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Leichter Nieselregen fiel aus dem frühmorgendlichen Himmel, als LeSeur sich mit dem Rücken gegen die Teakreling am Bug der Britannia lehnte und nach hinten über das Riesenschiff blickte. Er sah die dunklen Massen von Passagieren, die sich entlang der Decks nach vorn drängten, und hörte, heraufgetragen vom Wind, ihre klagenden Stimmen, während sich die Leute in eine gute Position vor der Gangway drängten und jeder versuchte, so schnell wie möglich vom Schiff herunterzukommen. Die meisten Rettungsfahrzeuge waren abgefahren, und es war an der Zeit, dass die unverletzten Passagiere von Bord gingen. Hinter ihm, auf dem Kai, standen Reihen von Bussen bereit, die Leute in die Hotels in der näheren Umgebung und die Privatunterkünfte zu bringen, die die Neufundländer bereitgestellt hatten.

Während die Matrosen Vorkehrungen trafen, das Gangway-Tau zu entfernen, vermischten sich die Stimmen der Besatzungsmitglieder mit den schrillen Stimmen der Passagiere, die sich beschwerten und drohten. Es wunderte LeSeur, dass die Menschen noch die Kraft dazu hatten, empört zu sein. Verdammt, die konnten von Glück reden, dass sie noch lebten!

Absperrseile, Baustellen-Absicherungsbänder waren gezogen und mobile Gitter aufgestellt worden – ein improvisierter Versuch, um die Passagiere effizient abzufertigen. Am Kopfende der Schlange sah er Kemper, der den Leuten offenbar letzte Anweisungen gab, was sie tun sollten. Auf Anordnung der Königlich-Kanadischen Militärpolizei musste jeder Passagier identifiziert und fotografiert und zu dem ihm zugeteilten Bus geführt werden. Ohne Ausnahme.

Es würde den Leuten nicht gefallen, LeSeur wusste es. Aber die Reederei musste ja Unterlagen über all jene haben, die von Bord gegangen waren, wenn sie die Vermissten von den Verletzten und den Gesunden jemals auseinandersortieren wollte. Die Reederei benötige Fotos, hatte man ihm mitgeteilt, weil man nicht wollte, dass unversehrte Passagiere später wegen vermeintlicher Verletzungen prozessierten. Selbst nach allem, was passiert war, ging es einzig und allein um Geld.

Die Absperrung vor der Gangway wurde zur Seite geschoben, und der dunkle Strom der Passagiere wälzte sich heran, wie eine Reihe zerlumpter Flüchtlinge. Und natürlich: Als Erster ging ein stämmiger Mann im schmutzigen Smoking von Bord, der sich an den Frauen und Kindern vorbeidrängelte. Er eilte die Rampe hinunter, schrie, und in der Windstille trug seine Stimme bis zum Bug hinauf. »Herrgott noch mal, ich will mit dem Mann reden, der hier das Sagen hat! Ich lass mich doch nicht wie ein Krimineller fotografieren!«

Er durchbrach zwar die Reihe der für die Ausschiffung zuständigen Crewmitglieder unten an der Gangway, aber mit den Schauerleuten von St. John’s und den kanadischen Militärpolizisten, die zur Unterstützung herbeigerufen worden waren, war nicht zu spaßen. Sie stellten sich dem Mann in den Weg, und als er Widerstand leistete, legten sie ihm Handschellen an und führten ihn ab.

»Nehmen Sie die Hände weg! Wie können Sie es wagen! Ich manage einen milliardenschweren Hedge-Fonds in New York! Was ist das hier, das kommunistische Russland?«

Er wurde rasch zu einem wartenden Gefängniswagen abgeführt und hineingeschoben, auch wenn er die ganze Zeit über schimpfte. Sein Schicksal schien eine heilsame Wirkung auf alle zu haben, die ebenfalls eine Szene machen wollten.

Mit einiger Mühe gelang es LeSeur, sich den ungehaltenen Stimmen voller Empörung zu verschließen. Er verstand ja, warum die Leute verärgert waren, und sympathisierte mit ihnen, aber Tatsache war nun einmal, dass dies die schnellste Art war, um sie vom Schiff herunterzubekommen. Und man musste noch immer einen Serienmörder finden.

Kemper stellte sich neben ihn, lehnte sich ebenfalls mit dem Rücken an die Reling. Sie teilten einen Augenblick erschöpften, stummen Gedenkens. Es gab im Grunde nichts zu sagen.

LeSeurs Gedanken schweiften zur bevorstehenden Anhörung vor dem Untersuchungsausschuss. Wie sollte er denn nur dieses bizarre Wesen erklären, das Mason auf der Brücke angegriffen hatte? Captain Mason war, so schien es, von einem Dämon besessen gewesen. Seit dem Vorfall hatte er die Szene im Geist immer wieder durchgespielt – Dutzend Male –, und doch war ihm noch immer nicht klar, was zum Teufel er da mit eigenen Augen gesehen hatte. Was sollte er sagen? Ich habe gesehen, wie ein Geist in Captain Mason gefahren ist. Ganz gleich, wie er das formulierte, die würden glauben, er weiche den Fragen aus, oder er sei verrückt – oder Schlimmeres. Nein, niemals konnte er die Wahrheit darüber sagen, was er gesehen hatte. Niemals. Er würde, stattdessen, aussagen, dass Mason irgendeine Art Anfall erlitten habe, einen epileptischen Anfall vielleicht, und den Rest auslassen. Sollten doch die Pathologen herausfinden, was geschehen war.

Er seufzte, schaute der schier endlosen Schlange der Leute zu, die im Nieselregen davonkroch. Sie wirkten jetzt überhaupt nicht mehr so arrogant; sie sahen aus wie Flüchtlinge.

