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Scott Blackburn hockte im Schneidersitz zwischen den Ruinen seines Appartements. Der Salon bot ein Bild der Verwüstung. Seltenes Porzellan, kostbares Kristall, erlesene Ölgemälde, Skulpturen aus Jade und Marmor – das alles war kunterbunt durcheinandergewirbelt und lag, zerbrochen und zerschlagen, unten an einer Wand der Kabine.
Blackburn nahm das alles nicht wahr. Während der Krise hatte er sich mit seinem kostbarsten, seinem wertvollsten, seinem einzigen Besitz in einen Schrank geflüchtet, es fest an die Brust gedrückt und vor jedem Schaden geschützt. Aber jetzt, da das Schlimmste vorbei war und das Schiff den Hafen anlief – was er immer schon gewusst hatte –, hängte er es mit liebevoller Geste in seinem Salon an seinem goldenen Haken auf.
Sein Besitz – das stimmte nicht ganz. Wenn überhaupt, dann hatte es Besitz von ihm ergriffen.
Er zog das Mönchsgewand fester um seinen sportlichen Körper, setzte sich auf den Boden vor das Agozyen und nahm die Lotusstellung ein, wobei er den Blick kein einziges Mal in Richtung des Mandalas schweifen ließ. Er war allein, herrlich allein – sein Zimmermädchen war gegangen, vielleicht auch tot. Niemand würde seine Kommunion mit dem Nichtendenden und dem Endlosen stören. Er erschauerte vor unwillkürlicher Freude ob der bloßen Erwartung dessen, was gleich kommen würde. Es war wie eine Droge – die vollkommenste, ekstatischste, befreiendste Droge; und er bekam nicht genug davon.
Bald würde der Rest der Welt an seinem Verlangen teilhaben.
Er saß ruhig da. Sein Herzschlag und auch seine Gedanken kamen allmählich zur Ruhe. Schließlich, mit einer Bedachtsamkeit, die ebenso köstlich wie verrückt machend war, hob er den Kopf und erlaubte seinen Augen, das grenzenlose Wunder und Mysterium des Agozyens zu schauen.
Aber noch währenddessen drang etwas in seine private Welt ein. Eine unerklärliche Kühle ließ seine Glieder unter dem seidenen Gewand erzittern. Ein Gestank breitete sich im Zimmer aus – ein Geruch nach Pilzen und tiefem Wald, der den milden Wohlgeruch der Butterkerzen völlig überdeckte. Unruhe verscheuchte seine Gefühle der Erwartung und der Begierde. Es war fast so, als ob …, aber nein, das konnte nicht sein …
Plötzlich empfand er Angst und schaute sich über die Schulter um. Zu seinem transzendenten Grauen und Entsetzen war es da – nicht versessen darauf, seinen Feind zur Strecke zu bringen, sondern vielmehr, sich ihm mit einem förmlich spürbaren Hunger und Verlangen zu nähern. Rasch erhob er sich, aber es war bereits auf ihm, drang in ihn ein, erfüllte seine Glieder wie seine Gedanken gleichermaßen mit einer brennenden, alles verzehrenden Begierde. Blackburn wich zurück, mit einem gurgelnden Schrei, fiel über einen Beistelltisch und stürzte krachend zu Boden, doch er spürte bereits, dass die lebende Essenz gnadenlos aus ihm herausgesaugt wurde und ganz und gar in die finstere, ruhelose Leere hineingezogen wurde, aus der es keine Wiederkehr gab …
Schon bald senkte sich erneut Stille über das Appartement. Die gutturalen Schreie und die Geräusche des Kampfes verklangen in der raucherfüllten, salzhaltigen Luft. Eine Minute verstrich, dann zwei. Schließlich wurde die Eingangstür mit einer Ausweiskarte geöffnet. Special Agent Pendergast trat ein. Er blieb im Eingangsflur stehen und betrachtete das Bild der Verwüstung. Dann trat er über das Durcheinander der zerbrochenen Kunstgegenstände, präzise und behutsam wie eine Katze, und begab sich in den Salon. Scott Blackburn lag ausgestreckt auf dem Teppich – reglos, die Gliedmaßen merkwürdig verrenkt, als wären die Knochen und Sehnen und inneren Organe allesamt aus ihm herausgesogen worden, so dass nur ein loser, leerer Hautsack übrig geblieben war. Pendergast schenkte ihm nur einen ganz flüchtigen Blick.
Er trat über die Leiche und näherte sich dem Agozyen. Streng darauf bedacht, den Blick abzuwenden, streckte er die Hand aus, so wie jemand die Hand nach einer giftigen Schlange ausstreckt. Er ließ den seidenen Überwurf über die Vorderseite des Gemäldes fallen und tastete behutsam an den Rändern entlang, um sich zu vergewissern, dass jeder Zentimeter verhüllt war. Dann – erst dann – drehte er sich um, um es anzusehen, hob es von seinem goldenen Haken, rollte es sorgfältig zusammen und klemmte es sich unter den Arm. Schließlich zog er sich leise und rasch aus der Suite zurück.