25

Nickie kam nicht. Morgens um halb sieben traf Gregs Vater ein und brachte einen Scheck über zwanzigtausend Dollar als Kaution mit. Für Greg hatte er ein grün-schwarzes Wollhemd mitgebracht, eins von Gregs alten, das die Mutter zu Hause gefunden hatte, wie der Vater sagte, und außerdem eine saubere, alte Arbeitshose, die ihm zu groß war, aber Greg freute sich darüber und ging in seine Zelle, um sich umzuziehen. Lippenholtz war nicht anwesend. Alles war jetzt einfacher.

Sein Vater wahrte eisiges Schweigen, selbst noch, als er allein mit Greg draußen vor der Station auf dem Gehsteig stand. Es war Sonntagmorgen und die Straße wie ausgestorben, die Welt schien leer — mit Ausnahme der Polizisten in der Wache natürlich. Sein Vater konnte sich nicht gleich erinnern, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Dann, als sie schließlich in den alten, schwarzen, zweitürigen Chevy einstiegen und sein Vater etwa einen Häuserblock weit gefahren war, sagte er: »Wohin soll ich dich bringen, Greg?«

»Nach Hause«, sagte Greg. »Nach Hause natürlich.«

»Zu uns?«

»Nach Hause Humbert Corners, Vater. Ach ja, entschuldige«, sagte er ungeduldig. »Ich dachte, du wüßtest, wo ich wohne. Natürlich will ich nach Hause.«

Ein paar Sekunden Schweigen. Dann sagte sein Vater: »In den letzten zwei Wochen hast du es doch nicht so eilig gehabt, nach Hause zu kommen, woher soll ich da wissen, wohin du willst!«

»Hör mal, Vater, fang nicht damit an, ja? Abgemacht?«

»Weißt du überhaupt, was ich heute nacht durchgemacht habe, um deine Kaution zusammenzukriegen?« fragte sein Vater mit einem Seitenblick auf Greg. »Weißt du, daß ich es ohne meinen Freund, den Rechtsanwalt, der den Richter hier zufällig kennt, überhaupt nicht geschafft hätte? Es widerspricht ganz und gar dem normalen gerichtlichen Verfahren, hat der Richter gesagt. Eigentlich müßten fünf Personen anwesend sein, der Bezirksanwalt, der Staatsanwalt …«

»Mein Gott, Vater, du hast’s aber doch geschafft! Ich will das alles gar nicht hören.«

»Möglich, aber ich finde, du solltest es trotzdem hören. All die Mühe, die ich heute nacht gehabt habe, um alles zusammenzukratzen, was ich besitze, nur damit du nicht eine einzige Nacht im Gefängnis verbringen mußt!«

Das Beben in seines Vaters Stimme ließ Greg verstummen. Eine Nacht im Gefängnis, das war ein Schandfleck in der Familiengeschichte, das wußte Greg. Er hatte einen älteren Bruder, Bernie, der seine Eltern enttäuscht hatte, weil er in einem Job nach dem anderen versagte, nie heiratete und schließlich Alkoholiker wurde. Er war in San Diego, und keiner wußte, was er da trieb. Er hätte ebensogut tot sein können. Seine Eltern hatten ihn abgeschrieben und ihre ganzen Hoffnungen auf ihn, Greg, gesetzt. Es war zuviel Verantwortung, die einem da aufgehalst wurde, fand Greg. Es machte die Eltern unduldsam gegen Fehler, gegen jeden Fehler, den er vielleicht einmal beging.

»Und die Kaution wäre fünfmal so hoch gewesen, wenn der Doktor gestorben wäre«, fügte sein Vater hinzu. »Wie ich höre, sieht es ganz so aus, als ob er stirbt.«

»Na schön, Vater, aber …«

»Ich verstehe dich nicht, Greg. Deine Mutter versteht dich auch nicht. Keiner von uns versteht dich.«

»Also schön, ich werd’s euch erklären!« schrie Greg. »Er hat mein Mädchen umgebracht, verstanden? Er hat versucht, mich umzubringen. Er ist übergeschnappt. Er ist …«

»Wer?«

»Wer! Forester! Robert Forester! Verdammt noch mal, Vater, glaubst du, ich bin nicht ganz richtig im Kopf, oder was?«

»Schon gut, mein Junge, schon gut. Ich hab mir ja gedacht, daß du Forester meinst«, sagte sein Vater nervös. Greg sah ihn an.

