7
Aloysius Pendergast stieg beim Ca’d’Oro aus dem Vaporetto und blieb kurz stehen. Es war ein warmer Sommertag, und das Sonnenlicht glitzerte auf dem Wasser des Canal Grande und lag warm auf den Marmorfassaden der Palazzi.
Pendergast blickte auf einen Zettel und ging dann den Anleger entlang Richtung Nordosten, auf das Gewirr von Gassen zu, die zur Chiesa dei Gesuiti führten. Bald hatte er Lärm und Trubel hinter sich gelassen und war tief in die kühlen, schattigen Seitengassen eingedrungen, die hinter den Palästen am Canal Grande entlangführten. Musik drang aus einem Restaurant. Ein kleines Motorboot flitzte über einen Seitenkanal und ließ das Wasser gegen Marmormauern und Brückenpfeiler schwappen. Ein Mann beugte sich aus einem Fenster und rief über das Wasser hinweg einer Frau etwas zu und brachte sie damit zum Lachen.
Nachdem Pendergast um ein paar Ecken gebogen war, stand er vor einer Tür mit einer abgegriffenen Bronzeklingel, über der schlicht Dott. Adriano Morin stand. Er drückte auf die Klingel und wartete. Kurz darauf öffnete sich über ihm quietschend ein Fenster. Er sah hoch. Eine Frau schaute heraus.
»Was wollen Sie?«, fragte sie auf Italienisch.
»Ich habe einen Termin mit dem Dottore. Mein Name ist Pendergast.«
Der Kopf verschwand, und kurz darauf wurde die Tür geöffnet. »Kommen Sie herein«, sagte die Frau.
Pendergast trat in einen kleinen Empfangsraum. Die Wände waren mit rotem Seidenbrokat ausgeschlagen, der Fußboden bestand aus schwarz-weißen Marmorquadraten. Verschiedene exquisite Werke asiatischer Kunst schmückten den Raum: ein antiker Khmer-Kopf aus Kambodscha, ein tibetischer dorje aus reinem Gold, mit Türkisen besetzt, mehrere alte thangkas, eine illustrierte Mughal-Handschrift in einem Glaskasten, ein Buddhakopf aus Elfenbein.
»Bitte nehmen Sie Platz«, sagte die Frau und setzte sich hinter einen kleinen Schreibtisch.
Pendergast ließ sich nieder, legte seine Aktentasche auf den Schoß und wartete. Er wusste, dass Dr. Morin einer der berüchtigtsten Händler Europas für Antiquitäten ohne Herkunftsnachweis war. Im Grunde war er ein Schwarzmarkthändler auf hohem Niveau, einer von vielen, die geraubte Antiquitäten aus verschiedenen korrupten Ländern Asiens bezogen, sie mit falschen Papieren ausstatteten und dann auf dem regulären Kunstmarkt an Museen und Sammler verkauften, die wussten, dass es besser war, nicht allzu genau nachzufragen.
Nach kurzer Zeit erschien Morin in der Tür, ein gepflegter, eleganter Mann mit exquisit manikürten Händen, winzigen Füßen, die in schönen italienischen Schuhen steckten, und sorgsam gestutztem Bart.
»Mr Pendergast? Ich bin entzückt.« Er reichte ihm die Hand. »Bitte kommen Sie.«
Pendergast folgte ihm in einen langgestreckten Salon mit einer gotischen Fensterfront, die auf den Canal Grande hinausging. Wie der Empfangsraum war auch der Salon voller bemerkenswerter Beispiele asiatischer Kunst. Morin wies auf einen Sessel, und sie machten es sich bequem. Er nahm ein goldenes Zigarettenetui aus der Tasche, klappte es auf und bot Pendergast eine Zigarette an.
»Nein, vielen Dank.«
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich rauche?«
»Selbstverständlich nicht.«
Morin nahm eine Zigarette aus dem Etui und schlug die Beine elegant übereinander. »Also, Mr Pendergast, was kann ich für Sie tun?«, nahm er das Gespräch auf.
»Sie haben eine schöne Sammlung, Dr. Morin.«
Morin lächelte und machte eine weit ausholende Geste. »Ich verkaufe nur durch private Vermittlung. Selbstverständlich sind diese Räumlichkeiten der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Wie lange sammeln Sie schon? Ich bin noch nie auf Ihren Namen gestoßen, und ich kann mit Stolz behaupten, fast alle in diesem Bereich zu kennen.«
»Ich bin kein Sammler.«
Morin, der sich gerade seine Zigarette anzünden wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. »Kein Sammler? Dann muss ich Sie bei unserem Telefonat missverstanden haben.«
»Sie haben mich nicht missverstanden. Ich habe gelogen.«
Jetzt verharrte die Hand regungslos; der Rauch kräuselte sich empor. »Wie bitte?«
»Eigentlich bin ich Ermittler. Ich bin Privatdetektiv und auf der Suche nach einem gestohlenen Gegenstand.«
Die Luft im Raum schien zu gefrieren.
