13

Roger Mayles schritt, in alle Richtungen grüßend und lächelnd, über die feudale Auslegeware im Mayfair. Die Britannia befand sich seit kaum fünf Stunden in internationalen Gewässern, aber im Casino herrschte bereits Hochbetrieb. Das Rasseln der Spielautomaten und der Lärm an den Blackjack- und Roulettetischen übertönten die Bühnenshow, die gerade im Royal Court auf Deck 4, direkt unterhalb des Casinos, gegeben wurde. Fast alle Anwesenden trugen Smoking oder Abendkleid – die meisten waren sofort nach dem Dinner hinuntergestürmt, ohne sich die Mühe zu machen, sich umzuziehen.

Eine Cocktailkellnerin mit einem mit Champagnergläsern beladenen Tablett trat ihm in den Weg. »Hallo, Mr Mayles«, sagte sie über den Lärm hinweg. »Wie wär’s mit einem Glas?«

»Nein, danke, Schätzchen.«

Ganz in der Nähe jazzte eine Dixieland-Band, was zur Atmosphäre hektischen Amüsements beitrug. Das Mayfair war das lärmendste der drei Casinos der Britannia. Es ist, dachte Mayles, ein ausgelassenes Spektakel, der Gier und dem Mammon geweiht. Am ersten Abend auf See herrschte hier stets das fröhlichste Treiben – noch war niemand von großen Spielverlusten ernüchtert. Mayles zwinkerte der Kellnerin zu, warf einen Blick über die Tische und setzte seinen Weg fort. Über jedem Tisch war in der Decke eine kleine Kuppel aus Rauchglas eingelassen, fast unsichtbar zwischen den glitzernden Kristalllüstern. Die Einrichtung war im Londoner Jahrhundertwende-Stil gehalten, ganz Knittersamt, edles Holz und altes Messing. In der Mitte des gewaltigen Raums erhob sich eine bizarre Skulptur aus blassrosa Eis: Lord Nelson, fälschlicherweise in eine Toga gewandet.

Vor der Bar des Casinos bog Mayles nach rechts ab und blieb vor einer nicht gekennzeichneten Tür stehen. Er zog eine Magnetkarte aus der Tasche, schob sie durch das Lesegerät neben der Tür, und das Schloss sprang auf. Nach einem raschen Blick nach links und rechts schlüpfte er durch den Türspalt, hinaus aus der lärmenden Betriebsamkeit.

Der Raum, den er betrat, hatte keine Deckenlampen. Er wurde von hundert kleinen Monitoren erhellt, die in alle vier Wände eingelassen waren. Jeder zeigte das Casino aus einem anderen Blickwinkel: Aufnahmen aus der Vogelperspektive von Tischen, langen Reihen von Spielautomaten, Kassierern. Dieser Raum war die Überwachungszentrale, wo man Spieler, Croupiers und andere Casinoangestellte gleichermaßen wachsam im Auge behielt.

Zwei Techniker, die Gesichter geisterbleich in dem bläulichen Licht, studierten prüfend die Bildschirme. Victor Hentoff, der Casinomanager, stand hinter ihnen und sah stirnrunzelnd auf die Monitore. Den Großteil der kommenden sechs Tage würde er damit zubringen, zwischen den drei Schiffscasinos hin und her zu pendeln, und er hatte schon so lange auf Überwachungsmonitore gestarrt, dass er die Augen fast ständig leicht zusammenkniff. Als er Mayles eintreten hörte, drehte er sich um.

»Roger«, sagte er mit schroffer Stimme und streckte die Hand aus.

Mayles griff in seine Tasche und zog einen verschlossenen Umschlag heraus.

»Danke.« Hentoff riss den Umschlag mit einem Finger auf. Mehrere Blatt Papier kamen zum Vorschein. »Du liebe Güte«, meinte er, als er sie durchsah.

»Viele niedrig hängende Früchte«, sagte Mayles. »Reif zum Pflücken.«

»Wie wär’s mit einer kurzen Zusammenfassung?«

»Sicher.« Bei allem, was Mayles sonst noch zu tun hatte, erwarteten die Casinoangestellten, dass er ihnen diskret eine Liste der echten Spielernaturen – oder potenziell leichter Beute – zukommen ließ, damit man sich besonders um sie kümmern und ihnen Honig um den Mund schmieren konnte. »Die Gräfin Westleigh ist wieder da, um sich ausnehmen zu lassen. Erinnern Sie sich noch an die Jungfernfahrt der Oceania?«

Hentoff verdrehte die Augen. »Ich kann kaum glauben, dass sie danach noch mal wiedergekommen ist.«

»Sie hat eine Schwäche für Jungfernfahrten. Und für Bakkarat-Dealer. Dann wäre da noch –«

Plötzlich sah Hentoff nicht mehr Mayles an, sondern blickte über die Schulter des Kreuzfahrtdirektors. Im gleichen Moment bemerkte Mayles, dass der Lärmpegel im Raum stark angestiegen war. Er drehte sich um, Hentoffs Blick folgend, und sah mit Bestürzung, dass sein Tischgenosse Pendergast irgendwie in die Überwachungszentrale gelangt war und jetzt die Tür hinter sich schloss.