Er war ungefähr fünfzehn Zentimeter kleiner als Greg und wirkte, obwohl erst Mitte Fünfzig, um zehn Jahre älter. Sein verkniffenes Gesicht, die beim Fahren vorgebeugten Schultern, verrieten die Anspannung, unter der er gestanden hatte. Und seit einiger Zeit litt er an Nierenbeschwerden und ständigen Rückenschmerzen. Greg wollte ihn fragen, was sein Rücken machte, unterließ es aber doch. Seine Schläfen schienen grauer geworden zu sein. Er arbeitete jetzt schon nur noch halbtags, und Greg wußte, sein Vater hatte sich damit abgefunden, daß er rasch ein alter Mann wurde. Er war Bezirksinspektor einer Lagerhausgesellschaft.

»Hier links abbiegen«, sagte Greg. Sie nahmen den kürzesten Weg nach Humbert Corners.

»So, Forester hat versucht, dich umzubringen? Da draußen am Fluß, meinst du?« fragte sein Vater.

»Ja, und ob!« sagte Greg und steckte sich die letzte Zigarette aus dem Päckchen Lucky Strike an. »Hat mich ins Wasser gestoßen und ist abgehauen. Ich hab’s gerade noch geschafft, rauszukommen. Ach, das habe ich der Polizei ja alles schon erzählt«, sagte Greg, den die Geschichte anödete. Und doch merkte er, daß er allmählich selbst daran glaubte. Er hatte das Gefühl, er könnte jetzt jedes Verhör bestehen, ohne dabei von seiner Geschichte abzuweichen.

»Es stimmt also nicht, daß er dich herausgezogen hat. Das hat die Zeitung nämlich behauptet.«

Greg lachte. »Die Zeitung? Das behauptet Forester. Natürlich hat er mich nicht rausgezogen, Vater. Ach, übrigens, ich habe in New York seine ehemalige Frau kennengelernt.«

Nun erzählte Greg seinem Vater von Foresters geschiedener Frau, wie nett sie sei, wie intelligent und attraktiv, daß sie ihn vor Forester gewarnt und ihm Geld geliehen habe, damit er sich verstecken konnte, weil das die einzige Möglichkeit sei, Forester dranzukriegen — »indem man die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf ihn lenkt« waren Gregs Worte —, denn er gehörte zu jener Sorte von Psychopathen, die nie etwas tun, auf das man sie festnageln kann, sondern nur anderen Menschen das Leben schw ermachen, wie Nickie ihm erklärt habe. »Siehe Jennys Selbstmord, Vater. Mein Gott!«

»Mir scheint«, sagte sein Vater, »wenn er mit Absicht versucht hat, dich ins Wasser zu stoßen …« — »Hat er.« — »… dich ins Wasser zu stoßen, um dich umzubringen, hättest du doch einfach zur Polizei gehen können, als du rausgeklettert warst, um ihn anzuzeigen.«

»Die Polizei glaubt einem ja doch nicht, Vater. Und ich … Sicher, ich hab ihm aufgelauert, in der Nacht, das hab ich ja auch zugegeben. Ich wollte ihn windelweich hauen. Ein fairer Boxkampf, weißt du, Mann gegen Mann. Aber Forester hat einen Knüppel genommen und ihn mir auf den Schädel gehauen. Die ganze Zeit hat er versucht, mich ins Wasser zu stoßen. Und als er es schließlich geschafft hatte und dachte, ich würde ertrinken, da ist er abgehauen.«

»Wie lange hast du drin gelegen?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht fünf Minuten. Als ich rausgeklettert bin und wieder auf die Straße kam, war ich noch ganz benommen. Darum hab ich auch meinen Wagen stehenlassen. Ich kann mich nicht mal erinnern, das Auto überhaupt gesehen zu haben.« Greg redete weiter, über seine Amnesie, über seinen Plan, nach New York zu fahren, weil da Foresters ehemalige Frau wohnte, redete davon, daß er sie angerufen habe und daß sie furchtbar nett gewesen sei, als er ihr erzählte, daß Forester ihm Jenny weggenommen hatte. Dann berichtete Greg seinem Vater von der Voyeur-geschichte bei Jenny und daß Forester zugegeben hatte, um das Haus herumgeschlichen zu sein. Jenny hatte es Susie Escham erzählt.

Sein Vater machte »Tz, tz!« und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht sagen, daß Forester recht gehandelt hat«, sagte er, und hier unterbrach ihn Greg, weil sie in Humbert Gomera angekommen waren und abbiegen mußten. Sein Vater war ein- oder zweimal bei ihm gewesen, aber er wußte den Weg nicht, jedenfalls in diesem Augenblick nicht.

»Ich wollte noch Zigaretten kaufen, und alle diese verdammten Läden haben zu!« murmelte Greg.