Morin sagte ruhig: »Da Sie selbst zugeben, nicht in offizieller Funktion hier zu sein, und Sie sich unter falschen Voraussetzungen Zutritt verschafft haben, fürchte ich, dass unser Gespräch hiermit beendet ist.« Er erhob sich. »Guten Tag, Mr Pendergast. Lavinia wird Sie hinausbegleiten.«
Als er sich umdrehte, um den Raum zu verlassen, sagte Pendergast fast beiläufig: »Die Khmer-Statue dort in der Ecke stammt übrigens aus Banteay Chhmar in Kambodscha. Sie wurde vor nur zwei Monaten geraubt.«
Morin, schon auf halbem Weg zur Tür, blieb stehen. »Sie irren sich. Die Statue stammt aus einer alten Schweizer Sammlung. Ich habe Papiere, die das beweisen. Wie für alle Kunstgegenstände in meiner Sammlung.«
»Ich besitze ein Foto, das ebendieses Objekt in seiner originalen Lage zeigt. In der Tempelmauer.«
Morin rief: »Lavinia? Bitte benachrichtigen Sie die Polizei. Sagen Sie ihnen, ich habe einen ungebetenen Gast, der sich weigert, das Haus zu verlassen.«
»Und dieses nepalesische Srichakrasambhara und der Vajradhara aus dem sechzehnten Jahrhundert wurden mit einer gefälschten Exportgenehmigung ausgeführt. So etwas hätte Nepal nie auf legalem Wege verlassen können.«
»Wollen wir auf die Polizei warten, oder sind Sie auf dem Weg hinaus?«
Pendergast schaute auf die Uhr. »Ich warte gern.« Er klopfte auf seine Aktentasche. »Hier drin habe ich genug Dokumente, um Interpol für ein paar Jahre beschäftigt zu halten.«
»Gar nichts haben Sie. Alle meine Stücke haben lückenlose Herkunftsnachweise.«
»Wie diese in Gold und Silber gefasste Schädelschale? Die ist nicht illegal ausgeführt – weil es eine moderne Kopie ist. Oder versuchen Sie etwa, sie als Original auszugeben?«
Schweigen senkte sich herab. Das magische Licht Venedigs fiel durch die Fenster und erfüllte den prachtvollen Raum mit goldenem Glanz.
»Wenn die Polizei kommt, werde ich Sie festnehmen lassen«, sagte Morin endlich.
»Ja, und man wird zweifellos den Inhalt meiner Aktentasche beschlagnahmen. Er wird die Polizei ohne Zweifel sehr interessieren.«
»Sie sind ein Erpresser.«
»Wie kommen Sie darauf? Ich fordere nichts. Ich stelle nur Fakten fest. Dieser Vishnu mit Gefährtinnen aus dem zwölften Jahrhundert beispielsweise, angeblich aus der Pala-Dynastie, ist ebenfalls eine Fälschung. Das Stück würde Ihnen ein kleines Vermögen einbringen, wenn es echt wäre. Wie schade, dass Sie es nicht verkaufen können.«
»Was zum Teufel wollen Sie?«
»Absolut gar nichts.«
»Sie kommen hierher, Sie lügen mich an, Sie bedrohen mich in meinem eigenen Haus – und Sie wollen nichts? Kommen Sie, Pendergast. Haben Sie den Verdacht, dass eins dieser Stücke gestohlen ist? Falls ja, warum besprechen wir die Sache dann nicht wie Gentlemen?«
»Ich bezweifle, dass sich das gestohlene Objekt, das ich suche, in Ihrer Sammlung befindet.«
Morin betupfte sich mit einem Seidentaschentuch die Stirn. »Bestimmt verfolgen Sie ein Ziel mit Ihrem Besuch, haben irgendeine Forderung!«
»Zum Beispiel?«
»Ich habe keine Ahnung«, stieß der Mann wütend hervor. »Wollen Sie Geld? Ein Geschenk? Alle wollen etwas! Jetzt sagen Sie schon!«
»Tja nun«, sagte Pendergast, »da Sie darauf bestehen. Ich habe ein kleines tibetisches Porträt dabei – wenn Sie es sich einmal ansehen würden?«
Morin fuhr so schnell herum, dass Asche von seiner Zigarette fiel. »Um Gottes willen, ist das alles? Ja, ich schaue mir Ihr verdammtes Porträt an. Es war nicht notwendig, deswegen diese Drohungen auszustoßen.«
»Ich bin ja so froh, das zu hören. Ich fürchtete schon, Sie könnten sich als nicht kooperativ erweisen.«
»Ich sagte doch, ich werde kooperieren!«
»Wunderbar.«
Pendergast nahm das Porträt heraus, das der Mönch ihm gegeben hatte, und reichte es Morin. Der Mann rollte es auf, griff nach seiner Brille, setzte sie auf und betrachtete das Porträt. Dann nahm er die Brille ab und gab Pendergast das Rollbild zurück. »Modern. Wertlos.«
»Ich bin nicht wegen eines Gutachtens hier. Sehen Sie sich das Gesicht an. Hat dieser Mann Ihnen einen Besuch abgestattet?«