»Ah, Mr Mayles«, sagte Pendergast. »Hier sind Sie also.«

Die Bestürzung des Kreuzfahrtdirektors wuchs. Er irrte sich selten bei der Auswahl der Passagiere, die er an seinen Tisch bat, aber die Wahl dieses Mannes und seines Mündels war ein Fehler gewesen, den er nicht zu wiederholen gedachte.

Pendergast ließ den Blick über die Monitore an den Wänden gleiten. »Eine reizende Aussicht haben Sie hier.«

»Wie sind Sie hier reingekommen?«, fragte Hentoff scharf.

»Nur ein kleiner Trick.« Pendergast machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Nun, Sie können hier nicht bleiben, Sir. In diesem Bereich haben Passagiere keinen Zutritt.«

»Ich habe nur ein oder zwei kleine Fragen an Mr Mayles, dann bin ich schon wieder weg.«

Der Casinomanager sah Mayles an. »Roger, kennen Sie diesen Passagier?«

»Wir haben zusammen gegessen. Womit kann ich Ihnen helfen, Mr Pendergast?«, erkundigte sich Mayles mit einem einschmeichelnden Lächeln.

»Was ich Ihnen gleich mitteilen werde, ist vertraulich«, sagte Pendergast.

Oh nein, dachte Mayles und spürte, wie seine empfindsamen Nerven sich anspannten. Er hoffte, das würde keine Fortsetzung des morbiden Gesprächs bei Tisch werden.

»Ich bin nicht nur an Bord der Britannia, um mich zu entspannen und die frische Luft zu genießen.«

»Ach ja?«

»Ich bin hier, um einem Freund einen Gefallen zu tun. Sehen Sie, meine Herren, diesem Freund ist etwas gestohlen worden – etwas von großem Wert. Das Objekt befindet sich gegenwärtig im Besitz eines Passagiers dieses Schiffes. Es ist meine Absicht, den Gegenstand aufzuspüren und dem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben.«

»Sind Sie Privatdetektiv?«, wollte Hentoff wissen.

Pendergast überlegte kurz; das Licht der Monitore spiegelte sich in seinen blassen Augen. »Man könnte zweifellos sagen, dass meine Ermittlungen privater Natur sind.«

»Also Privatschnüffler«, sagte Hentoff leicht abschätzig. »Sir, ich muss Sie noch einmal bitten, den Raum augenblicklich zu verlassen.«

Pendergast blickte auf die Monitore und wandte dann seine Aufmerksamkeit wieder Mayles zu. »Es gehört doch zu Ihren Aufgaben, nicht wahr, Mr Mayles, etwas über die einzelnen Passagiere zu wissen?«

»Eine Aufgabe, die mir großen Spaß macht«, erwiderte er.

»Großartig. Dann sind Sie genau der Mann, den ich brauche. Ihre Informationen können mir dabei helfen, den Dieb aufzuspüren.«

»Ich fürchte, wir können keinerlei Informationen über die Passagiere herausgeben.« Mayles’ Ton wurde frostig.

»Aber dieser Mann könnte zu einer Gefahr werden. Er hat einen Mord begangen, um das Objekt in seinen Besitz zu bringen.«

»Dann wird unser Sicherheitspersonal sich um die Angelegenheit kümmern«, erklärte Hentoff. »Ich führe Sie gern hin. Man wird Sie anhören und alles zu den Akten nehmen.«

Pendergast schüttelte den Kopf. »Leider kann ich keine niederen Chargen in meine Ermittlungen einbeziehen. Diskretion ist von allerhöchster Bedeutung.«

»Worum handelt es sich denn bei diesem Objekt?«, fragte Hentoff.

»Ich fürchte, etwas Genaueres kann ich Ihnen nicht sagen. Es ist eine asiatische Antiquität von unschätzbarem Wert.«

»Und woher wissen Sie, dass sie sich an Bord unseres Schiffes befindet?«

Als Antwort zuckten Pendergasts Lippen nur leicht; es hätte ein schwaches Lächeln sein können.

»Mr Pendergast«, sagte Mayles in jenem Ton, den er für renitente Passagiere reservierte. »Sie wollen uns nicht verraten, wonach genau Sie suchen. Sie wollen uns nicht verraten, warum Sie so sicher sind, dass es sich an Bord der Britannia befindet. Sie sind nicht im offiziellen Auftrag hier – und zudem befinden wir uns mittlerweile in internationalen Gewässern. Unsere eigenen Sicherheitskräfte sind für das Gesetz verantwortlich – weder amerikanisches noch britisches Recht gilt hier. So leid es mir tut, wir können Ihre Ermittlungen nicht gutheißen oder Sie in irgendeiner Weise dabei unterstützen. Im Gegenteil, wir würden es ernsthaft übelnehmen, sollten Sie mit Ihren Ermittlungen unsere Passagiere belästigen.« Um den Stachel der Ablehnung zu mildern, schenkte er Pendergast sein gewinnendstes Lächeln. »Das werden Sie sicher verstehen.«

Pendergast nickte langsam. »Ja, doch.« Er verneigte sich leicht und wandte sich zum Gehen. Und dann, die Hand auf dem Türknauf, blieb er stehen.