Der warme, goldene Sonnenschein begann immer strahlender durch die Baumwipfel in Gregs Straße zu schimmern. Es tat gut, die alte, vertraute Straße wiederzusehen. Zu Hause! Greg war auf seinem Sitz ganz nach vorn gerutscht.

»Da, das nächste Haus links mit dem weißen Erker. Fahr in die Einfahrt, ganz nach hinten.« Dann, als der Wagen über die Bordsteinkante auf den Gehweg rumpelte und auf dem Kiesweg zwischen Mrs. Van Vleets Haus und der Garage, über der Gregs Wohnung lag, dahinrollte, überfiel Greg plötzlich eine böse Ahnung, ein hohles Gefühl der Furcht. Es graute ihn vor dem unvermeidlichen Gespräch mit Mrs. Van Vleet.

»Was hat Mama gesagt, Vater?«

»Oh, sie ist froh, daß du gesund und munter bist«, sagte der Vater müde und zog die Handbremse an.

Greg war eben ausgestiegen, als sich quietschend Mrs. Van Vleets schwarze Haustür öffnete. Sie kam im Morgenrock auf die hintere Veranda heraus, das Haar unter einem Netz versteckt.

»Wer ist da? Greg?« fragte sie ängstlich.

»Hallo, Mrs. Van Vleet!« rief ihr Greg zu, als wäre nichts geschehen.

»Um Gottes Willen«, sagte sie und öffnete die Verandatür, um besser zu sehen. Mit einem Fuß trat sie die Stufe herunter und blieb wieder stehen, so als könne sie es nicht fassen.

»Ist Ihnen was passiert, Greg?«

»Nein, mir geht‘s großartig. Das ist mein Vater. Ich glaube, Sie haben ihn schon kennengelernt.«

»Morgen«, sagte Mrs. Van Vleet unbestimmt zu Mr. Wyncoop hinüber.

»Morgen, Ma’am.«

»Wo sind Sie gewesen, Greg?« fragte Mrs. Van Vleet.

»Tja …« Greg machte ein paar Schritte auf sie zu, blieb aber wieder stehen. »Ich hatte Amnesie, wissen Sie. Zwei Wochen lang. Ich erzähl’s Ihnen später. Jetzt freu ich mich erst einmal, daß ich wieder daheim bin. Okay?« Er winkte ihr zu und wollte gehen.

»Waren Sie im Wasser, Greg?« fragte sie, den einen Fuß immer noch auf der Treppe.

»Natürlich. Aber nicht lange. Reingestoßen bin ich worden. Ich erzähl’s Ihnen später, Mrs. Van Vleet« Er öffnete sein Schlüsseletui. Es war, außer zwei Fotos von Jenny, die in seiner Brieftasche waren, das einzige, was er noch besaß. »Die Miete ist fällig, Mrs. Van Vleet, ich weiß«, sagte er über die Schulter zurück. »Komm, Vater.« Greg schloß die Tür auf, und sie stiegen die Treppe hinauf. Gregs Zimmer lag oben an der Treppe links. Er trat ein und schob gleich ein Fenster hoch. »Setz dich, Vater.«

Die Kaffeekanne stand noch auf dem Herd, und als Greg sie schüttelte, entdeckte er, daß noch Kaffee drin war. Als er die Kanne ausspülte, fand er auf dem Regal neben der Kaffeedose noch ein frisches Päckchen Kent. Greg grinste. Irgendwann — es war so lange her, daß er sich nicht mehr daran erinnern konnte — hatte er sie in weiser Voraussicht dort hingelegt. Er wünschte, er hätte diese Voraussicht auch bei einer Flasche Whisky walten lassen, aber er wußte, daß das nicht der Fall war. Und außerdem, hätte er sich jetzt einen Schluck genehmigt, so hätte sich sein Vater bestimmt bemüßigt gefühlt, eine Bemerkung zu machen.

»Der Kaffee ist gleich fertig, Vater. Aber ich habe nichts zu essen hier. Was im Kühlschrank liegt, ist bestimmt nicht mehr zu genießen.«

»Hm, hm. Schon gut, Greg.« Gregs Vater saß vornübergebeugt auf dem Bett, die Hände gefaltet zwischen den Knien.

»Möchtest du dich hinlegen, Vater? Nur zu!«

»Ich glaube, das täte mir jetzt ganz gut.«

Greg ging in das kleine, fensterlose Badezimmer, machte Licht, wusch sich das Gesicht und putzte sich die Zähne. Dann zog er das Hemd aus, verteilte Seifenschaum auf seinem nahezu drei Tage alten Bart und rasierte sich.