Seine Gedanken kehrten wie zwanghaft zu dem zurück, was er gesehen hatte. Vielleicht hatte er ja nicht alles mitbekommen; vielleicht hatte es sich um einen Störimpuls in der Videoüberwachungsanlage gehandelt. Es könnte sogar ein Staubkörnchen gewesen sein, gefangen in der Kamera, hundertfach vergrößert, hin und her gerüttelt von den Vibrationen der Schiffsmotoren. Sein Stress und die Erschöpfung hatten ihn dazu verleitet, etwas zu sehen, was gar nicht da war.

Ja, das war’s. Das musste es sein.

Aber dann dachte er daran, was sie auf der Brücke gefunden hatten: den bizarren, sackähnlichen Leichnam von Captain Mason, ihre Knochen zu Staub zerfallen …

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sich eine ihm bekannte Gestalt näherte: ein korpulenter Mann mit Gehstock und einer weißen Nelke im makellos sauberen Revers. Sofort bekam LeSeur ein mulmiges Gefühl; das war Ian Elliott, Vorsitzender der North Star Line. Kemper stöhnte neben ihm. LeSeur ahnte es – das hier würde noch hässlicher werden, als er es sich ausgemalt hatte.

Elliott kam in langen Schritten auf ihn zu. »Captain LeSeur?«

LeSeur machte sich steif. »Sir.«

»Ich wollte Ihnen gratulieren.«

Der Satz traf LeSeur derart unerwartet, dass er einen Augenblick lang nicht begriff, was er da gehört hatte. Vielleicht war das alles nur eine Halluzination – Gott wusste, er war müde genug, um Gespenster zu sehen.

»Sir?«, fragte er in ganz anderem Tonfall.

»Dank Ihres Mutes, Ihres seemännischen Könnens und Ihrer Besonnenheit ist die Britannia nicht gesunken. Ich kenne zwar noch nicht die ganze Geschichte, aber aus dem, was ich weiß, hätte sich alles ganz anders entwickeln können. Ich wollte hierherkommen und Ihnen persönlich meinen Dank aussprechen.« Mit diesen Worten streckte er die Hand aus.

LeSeur schlug ein; ihm kam das alles ganz unwirklich vor.

»Ich lasse Sie jetzt in Ruhe, damit Sie mit der Ausschiffung fortfahren können. Aber sobald alle Passagiere von Bord gegangen sind, könnten Sie mich vielleicht in die Einzelheiten einweihen.«

»Natürlich, Sir.«

»Und dann wäre da noch die Frage der Britannia

»Frage, Sir? Ich verstehe nicht ganz.«

»Nun ja, sobald sie repariert und innen neu ausgestattet ist, wird sie einen neuen Kapitän brauchen – oder nicht?« Elliott schenkte ihm ein kurzes Lächeln, drehte sich um und ging davon.

Es war Kemper, der das Schweigen durchbrach. »Ich fasse das nicht«, murmelte er.

LeSeur konnte es eigentlich auch nicht glauben. Vielleicht handelte es sich nur um den Dreh, den die PR-Leute von North Star den Dingen verleihen wollten – sie als Helden darstellen, die das Leben von über zweitausendfünfhundert Passagieren gerettet hatten. Vielleicht auch nicht. Auf alle Fälle würde er nicht danach fragen. Und er würde Elliott nur zu gern erzählen, was passiert war. Zumindest fast alles …

Seine Gedanken wurden unterbrochen, als ein Militärpolizist an sie herantrat.

»Wer von Ihnen ist Mr Kemper?«

»Ich«, sagte der Sicherheitschef.

»Hier ist ein Herr vom FBI, der mit Ihnen sprechen möchte.«

LeSeur sah, wie ein schlanker Mann aus dem Schatten der Aufbauten trat. Dieser FBI-Agent, Pendergast.

»Was wollen Sie?«, fragte Kemper.

Pendergast trat ins Licht. Er trug einen schwarzen Anzug; sein Gesicht war ebenso ausgezehrt und leichenblass wie das aller anderen, die das vom Unglück verfolgte Schiff verließen. Eingeklemmt unter einem Arm trug er einen langen, schmalen Kasten aus Mahagoni. Neben ihm, am anderen Arm untergehakt, ging eine junge Frau mit kurzem dunklen Haar und todernstem Blick.

»Vielen Dank, Mr Kemper, für eine interessante Reise.« Pendergast löste seinen Arm von dem der Frau und griff in die Reisetasche, die er trug.

Kemper sah den Mann erstaunt an. »Sie müssen den Offizieren des Schiffes kein Trinkgeld geben«, sagte er knapp.

»Ich glaube, dieses Trinkgeld wird Ihnen gefallen«, antwortete Pendergast und zog ein in Öltuch eingewickeltes Päckchen aus der Reisetasche. Er reichte es Kemper.

»Was ist das?«, fragte Kemper und nahm das Päckchen entgegen.

Aber Pendergast sagte nichts, sondern drehte sich nur um; und dann verschmolzen er und die Frau wieder mit den frühmorgendlichen Schatten und entschwanden zwischen den anderen Passagieren.

LeSeur schaute zu, wie Kemper das Päckchen aufschnürte.

»Sieht so aus, als wären das Ihre dreihunderttausend Pfund«, sagte er, als Kemper stumm auf die Bündel verschmutzter Geldscheine starrte.

»Der seltsamste Mann, dem ich je begegnet bin«, murmelte Kemper, als spräche er mit sich selbst.

LeSeur hatte ihn nicht gehört. Er dachte schon wieder an jene dämonische Wolke, die Captain Mason verschlungen hatte.