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Es war Mitternacht, als Maddie Edmondson, grässlich gelangweilt, über den zentralen Korridor auf Deck 3 schlenderte. Ihre Großeltern hatten ihr die Reise zum sechzehnten Geburtstag geschenkt, und damals war es ihr wie eine gute Idee vorgekommen. Aber niemand hatte ihr gesagt, was sie erwartete – nämlich dass das Schiff eine schwimmende Hölle war. In die Bereiche, in denen man wirklich Spaß haben konnte – die Diskotheken und die Clubs, wo die Zwanzigjährigen abhingen, die Casinos –, wurden Mädchen ihres Alters nicht reingelassen. Und die Shows, in die sie reinkam, waren eher etwas für die über Hundertjährigen. Antonios Magic Revue, die Blue Man Group und Michael Bublé, der Frank Sinatra imitierte – es war ein Witz. Sie hatte alle Filme gesehen, die Swimmingpools waren aufgrund der schaukligen See geschlossen. Die Speisen in den Restaurants waren zu ausgefallen, und sie fühlte sich zu seekrank, um die Pizzerien oder Hamburgerläden genießen zu können. Sie konnte nichts tun – außer in den Lounges abhängen, umgeben von Achtzigjährigen, die an ihren Hörgeräten herumfummelten.
Das einzig Interessante, das bisher passiert war, war diese irre Erhängung im Belgravia. Also das war wirklich was: die alten Leutchen, die sich auf ihre Stöcke stützten und krächzten, die Großväter, die sich räusperten und die buschigen Augenbrauen hochzogen, die Offiziere und Matrosen, die wie aufgescheuchte Hühner herumliefen. Es war ihr egal, was die Leute sagten, es musste ein Gag sein, eine Requisite, irgendein Werbegag für den neuen Film. Im wirklichen Leben starben Menschen einfach nicht so, nur im Film.
Sie trat durch den Eingang aus Goldlamé und grünem Glas ins Trafalgar’s, den angesagtesten Club auf dem Schiff. Laute, wummernde House Music dröhnte aus dem dunklen Inneren. Sie blieb stehen und sah hinein. Schlanke Gestalten – Uni-Typen und junge Akademiker – tanzten in einem Nebel aus Rauch und flackerndem Licht. Vor der Tür stand der übliche Rausschmeißer: schlank und attraktiv und im Smoking, aber trotzdem ein Rausschmeißer, der fest entschlossen war, Minderjährige wie Maddie davon abzuhalten, hineinzukommen und sich zu vergnügen.
Schlechtgelaunt schlenderte sie weiter den Gang entlang. Obwohl in den Clubs und Casinos echt was los war, waren ein paar von den alten Leutchen, die normalerweise die Durchgänge und Läden in Scharen frequentierten, verschwunden. Die waren wahrscheinlich in ihren Kabinen, versteckten sich unter ihren Betten. Was für ein Witz! Verdammt, sie hoffte, dass man nicht wirklich die Ausgangssperre verhängte, von der sie gerüchteweise gehört hatte. Das wäre das Ende. Schließlich war es doch nur ein Gag gewesen – oder?
Sie fuhr mit dem Lift eine Ebene nach unten, schlenderte an den Läden der Regent Street, der exklusiven Shopping-Arkade, vorbei, stieg wieder eine Treppe hinauf. Ihre Großeltern waren schon zu Bett gegangen, aber sie war kein bisschen müde. Sie war die vergangene Stunde auf diese Weise, ziellos und lustlos, mit den Füßen über die Teppiche schlurfend, auf dem Schiff herumspaziert. Aufseufzend zog sie ein kleines Headset aus der Handtasche, schob es sich in die Ohren und wählte Justin Timberlake auf ihrem iPod.
Sie kam zu einem Aufzug, trat ein und drückte – während sie die Augen schloss – aufs Geratewohl einen Knopf. Der Fahrstuhl fuhr kurz hinab, hielt an, und sie stieg aus – noch einer der endlosen Gänge, dieser etwas schmaler, als sie es gewohnt war. Sie drehte die Lautstärke ihres Music-Players höher und schlurfte über den Flur, bog ab, stieß mit dem Fuß eine Tür auf, auf der ein Schild angebracht war, das sie gar nicht erst las, lief leichtfüßig eine Treppe hinunter und spazierte weiter. Der Gang machte wieder eine Biegung, und während sie so weiterschlenderte, hatte sie plötzlich das Gefühl, verfolgt zu werden.
Sie blieb stehen, um nachzusehen, wer es war, aber der Gang war leer. Sie ging ein paar Schritte zurück und sah um die Ecke. Nichts.