Sein Vater bewahrte sein düsteres Schweigen auch noch, als sie beim Kaffee saßen.

»Tut mir so leid, Vater, daß du diese Fahrt machen mußtest«, sagte Greg.

»Ach, das macht nichts. Du sollst heute vor sechs noch bei der Polizei anrufen, vergiß das nicht. Sie wollen wissen, wo du bist.«

Greg nickte. »In Ordnung, Vater.«

Das Telefon klingelte. In Gregs Ohren war es wie eine Explosion. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wer das sein könnte, und als er den Hörer nahm, brach ihm der Angstschweiß aus.

»Hallo?«

»Hallo, Greg«, sagte Alex’ energische Stimme. »Ihre Wirtin hat mich eben angerufen. Sie sagte, daß Sie wieder da sind.«

»Ja, ich …«

»Da hab ich die Polizei in Rittersville angerufen. Ich war nicht ganz sicher, ob die davon wußten. Ihre Vermieterin wußte ja weiter gar nichts.« Alex’ Ton war kühl und dürr, wie immer, wenn er sich über etwas ärgerte. »Man hat Sie also in Langley aufgegriffen, wie mir gesagt wurde.«

»Ja, das stimmt schon, aber ich hatte … Naja, ‘ne ganze Zeitlang hatte ich Amnesie, Alex.«

»Ach, wirklich? Nach dem, was die Polizei mir sagte, sitzen Sie ganz schön in der Tinte, Greg.«

»Hören Sie, Alex …«

»Einiges weiß ich ja auch davon, aber sicher nicht alles. Es freut mich zu hören, daß Sie am Leben sind, Greg. Aber hätte ich gewußt, daß Sie die ganze Zeit nur auf einer Sauftour in New York waren …«

»Sauftour? Was soll das heißen, eine Sauftour?«

»Oh, ich habe von der Polizei allerhand über diese Frau in New York gehört. Und die ganze Zeit dachte ich, Sie sind tot oder … oder außer sich vor Kummer wegen Jenny. Und dann muß man hören …«

»Alex, könnte ich nicht mal persönlich mit Ihnen sprechen …?«

»Ich habe gedacht, Sie sind vielleicht tot, Greg, aber ich hielt es weiß Gott für sicher, daß Ihnen an Jenny etwas lag. Und dann diese Schießerei! Ja, Greg, um Himmels willen!«

»Was ist denn mit Ihnen los, wollen Sie moralisieren, oder was? Waren Sie ein Heiliger mit achtundzwanzig?«

»Greg, wenn das dein Chef ist …« warf sein Vater ein. Er war aufgestanden und sah mißbilligend zu ihm herüber.

»Greg, ich wünsche Ihnen alles Gute, aber eines möchte ich Ihnen sagen: Ab heute arbeiten Sie nicht mehr für mich. Falls Sie sich falschen Hoffnungen hingehen sollten.«

»Aber Alex, Herrgott noch mal …«

»So einen Skandal kann ich mir in meinem Geschäft nicht leisten«, sagte Alex. »Glauben Sie denn etwa, all die Burschen in dieser Gegend, die mich kennen und die Sie kennen …? Ach, es ist ja sinnlos, darüber zu diskutieren!«

Greg sah Alex vor sich, wie er am Wandtelefon in seiner Küche stand, während seine Frau mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette in der Frühstücksecke am Tisch saß, interessiert zuhörte und ihm aufmunternd zunickte. »Na schön, ich möchte mich mit Ihnen auch nicht streiten, Alex. Aber haben Sie was dagegen, daß ich mich mit Ihnen mal unterhalte?«

»Ja, das habe ich. Es hat keinen Zweck. Sie haben mich schwer enttäuscht, Greg. In mehr als einer Hinsicht. Ich hatte Sie für einen recht anständigen jungen Mann gehalten. Sie haben mich bei den zwei größten Aufträgen der Saison im Stich gelassen. Wissen Sie noch? Das Sonnenöl. Und … Soll ich vielleicht dasitzen, bis Sie die Güte haben, sich zu melden, ehe ich jemand anders hinschicke?«

»Schon gut, Alex. Ich sehe ein, dies ist nicht der richtige Augenblick für eine Unterhaltung.«

»Sehr richtig, Greg. Auf Wiedersehen.« Er legte auf.

