natürlich darauf an, was Nickie Ralph erzählte, und sie hatte das Talent, eine glaubhafte Geschichte auszudenken, aber selbst Ralph konnte ja Zeitung lesen. Oder war er solch ein Schwächling, daß er keinen Widerspruch wagte? Robert wußte nicht viel über Ralph Jurgen, aber er hielt ihn für einen Schwächling. Und außerdem befand er sich im ersten, überschwenglichen Stadium seiner Liebe zu Nickie. Am besten war es, man nahm an, daß er mit allem einverstanden war, was Nickie tat.

Um fünf Uhr nachmittags, kurz bevor er das Werk verließ, trat Robert in eine der Telefonzellen im Hauptkorridor und rief Jenny an.

Sie sprach ein wenig gezwungen.

»Bist du allein?« fragte Robert.

»Ja, natürlich. Susie kommt nachher, aber jetzt bin ich allein.«

»Ist etwas passiert? Hast du was Neues gehört?«

»Nein. Warum?«

»Du sprichst so komisch. Die Polizisten waren heute bei mir. Wieder diese beiden. Sie sagten, sie hätten mit dir gesprochen.«

»Ja«, sagte Jenny.

»Was ist los, Jenny? Kannst du nicht frei sprechen?«

»Nichts ist los. Warum fragst du dauernd?«

Robert rieb sich die gefurchte Stirn. »Sie sagten, sie hätten dich gefragt, wie wir uns kennengelernt haben. Ich wüßte gerne, was du ihnen geantwortet hast.«

»Ich habe gesagt, das ginge sie nichts an.«

»Aha. Schade, daß wir nicht verabredet haben zu sagen, wir hätten uns im Drugstore bei Eiskrem kennengelernt oder so. Irgendwas …«

»Ich finde, das geht sie nichts an«, sagte Jenny dickköpfig.

»Nun ja, anscheinend reiten sie jetzt auf der Voyeur-Geschichte herum. Greg hat mit Nickie darüber gesprochen. Und was Nickie der Polizei gesagt hat, ist auch nicht gerade förderlich. Ich …« Er beschloß, Jenny weder etwas von seinem Verdacht zu sagen, das Nickie möglicherweise Greg half, sich zu verstecken, noch von seiner Absicht, nach New York zu fahren, um Nickie zu besuchen.

»Nun, das habe ich ja abgestritten«, sagte Jenny endlich in langsamem Ton.

»Jenny, du bist so deprimiert. Das ganze Theater tut mir furchtbar leid.«

»Robert, ich liebe dich so sehr!« Es klang wie ein Schluchzen.

Sie tat, als würden sie durch die grausame Macht des Gesetzes auseinandergerissen. Das wollte er eigentlich nicht hören. »Was hast du denn gesagt über unser letztes Zusammentreffen? Hast du überhaupt etwas gesagt?«

»Ich habe gesagt, das sei ohne Belang.«

»Aha. Hör mal, Jenny, ich kann morgen nicht nach Philadelphia fahren, weil die Polizei Will, daß ich übers Wochenende in der Stadt bleibe.«

»Gut«, sagte sie resigniert. »Robert, glaubst du noch immer, daß er am Leben ist?«

»Aber sicher glaube ich das.«