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Es ist eine Fahrt voller Premieren gewesen, dachte Betty Jondrow aus Paradise Hills, Arizona, während sie, das Programmheft in der Hand, mit einer Gruppe anderer Frauen im goldverkleideten Foyer des Belgravia-Theaters wartete. Gestern war sie zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Willa ins Sedona SunSpa gegangen, wo sie sich aufeinander abgestimmte Tätowierungen auf den Hintern hatten machen lassen: Ihr Tattoo zeigte einen Schmetterling, Willas eine Hummel. In der Regent Street, einer der beiden teuren Einkaufspassagen, hatten sie sich Fußkettchen mit echten Brillanten gekauft, und sie trugen sie seither jeden Abend. Niemand würde vermuten, dachte Betty, dass sie und ihre Schwester zusammen acht Vier-Kilo-Babys geboren hatten und sich elf Enkelkinder rühmen konnten. Gott sei Dank hatten sie sich nie gehenlassen, wie so viele ihrer Schulfreundinnen. Betty war sehr stolz darauf, dass sie mit ihren dreiundsechzig Jahren noch immer in das Kleid passte, das sie auf dem Abschlussball ihrer Highschool getragen hatte – ein Experiment, das sie alljährlich zum Jahrestag gewissenhaft wiederholte.
Sie schaute sich abermals um und sah auf die Uhr. Fast ein Uhr morgens. Wo zum Teufel steckte Willa? Sie war vor mindestens einer halben Stunde losgegangen, um Batterien für ihre neue Kamera zu kaufen. Vielleicht sogar länger.
Es war Willa, die den Filmstar Braddock Wiley unbedingt hatte kennenlernen wollen. Einer der Höhepunkte der Reise – und einer der Gründe, weshalb sie gebucht hatten – war die Aussicht auf die Premiere von Wileys neuestem Horrorfilm mitten auf dem Atlantik. Sie hatte um zweiundzwanzig Uhr stattfinden sollen, aber Braddock Wiley litt – so ging jedenfalls das Gerücht – wegen des schlechten Wetters ein wenig unter der Seekrankheit.
Wieder ließ sie den Blick durch die Menge schweifen, aber von Willa weit und breit keine Spur. Na, wenn sie nicht bald aufkreuzte, dann würde sie Wiley eben allein kennenlernen. Sie zog einen Schminkspiegel aus der Handtasche, betrachtete ihr Gesicht, betupfte sich mit einem Taschentuch die Mundwinkel, klappte den Schminkspiegel zu und steckte ihn wieder ein.
An den Rändern der Gruppe entstand eine Unruhe, die ihr verriet, dass sie nicht umsonst gewartet hatte. Da war er, Braddock Wiley höchstpersönlich – er sah fesch aus in seinem seemannsblauen Blazer, dem Ascot und der cremefarbenen Hose, wie er so in Begleitung mehrerer Schiffsoffiziere das Foyer betrat. Seekrank wirkte er aber gar nicht.
Wiley hatte die Gruppe der Frauen kaum erblickt, da strahlte er und kam zu ihnen herüber. »Guten Abend, meine Damen!«, rief er und zückte einen Kugelschreiber, als ihm die Frauen, kichernd und errötend, ihre Programmhefte hinhielten. Er drängte sich durch die Zuschauer, plauderte mit allen, unterschrieb Programmhefte und posierte für die Fotografen. In natura sah er noch besser aus als auf der Leinwand. Betty hielt sich im Hintergrund und hoffte, dass ihre Schwester noch in letzter Minute erscheinen würde – aber dann stand Wiley plötzlich direkt vor ihr.
»Last, but not least«, sagte er augenzwinkernd, umfasste sie und hielt sie freundlich fest. »Ich hatte gehört, dass es hier an Bord einige sehr gutaussehende Damen gibt. Ich habe es nicht geglaubt – bis jetzt.«
»Ach, kommen Sie, Mr Wiley«, sagte Betty und lächelte ein wenig keck. »Das meinen Sie doch nicht ernst. Ich habe sechs Enkelkinder, wissen Sie.«
Seine Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Sechs Enkelkinder? Wer hätte das gedacht?« Wieder zwinkerte er ihr zu.