Greg legte ebenfalls auf und wandte sich seinem Vater zu. Sein Vater machte noch immer ein finsteres Gesicht, und sein Ausdruck verriet mehr Tadel als Mitgefühl. »Okay, er hat mich rausgeworfen«, sagte Greg. »Es gibt schließlich noch andere Jobs.«

Nun blieben beide stumm. Seines Vaters Schweigen ärgerte Greg. Es war, als dächte sein Vater an Dinge, die zu beschämend waren, um über sie zu sprechen. Greg sah auf die Uhr und stellte fest, daß es erst zehn vor acht war. Der Tag würde endlos werden, wenn er nicht einen Teil davon verschlafen konnte. Er wünschte, sein Vater würde gehen.

Um acht klingelte das Telefon abermals. Es war Nickie, und Greg war so überrascht, daß er für einen Moment kein Wort herausbrachte.

»Ich würde gerne kommen und mit dir sprechen«, sagte Nickie, gar nicht böse, aber auch nicht freundlich. Nur kurz angebunden.

»Gern, Nickie. Wo — wo bist du?«

»In Humbert Corners. In einer Telefonzelle. Wie komme ich zu dir?«

Stotternd beschrieb Greg ihr den Weg. Er sah, daß sein Vater sich aufrichtete und ihn besorgt ansah. »Woher weißt du, daß ich hier bin?« fragte Greg.

»Ich habe die Polizei angerufen, ganz einfach«, sagte Nickie, und jetzt hörte es sich an, als habe sie schon ein paar Drinks hinter sich. »Bis gleich.« Sie legte auf.

»Wer kommt denn?« fragte sein Vater.

»Nickie Jurgen«, sagte Greg. »Die Dame, von der ich dir erzählt habe. Foresters ehemalige Frau. Sie ist in Humbert Corners.«

»Dann gehe ich wohl besser«, sagte sein Vater und griff nach seiner Jacke, die er über einen Stuhl gehängt hatte.

»Ach, Vater, komm. Sie ist nett. Ich möchte, daß du sie kennenlernst. Du würdest vielleicht mehr Verständnis haben, wenn …«

»Nein, Greg.«

»Ich brauche dich aber, Vater. Wirklich. Es wäre bestimmt besser, wenn du bleibst.«

»Deine Mutter braucht mich auch.«

Es hatte keinen Zweck, ihn überreden zu wollen, und Greg gab es auf. Schließlich war es vielleicht doch besser, wenn er ging, überlegte Greg. Man konnte nie wissen, mit was für Einfällen Nickie jetzt wieder aufwartete. Sein Vater ermahnte ihn noch einmal, den Anruf bei der Polizei nicht zu vergessen. Greg trug ihm Grüße an die Mutter auf, und dann war sein Vater fort, die Treppe hinunter, und in der Einfahrt unten sprang der Motor des Wagens an. Es dauerte nicht lange, da hörte er einen anderen Wagen in die Einfahrt brausen und bremsen, daß der Kies aufspritzte. Er blickte aus dem Fenster und sah Nickie aus einem niedrigen, schwarzen Thunderbird steigen. Sie warf die Tür zu. Sie sah auf, erblickte ihn und schritt ohne ein Lächeln oder einen Gruß zur Haustür. Greg lief die Treppe hinunter, um sie einzulassen.

»Hallo«, sagte sie. »Allein, wie ich hoffe.«

»Natürlich, Nickie. Komm rauf.«

Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf. Als er hinter ihr das Zimmer betrat, wandte sie sich um und sah ihn an. »So, da hast du ja wieder einen wunderschönen Mist gemacht, nicht wahr?«

»Hör mal, Nickie, wenn wir die Sache besprechen wollen, und uns darüber einig werden, was wir der Polizei sagen …«

Nickie lachte. »Denen hast du wohl schon eine ganze Menge erzählt, nicht wahr? Willst du ihnen noch mehr erzählen? Was glaubst du eigentlich, wird mein Mann dazu sagen? Was soll das heißen, daß du jedem Idioten, der dich schief anguckt, aufschwätzt, ich hätte dich in New York ausgehalten? Das ist eine nette Art von Dankbarkeit, meinst du nicht?«

Gregs Blick fiel auf das Fenster. Er stand auf und zog das Fenster, das er vorhin geöffnet hatte, wieder herunter. Nickie redete sehr laut, und bestimmt würde sie nicht so bald wieder aufhören. Er konnte nicht ein einziges Wort anbringen. Er hatte erwartet, daß sie ärgerlich, ja wütend sein würde, aber dies war mehr. Sie war wie eine Furie, und er wußte genau, daß er sie jetzt nicht mehr besänftigen, sie nie mehr auf seine Seite ziehen konnte.