Morin zögerte, griff wieder nach dem Bild und musterte es genauer. Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Doch, ja – ich erkenne den Mann. Wer um alles in der Welt hat dieses Porträt gemalt? Es ist in perfektem thangka-Stil gehalten.«
»Hat er Ihnen etwas zum Kauf angeboten?«
Morin zögerte. »Sie arbeiten doch nicht mit diesem … Individuum zusammen, oder?«
»Nein. Ich suche ihn. Und das, was er gestohlen hat.«
»Ich habe ihn und sein Objekt weggeschickt.«
»Wann war er hier?«
Morin stand auf und sah in einem großformatigen Kalender nach. »Vorgestern, um vierzehn Uhr. Er hatte einen Kasten dabei. Er habe gehört, dass ich mit tibetischer Kunst handle, sagte er.«
»Wollte er verkaufen?«
»Nein. Es war höchst eigenartig. Er wollte den Kasten nicht einmal öffnen. Er nannte das Stück ein ›Agozyen‹. Diesen Begriff habe ich noch nie gehört, dabei gibt es praktisch niemanden, der mehr über tibetische Kunst weiß als ich. Ich hätte ihn ja sofort rausgeworfen, aber der Kasten war echt und sehr, sehr alt – ein wunderschönes Stück, mit einer archaischen tibetischen Inschrift, die ihn auf das zehnte Jahrhundert oder sogar davor datierte. Diesen Kasten hätte ich gerne gehabt, und ich war sehr neugierig auf den Inhalt. Aber er wollte nicht verkaufen. Er wollte eine Art Teilhaberschaft eingehen. Er brauche eine Finanzierung, sagte er. Für irgendeine bizarre Wanderausstellung mit dem Gegenstand in dem Kasten, der, wie er behauptete, die Welt in Erstaunen versetzen würde. Sie verwandeln, so drückte er sich, glaube ich, aus. Aber er weigerte sich strikt, mir das Objekt zu zeigen, bevor ich nicht auf seine Bedingungen einginge. Selbstredend fand ich den Vorschlag absurd.«
»Wie haben Sie reagiert?«
»Ich habe versucht, ihn zu überreden, den Kasten zu öffnen. Sie hätten den Mann sehen sollen. Er fing langsam an, mir Angst einzujagen, Mr Pendergast. Das war ein Verrückter.«
Pendergast nickte. »Wieso?«
»Er stieß ein irres Lachen aus und erklärte, ich würde die Gelegenheit meines Lebens verpassen. Er würde nach London fahren, wo er einen Sammler kannte, sagte er.«
»Die Gelegenheit Ihres Lebens? Wissen Sie, was er damit meinte?«
»Er brabbelte irgendwelchen Unsinn, dass er die Welt verändern würde. Pazzesco.«
»Wissen Sie, welchen Sammler er in London aufsuchen wollte?«
»Einen Namen hat er nicht erwähnt. Aber ich kenne die meisten.« Er kritzelte etwas auf ein Blatt Papier und reichte es Pendergast. »Hier haben Sie ein paar Namen.«
»Warum ist er zu Ihnen gekommen?«, fragte Pendergast.
Morin spreizte die Hände. »Warum sind Sie zu mir gekommen, Mr Pendergast? Ich bin der führende Händler für asiatische Kunstgegenstände in Italien.«
»Ja, das stimmt wohl. Niemand hat bessere Stücke als Sie – weil niemand weniger Skrupel hat.«
»Da haben Sie Ihre Antwort«, sagte Morin nicht ohne einen Anflug von Stolz.
Die Klingel schellte beharrlich. Jemand hämmerte mit Fäusten gegen die Tür. »Polizia!«, hörte man eine gedämpfte Stimme.
»Lavinia?«, rief Morin. »Bitte schicken Sie die Polizei mit bestem Dank weg. Die Sache mit dem unerwünschten Besucher hat sich erledigt.« Er wandte sich wieder Pendergast zu. »Konnte ich Ihre Neugier befriedigen?«
»Ja, besten Dank.«
»Ich hoffe, die Dokumente in Ihrer Aktentasche fallen nicht in die falschen Hände.«
Pendergast öffnete seine Tasche. Heraus quoll ein Stapel alter Zeitungen.
Morin schaute ihn an, und sein Gesicht rötete sich. Dann begann er plötzlich zu lächeln. »Sie sind ebenso skrupellos wie ich.«
»Feuer bekämpft man mit Feuer.«
»Es war alles reine Erfindung, oder?«
Pendergast ließ den Verschluss wieder zuschnappen. »Ja. Außer meinem Kommentar über den Vishnu mit Gefährtinnen. Aber ich bin sicher, Sie finden einen reichen Geschäftsmann, der das Stück kauft und sich daran erfreut, ohne etwas zu merken.«
»Danke. Das ist auch meine Absicht.« Der Händler erhob sich und begleitete Pendergast zur Tür.