Musste irgend so ein Schiffsgeräusch gewesen sein. Hier unten dröhnte und vibrierte der Kahn wie irgendeine Monster-Tretmühle.
Sie ging weiter. Noch vier Tage bis nach New York. Sie konnte es kaum erwarten, endlich nach Hause zu kommen und ihre Clique zu treffen.
Da war es wieder: dieses Gefühl, verfolgt zu werden.
Sie blieb abrupt stehen, zog diesmal allerdings die Ohrstöpsel raus. Sie sah sich um, aber wieder war niemand da. Wo war sie überhaupt? Sie sah nur einen weiteren Korridor vor sich. Besprechungszimmer oder so was Ähnliches lagen auf beiden Seiten. Der Gang war ungewöhnlich leer.
Sie warf den Kopf mit einer ungeduldigen Geste in den Nacken. Ihr wurde doch wohl nicht angst und bange, so wie den alten Leutchen? Sie spähte durch ein Fenster in einen der Räume und sah einen langen Tisch mit Computern – ein Internetcafé. Sie überlegte, ob sie hineingehen und ein bisschen surfen sollte, entschied sich aber dagegen. Die guten Websites waren garantiert blockiert.
Als sie sich von dem Fenster abwandte, registrierte sie etwas aus dem Augenwinkel und sah jemanden, der gerade um die Ecke hinter ihr bog.
»Hallo!«, rief sie. »Ist da jemand?«
Keine Antwort.
Wahrscheinlich nur ein Zimmermädchen – auf dem Schiff wimmelte es von denen. Sie ging weiter, aber schneller jetzt, behielt die Ohrstöpsel in der Hand. Das hier war sowieso ein trister Bereich des Schiffs; sie sollte wieder nach oben gehen, dahin, wo die Läden waren. Im Gehen hielt sie Ausschau nach einer der Schautafeln, die überall angebracht waren, damit man wusste, wo man war. Doch während sie das tat, hätte sie schwören können, Schritte auf dem Teppich gehört zu haben, durch das Brummen des Schiffes hindurch.
Quatsch. Sie ging noch schneller, bog wieder ab, dann noch einmal, immer noch, ohne zu einer Übersichtskarte oder einem Bereich zu kommen, den sie kannte – einfach nur weitere endlose Korridore. Außer dass ihr nun auffiel, dass der Teppich durch Linoleum ersetzt worden war.
Ihr wurde klar, dass sie einen der nicht öffentlichen Bereiche betreten hatte und das Zutritt-verboten-Schild übersehen haben musste. Vielleicht war’s die Tür gewesen, die sie mit dem Fuß aufgestoßen hatte. Aber sie wollte nicht denselben Weg zurückgehen, auf gar keinen Fall.
Hinter sich hörte sie definitiv Schritte, rascher ausschreitend jetzt, die schneller und langsamer wurden, je nachdem, wie schnell sie ging. Folgte ihr irgend so ein Spanner? Vielleicht sollte sie rennen – sie könnte einem alten Perversen jederzeit davonlaufen.
Sie kam zu einer Seitentür, schlüpfte hindurch, stieg eine Metalltreppe hinunter und gelangte auf noch einen langen Korridor. Hinter sich hörte sie das Geklapper von Schritten auf der Treppe.
Und da fing sie an zu rennen.
Der Gang beschrieb einen Knick und endete schließlich vor einer Tür mit einem Schild mit roter Schrift.
MASCHINENRAUM.
ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL
Sie packte den Türgriff. Abgeschlossen. Drehte sich voller Panik um und hielt den Atem an. Hörte Laufschritte, die über den Korridor hallten. Wieder versuchte sie, die Tür zu öffnen, rüttelte am Griff und schrie. Ihr iPod rutschte aus der Tasche und schlitterte unbeachtet über den Boden.
Wieder drehte sie sich um und sah sich hektisch nach einer anderen Tür um, einem Notausgang, irgendetwas.
Die Schritte kamen immer näher; und da bog plötzlich eine Gestalt um die Ecke.
Maddie schrak zusammen, ein Schrei stieg in ihrer Kehle auf – aber dann, als sie die Gestalt genauer betrachtete, brach sie zusammen und schluchzte vor lauter Erleichterung. »Gott sei Dank, Sie sind’s. Ich dachte schon, jemand würde mich verfolgen. Ich weiß auch nicht. Ich hab mich verlaufen. Total. Ich bin so froh, dass Sie …«
Das Messer zuckte so schnell vor, dass sie nicht einmal Zeit hatte, zu schreien.