Er versuchte, sie zu unterbrechen, aber sie sprach nur um so lauter, und als er es abermals versuchte, ließ sie in schrillem Ton einen Wust von Kauderwelsch vom Stapel, nur um ihn mundtot zu machen: »Laddel-daddel-daddel-daddel!« als wäre sie wirklich von Sinnen. Sie sprach von seiner Undankbarkeit, von seiner Dummheit, seiner absoluten Rücksichtslosigkeit gegen sie. Greg zitterte jetzt, vor Wut und vor Furcht. Nickie würde seine Lage nur verschlimmern. Sie habe den Polypen schon eine ganze Menge erzählt, sagte sie, und sie sei noch lange nicht fertig.

»Es ist dir wohl noch gar nicht aufgegangen, daß sich mein Mann deswegen von mir scheiden lassen kann, wie!« schrie sie in einem grandiosen Furioso. »Es ist dir wohl noch gar nicht aufgegangen, daß er vermutlich genau das tun wird?« Ihre manikürten Hände öffneten und schlossen sich, während sie sprach, flogen in hektischen Gesten weit auseinander, kehrten zu Fäusten geballt wieder auf die Hüften zurück. Sie trug die schwarze lange Hose, die sie das zweite und letzte Mal getragen hatte, als sie im Sussex Arms mit ihm geschlafen hatte. Er mußte dran denken, wie sie ihn angelächelt, ihm zuversichtlich zugeredet hatte. Jetzt waren ihre Augen blutunterlaufen, und die Lippen wiesen nur noch an den Rändern Spuren von Lippenstift auf.

Schließlich schrie er mitten in ihren Wortschwall hinein: »Was, zum Teufel, habe ich denn so Schreckliches getan?«

»Bist du so schlecht, daß du das noch nicht einmal weißt? Du hast mein Leben zerstört, du Lump! Und ich werde dafür sorgen, daß auch deins zerstört wird, darauf kannst du dich verlassen!« Sie steckte sich eine Zigarette an und ließ das Feuerzeug zuschnappen. »Ich weiß, wie man Leute erledigt, merk dir das. Du Schuft!« sagte sie leise und wiegte sich rastlos hin und her, um sich wieder in die Hand zu bekommen.

Dann brach es von neuem los. »Du hättest den Krach hören sollen, den ich die ganze Nacht hindurch mit Ralph gehabt habe! Er Will sich scheiden lassen, mich auf Ehebruch verklagen, verstehst du? Und was wird dann aus mir? Die Sache wird in alle Zeitungen kommen, weil Ralph es will. Er wird es nicht mit Geld erledigen. Bist du dir klar, wieviel Geld er hat?«

»Na schön, na schön!« schrie Greg. »Und was, zum Teufel, soll ich dagegen tun?«

»Zuerst gehst du zur Polizei und nimmst zurück, was du gesagt hast — über mich. Nimm deinen verdammten Mantel oder sonstwas, dann gehen wir!« sagte sie und kehrte ihm den Rücken.

Er beobachtete, wie ihre bösen Augen überall im Zimmer herumsuchten. »Hör zu, Nickie, ich kann doch nicht …«

»Erzähl mir nicht, was du kannst und was du nicht kannst. Wir gehen. Wir fahren nach Rittersville, egal, wo das ist.«

»Nickie, ich bin meinen Job los. Was willst du denn noch?«

»Deinen Job? Deinen lausigen Job? Glaub ja nicht, daß das alles ist, was du verlieren wirst! Los, komm jetzt!« Sie ging zur Tür.

Greg war vollkommen verdattert. Er sah sie die Tür öffnen und sich noch einmal umdrehen, die Hand auf der Klinke. »Ich gehe nicht«, sagte er rasch.

»So? Du gehst also nicht.« Sie nickte höhnisch. »Na schön, dann bleib hier. Ich kann auch allein gehen.« Sie wandte sich wieder zur Tür.

»Du gehst auch nicht!« sagte Greg und riß sie am Arm herum.

Er schleuderte sie mit dem Rücken gegen den Spülstein in der Kochnische, und ganz kurz blickten ihn ihre Augen weit aufgerissen und angsterfüllt an, dann stürzte sie Hals über Kopf wieder zur Tür.

Greg streckte den Arm aus und fing sie ab. Sein kräftiger Arm lag quer über ihrer Brust und preßte sie mit dem Rücken gegen ihn. Ihre Fäuste droschen wild durch die Luft, doch nicht lange. Greg packte sie mit einem Griff am Handgelenk, daß sie sofort Ruhe gab.

»Also gut«, keuchte sie. »Also gut, du kannst es ja aufschreiben. Setz dich hin und schreib.« Sie wand sich los. »Wo ist Papier?«

Gehorsam holte er einen Schreibblock und suchte zwischen den Bleistiften, die auf der Fensterbank in einem Wasserglas steckten, nach einem Kugelschreiber. »Was soll ich schreiben?« Er setzte sich aufs Bett und zog sich einen Bridgetisch heran.