Betty Jondrow fand keine Worte. Sie errötete bis zu den Haarwurzeln und hatte zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert das köstliche Gefühl, wieder ein schüchternes, jungfräuliches, verwirrtes Schulmädchen zu sein, das mit dem Kapitän der Footballmannschaft Händchen hielt.
»Ich gebe Ihnen ein Autogramm«, sagte Wiley, griff sich ihr Programmheft, setzte mit schwungvoller Geste seine Unterschrift darauf und ging weiter, nachdem er der Gruppe nochmals zugewunken hatte.
»Für mein liebstes Großmütterchen – Alles Liebe und Zungenküsse, Brad Wiley«, hatte er geschrieben.
Sie hielt das Programmheft in ihren zitternden Händen. Es war einer der großen Momente in ihrem Leben. Und wenn Willa erst einmal das hier sah.
Die aufgedonnerten Kinobesucher strömten weiter ins Foyer. Betty kam wieder zur Vernunft; sie sollte lieber zwei gute Plätze belegen, und zwar schnell. Willa hatte zwar Braddock verpasst, aber sie konnte immer noch rechtzeitig zur Premierenvorstellung erscheinen.
Sie zeigte dem Platzanweiser ihre reservierte Karte, betrat den Theatersaal, fand einen idealen Platz, ganz vorne, und belegte den Nebenplatz mit ihrer Handtasche. Das Belgravia war ein äußerst eindrucksvoller Raum, der einen Großteil der vorderen Bereiche der Decks 2 bis 5 einnahm, sehr dunkel, in geschmackvollem Blau gehalten und mit bernsteinfarbenen Leuchten, bequemen Polstersitzen, einer großen Bühne und einem tiefen Rang ausgestattet. Ungeachtet der Kapazität von fünfhundert Plätzen und der späten Stunde, füllte sich der Theatersaal sehr schnell. Binnen Augenblicken wurde es dunkel, und Braddock Wiley hatte seinen nächsten Auftritt; er schlenderte auf die Bühne vor dem geschlossenen Vorhang, lächelte ins grelle Rampenlicht. Dann sprach er ein paar Sätze über den Film, erzählte einige amüsante Geschichten über die Produktion in New York, dankte verschiedenen Produzenten, Schauspielern, Drehbuchautoren, dem Regisseur und dem Chef der Special-Effects-Abteilung, warf dem Publikum einen Handkuss zu und trat ab. Während der Applaus aufbrandete, erschien das Markenzeichen der 20th Century Fox auf dem Vorhang, der sich wie aufs Stichwort hob.
Den Zuschauern stockte der Atem. Betty Jondrow schlug die Hand vor den Mund. Dort, direkt vor der Leinwand hängend, erleuchtet von einem Projektor, war ein brillantes Bühnenbild zu sehen – der erstaunlich realistische Dummy einer bluttriefenden Toten. Im Zuschauersaal erhob sich ein aufgeregtes Gemurmel ob dieser unerwartet dramatischen Inszenierung, die speziell ersonnen sein musste, um die Premiere etwas aufzupeppen. Sie hatten die Puppe hinter dem Vorhang versteckt, um die Zuschauer zu schockieren. Sie war verblüffend realistisch – fast zu realistisch.
Auf der Leinwand erschien der Filmtitel: DER VIVISEKTOR. Grotesk hell leuchteten die Buchstaben auf dem Frauenkörper; das Wort »Vivisektor« erschien dabei quer über dem Oberkörper, der tatsächlich aussah, als wäre er bei einer Operation verstümmelt worden. Seufzer der Bewunderung über den effektvollen, wenn auch ekligen Einfall waren zu hören.
Plötzlich beugte sich Betty vor. Irgendetwas an der Puppe kam ihr bekannt vor – das paillettenbesetzte, mit Streifen aus Blut getränkte Seidenkleid, die schwarzen Pumps, das kurze blonde Haar …
Sie packte die Sitzlehne vor sich, sprang auf.
»Willa!«, schrie sie und zeigte zur Bühne. »O mein Gott! Das ist Willa! Das ist meine Schwester! Jemand hat sie ermordet!« Sie stieß noch einen durchdringenden Schrei aus, der die Luft in dem Theatersaal durchschnitt, dann sackte sie ohnmächtig zusammen. Das Bild auf der Leinwand wackelte, verlosch; und dann sprangen die Zuschauer auf und stoben kreischend und schreiend Hals über Kopf den Ausgängen zu.