»Wahrscheinlich wissen Sie«, sagte er beiläufig, »dass eine Gruppe von Kartenzählern in Ihrem Casino aktiv ist?« Er wies unbestimmt mit dem Kopf in Richtung einiger Monitore.

Mayles folgte seinem Blick, aber er war nicht ausgebildet in dieser Art Beobachtung, und alles, was er sah, war dichtes Gedränge an den Blackjack-Tischen.

»Wovon reden Sie?«, fragte Hentoff scharf.

»Kartenzähler. Hochprofessionell und gut organisiert zudem, wenn man bedenkt, wie erfolgreich sie Ihrer, ähm, Aufmerksamkeit entgangen sind.«

»Was für ein Blech!«, sagte Hentoff. »Wir haben nichts dergleichen festgestellt. Was soll das werden, eine Art Spiel?«

»Nicht für die«, versetzte Pendergast. »Jedenfalls nicht in dem Sinn, wie Sie es gerne hätten.«

Einen Moment sahen Pendergast und der Casinomanager einander an. Dann stieß Hentoff einen verärgerten Zischlaut aus und wandte sich an einen seiner Techniker. »Wie hoch sind die laufenden Einnahmen?«

Der Techniker griff nach dem Telefon und tätigte einen raschen Anruf. Dann sah er Hentoff an. »Das Mayfair ist zweihunderttausend Pfund im Minus, Sir.«

»Wo gab es die Verluste?«

»An den Blackjack-Tischen, Sir.«

Hentoff drehte sich rasch zu den Monitoren um, starrte kurz darauf und fragte dann: »Welche sind es?«

Pendergast lächelte. »Ah! Ich fürchte, sie sind gerade gegangen.«

»Wie praktisch. Und wie genau haben sie die Karten gezählt?«

»Es schien sich um eine Variante der ›roten Sieben‹ oder des ›K. O.‹ zu handeln. Das lässt sich schwer mit Sicherheit sagen, schließlich habe ich die Bildschirme nicht genau beobachtet. Und die Tarnung dieser Leute ist so gut, dass sie bislang offenbar noch nie aufgeflogen sind, denn anderenfalls hätten Sie ihre Fotos in der Datenbank, und Ihre Gesichtserkennungssysteme hätten Alarm geschlagen.«

Während er zuhörte, wurde Hentoffs Gesicht immer röter. »Woher um alles in der Welt wissen Sie das?«

»Wie Sie bereits sagten, Mr – Hentoff, nicht wahr? Ich bin Privatschnüffler

Einen langen Augenblick herrschte Schweigen. Die beiden Techniker saßen da wie erstarrt und wagten nicht, den Blick von ihren Monitoren abzuwenden.

»Es ist klar, dass Sie in dieser Angelegenheit ein wenig Unterstützung brauchen könnten, Mr Hentoff. Ich würde sie Ihnen gerne gewähren.«

»Im Gegenzug für unsere Hilfe bei Ihrem kleinen Problem«, sagte Hentoff sarkastisch.

»Genau.«

Wieder herrschte angespanntes Schweigen. Endlich seufzte Hentoff. »Herrgott noch mal! Also, was genau wollen Sie?«

»Ich habe größtes Zutrauen in Mr Mayles’ Fähigkeiten. Er hat Zugang zu den Akten aller Passagiere. Es ist seine Aufgabe, gesellschaftlich mit allen Leuten an Bord zu verkehren, Fragen zu stellen, Informationen zu sammeln. Er ist bestens in der Lage, mir bei den Ermittlungen behilflich zu sein. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, Mr Mayles, dass zu viele Passagiere sich belästigt fühlen könnten – ich bin nur an einer Handvoll interessiert. Ich würde gerne wissen, beispielsweise, ob eine dieser Personen irgendetwas im Zentralsafe deponiert hat, ob ihre Kabinen auf der »Kein Zutritt«-Liste für das Reinigungspersonal stehen … solche Sachen.« Dann wandte er sich an Hentoff. »Und Ihre Hilfe werde ich vielleicht auch brauchen.«

»Wobei?«

»Beim – wie sagt man noch mal so schön – Schmieren des Getriebes.«

Hentoff blickte von Pendergast zu Mayles.

»Ich denke darüber nach«, murmelte der Kreuzfahrtdirektor.

»Um Ihretwillen hoffe ich«, sagte Pendergast, »dass Sie dazu nicht allzu lange brauchen. In nur fünf Stunden zweihunderttausend Pfund im Minus – das ist ein ziemlich hässlicher Trend.« Mit einem Lächeln verließ er ohne ein weiteres Wort die Überwachungszentrale.