»Du schreibst, daß es nicht wahr ist, daß du in New York mit mir geschlafen hast, und daß ich dir das Geld nur gegeben habe, damit du nach Pennsylvania zurückfährst.«

»Welches Datum ist heute?«

»Der 31. Mai.«

Er schrieb das Datum und dann:

Es ist nicht wahr, und hörte wieder auf. »Meine Hände zittern zu sehr. Ich muß noch ein bißchen warten«, murmelte er. »Mein Gott, wenn wir nur etwas zum Trinken hier hätten!«

»Ich hab was im Wagen. Vielleicht hilft’s.« Nickie ging hinaus.

Greg hörte laut ihre Hupe ertönen, und dann ein »Verdammtes Ding!« Dann klirrte eine Flasche gegen Metall, und die Wagentür wurde zugedonnert. Gleich darauf hörte er Mrs. Van Vleets hohe, weinerliche Stimme. Greg trat ans Fenster.

»Okay, ich werds ihm bestellen«, sagte Nickie zu Mrs. Van Vleet.

Mrs. Van Vleet stand auf der hinteren Veranda hinter der Fliegengittertür.

Nickie kam mit einer Flasche White Horse herauf. »Deine Wirtin möchte dich sprechen.«

Greg fuhr sich übers Haar und ging hinunter. Mrs. Van Vleet wollte eben ins Haus zurückgehen, blieb jedoch stehen, als sie seine Schritte hörte. »Sie wollten mich sprechen, Mrs. Van Vleet?«

»Ja, Greg.« Sie räusperte sich. Sie sprach durch die geschlossene Fliegengittertür mit ihm. »Ich wollte Ihnen sagen, daß ich es gerne sähe … ich hätte gerne, daß Sie sich nach einer anderen Wohnung umsehen, Greg. Zum nächsten Monat.«

»Gut, Mrs. Van Vleet. Ich verstehe.« Greg zahlte seine Miete immer am fünfzehnten, aber für diesen Monat hatte er noch nicht bezahlt, obwohl sie seit zwei Wochen fällig war. So blieben ihm vierzehn Tage, eine neue Wohnung zu suchen.

»Tut mir leid, Greg, aber ich halte es für besser«, sagte sie freundlich, doch um ihren Mund zitterte es, und sie preßte die Lippen zusammen. In selbstgerechter Pose reckte sie das Kinn vor, während sie einen vielsagenden Blick auf Nickies Wagen und anschließend hinauf zum Fenster von Gregs Wohnung warf.

»Die Miete gebe ich Ihnen sofort, Mrs. Van Vleet, und ich werde sehen, daß ich schon vor dem fünfzehnten ausziehen kann«, sagte Greg und kam sich sehr großzügig, sehr einsichtig vor. Aber Mrs. Van Vleet sagte nur kühl: »Das würde mich freuen«, und ging ins Haus.

Greg lief hinauf in sein Zimmer. »Großer Gott!« sagte er. »Meine Wirtin will, daß ich ausziehe.«

»Überrascht dich das?« Nickie saß mit einem Glas in Gregs Lehnsessel.

Greg nahm die Flasche, die auf dem Ablaufbrett stand, und schenkte sich einen steifen Whisky ein. Er trank ein paar Schlucke, ehe er sich wieder umdrehte. Dann setzte er sich wieder an den Bridgetisch, auf dem der Briefbogen lag. Er wußte, was er schreiben wollte, doch es dauerte lange, bis er es zu Papier gebracht hatte. Er beschrieb beide Seiten des Bogens und unterschrieb mit seinem vollen Namen, Gregory Parcher Wyncoop. Nickie war zwischendurch zweimal aufgestanden, um sich neu einzuschenken, und jetzt summte sie vor sich hin, als sei sie wieder besserer Stimmung.

»Fertig? Lies vor«, sagte sie.

Er las vor, und als er geendet hatte, sagte Nickie: »Nicht sehr flüssig, aber es klingt nach dir. Okay.«

Greg nahm sich auch noch einen Drink und warf einen Eiswürfel aus dem Behälter hinein, den Nickie auf das Ablaufbrett gestellt hatte. Er fühlte sich jetzt wohler. Noch ein, zwei Gläser, und er würde sich keine Sorgen mehr machen.

»Und was macht Mr. Forester heute?« fragte Nickie.

»Woher soll ich das wissen?« Greg setzte sich auf seine Liege und lehnte sich in die Kissen. »Ich nehme an, er feiert meine Festnahme.«

Nickie gab einen Laut von sich, der zwischen Lachen und Knurren lag.

»Der Doktor … Dieser Arzt aus Rittersville stirbt vielleicht«, sagte Greg. »Das ist doch furchtbar, nicht?«

»Hm, hm. Ist er ein Freund von Bobbie?«

»Scheint so.«

»Bobbie kriegt’s von allen Seiten, wie?«

»Was?«

»Daß alle Leute sterben. Er hat immer davon gesprochen … Bis ich ihm geraten habe, zu einem Psychiater zu gehen und den Mund zu halten. Sterben. Tod.«

Greg setzte sich auf. »Müssen wir denn darüber sprechen? Forester ist nicht tot. Er ist quietschfidel.«

»Oh, das glaube ich gerne.« Nickie sah schläfrig aus. Sie lehnte sich weit in den tiefen Sessel zurück. Ihre Lippen verzogen sich zu einem schwachen Lächeln.

»Wenn der Doktor stirbt, komme ich als Mörder vor Gericht, haben sie gesagt.«

»Mord?« Nickies Augen wurden groß. »Nicht Totschlag?«

»Nein, Mord.« Greg kippte seinen Drink hinunter und starrte das leere Glas an. Dann stand er mit unsicherem, ängstlichem Lächeln auf und ging auf die Flasche zu. Als er sich umdrehte, waren Nickies Augen auf ihn gerichtet.

»Mord«, wiederholte er.

»Ja, ja. Ich habe verstanden.«

Greg sah auf den Briefbogen, den er beschrieben hatte, und überlegte, wie er sich davor drücken konnte, ihn der Polizei vorlegen zu müssen. Würde Nickie ihm so weit trauen, daß sie es ihm überließ, ihn abzuliefern? Greg bezweifelte es. Und was nützte das auch, wenn er sowieso einen Mord begangen hatte?

»Ich werde später mit der Polizei sprechen, also kannst du ihnen das geben«, sagte Nickie mit einem Nicken zum Bridgetisch hinüber. »Mußt du dich nicht sowieso melden?«

»Nur … nur anrufen.«

»Nun ja, dann fahren wir eben hin. Zusammen. Aber erst wollen wir mal Mr. Forester anrufen und sehen, was er im Schilde führt.« Sie erhob sich ein wenig unsicher, aber sie lächelte vergnügt.

»Ihn anrufen? Warum?«

»Weil es mir Spaß macht. Wohnt er weit von hier?«

»Na …Fünfzehn Meilen.«

»Mehr nicht? Wie ist seine Nummer?«

Greg dachte einen Augenblick nach, dann fiel sie ihm ein. »Milton 6-949 1.«

»Muß man das Amt wählen?«

»Ja … ja, muß man.« Greg sah Nickie unruhig an. Wahrscheinlich hat sie die ganze Nacht schon getrunken, dachte er.

»Milton — Milton«, sagte Nickie zur Vermittlung. »Kennen Sie das denn nicht? Milton 6 … Wie war das, Greg?«

Er wiederholte die Nummer, dann wiederholte Nickie sie, sah Greg an und sagte: »Hallo, Bobbie? Hier ist deine liebe Frau … Nun ja, ich bin in Humbert Corners, ja ausgerechnet, und zwar bei Greg … la, und wir wollten mal fragen, ob du nicht zu einem späten Frühstück rüberkommen willst.« Sie lachte.

Greg wanderte im Zimmer umher. Als er beim Spülstein vorbeikam, schenkte er sich Whisky nach.

»Soso, beschäftigt. Aber doch nicht zu beschäftigt, wie? Wir möchten dich so gerne sehen, nicht wahr, Greg?«

Langsam, traurig schüttelte Greg den Kopf.

»Greg sagt nein, aber ich sage ja … So. Wovor läufst du denn jetzt davon, Bobbie?« fragte sie lachend. Sie hielt den Hörer ein wenig vom Ohr ab, drückte ein paarmal auf die Gabel und legte dann den Hörer hin. »Aufgelegt. Ich versuch’s gleich noch einmal«, sagte sie und blinzelte Greg zu. »Inzwischen will ich’s bei meinem lieben Gatten versuchen und ihm sagen … ihm davon berichten«, sagte sie und deutete auf den Brief, der auf dem Bridgetisch lag.

Ralph war nicht zu Hause. Nickie versuchte es über einer anderen Nummer, wo er vielleicht war, wie sie glaubte, aber sie erreichte ihn auch dort nicht. Sie wurde ärgerlich.