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Paul Bitterman trat aus dem Fahrstuhl, schwankte und hielt sich an dem polierten Chromgeländer fest. Die Britannia fuhr in schwerer See, aber das war nur ein Teil des Problems; Bitterman kämpfte mit der konzertierten Wirkung eines übermäßig gehaltvollen Dinners und neun Gläsern alten Champagners.
Immer noch die Hand am Geländer, blickte er den eleganten Gang auf Deck 9 rauf und runter und versuchte, sich zu orientieren. Er hob eine Hand an den Mund und produzierte bewusst einen Rülpser, der – ekelhaft – nach Kaviar, Trüffelpastete, Crème brulée und trockenem Champagner schmeckte. Er kratzte sich träge. Irgendetwas sah hier nicht richtig aus.
Nach etwa einer Minute war er dahintergekommen. Statt den Aufzug an Backbord zu nehmen, so wie er es meistens tat, hatte er in seinem Champagnerrausch irgendwie den Steuerbordfahrstuhl genommen. Na ja, das ließ sich leicht wieder hinbiegen. Er summte unmelodisch und tastete in der Hosentasche nach seiner Ausweiskarte zur Suite 961. Er ließ das Geländer los, ging eine kurze Strecke vorsichtig in die, wie er glaubte, richtige Richtung – aber nur um festzustellen, dass die Zimmernummern in die falsche Richtung wiesen.
Er blieb stehen; drehte sich um; rülpste noch einmal, diesmal ohne sich die Mühe zu geben, die Hand vor den Mund zu halten; dann ging er zurück in die andere Richtung. Er war wirklich erstaunlich benebelt, und um etwas klarer im Kopf zu werden, versuchte er, die Ereignisse zu rekonstruieren, die ihn – zum ersten Mal in seinen dreiundfünfzig Jahren – in einen Zustand gebracht hatten, der Betrunkenheit nahekam.
Das Ganze hatte am Nachmittag begonnen. Seit dem Aufwachen war er seekrank – hatte keinen Bissen herunterbekommen –, außerdem schien keines der rezeptfreien Medikamente aus der Schiffsapotheke auch nur im Geringsten zu helfen. Schließlich war er in die Krankenstation gegangen, wo ihm ein Arzt ein Scopolamin-Pflaster gegeben hatte. Er hatte es sich, wie vorgeschrieben, hinter das Ohr geklebt und war in seine Suite zurückgegangen, um ein Nickerchen zu halten.
Ob es die elende Nacht gewesen war, die er verbracht hatte, oder ob das Pflaster selbst ihn schläfrig gemacht hatte, wusste Paul Bitterman nicht. Doch als er um Viertel nach neun abends aufgewacht war, war er gottlob frei von Seekrankheit und hatte einen trockenen Mund und einen übermenschlichen Hunger. Er hatte sein turnusmäßiges Acht-Uhr-Dinner verschlafen, aber mit einem kurzen Anruf hatte er sich eine Reservierung für die letzte Essensschicht des Abends, um halb elf im Kensington Gardens gesichert.
Wie sich dann herausstellte, gefiel das Kensington Gardens ihm ungeheuer gut. Es war schicker, jugendlicher und hipper als das reichlich spießige Restaurant, in dem er bisher gegessen hatte, es gab ein paar wirklich appetitliche Frauen anzuschauen, und das Essen war ausgezeichnet. Überraschenderweise war das Restaurant nicht voll – ehrlich gesagt, war es halbleer. Weil er einen Riesenappetit hatte, bestellte er Chateaubriand für zwei und aß dann die gesamte Portion. Eine ganze Flasche Champagner hatte zwar gereicht, um seinen Durst zu löschen, aber der aufmerksame Weinkellner war nur zu glücklich gewesen, ihm eine zweite zu bringen.
Am Nebentisch hatte man über merkwürdige Dinge gesprochen: Ein besorgt aussehendes Ehepaar unterhielt sich über irgendeine Leiche, die anscheinend aufgetaucht war. Möglicherweise hatte er da irgendein wichtiges Ereignis verschlafen. Während er langsam, vorsichtig über den Gang auf Deck 9 schlurfte, beschloss er, der Sache gleich morgen früh auf den Grund zu gehen.
Aber es gab da noch ein Problem. Die Zimmernummern wiesen inzwischen zwar in die richtige Richtung – 954, 956 –, aber es waren alles gerade Zahlen.
Er blieb stehen, hielt sich wieder am Flurgeländer fest und versuchte nachzudenken. Bei diesem Tempo würde er 961 nie finden. Dann lachte er laut auf. Paul, alter Kumpel, du setzt nicht dein Hirn ein. Er war auf der Steuerbordseite herausgekommen, und die Suiten mit den ungeraden Ziffern befanden sich, so wie seine, alle auf der Backbordseite. Wie hatte er das nur vergessen können? Er musste also eine Querverbindung finden. Er machte sich wieder auf den Weg, ganz leicht schwankend, wobei der Nebel in seinem Kopf von einem angenehm schwebenden Gefühl in den Gliedern wettgemacht wurde. Er beschloss, ob nun Diakon oder nicht, öfter mal Champagner zu trinken. Einheimisches Zeug natürlich – er hatte diese Reise in der CVJM-Tombola gewonnen und hätte sich von seinem Gehalt zwei Flaschen echten Champagner niemals leisten können.
Links vor ihm war eine Unterbrechung in der Reihe der Türen zu sehen: der Eingang zu einem der mittschiffs gelegenen Foyers. Der Eingang würde zum Backbordflur und seiner Kabine führen. Er torkelte durch die Tür.
Die Lobby bestand aus einem Paar von Aufzügen gegenüber einer gemütlichen Lounge mit Bücherborden aus Eiche und Lehnstühlen. Zu dieser späten Stunde war der Raum menschenleer. Bitterman zögerte, schnüffelte. Irgendetwas lag in der Luft – wie Rauch. Für einen Moment verließ ihn das Gefühl der trägen Hochstimmung; er hatte zwar an genügend Sicherheitsübungen teilgenommen, um zu wissen, dass ein Brand die größte Gefahr auf einem Schiff darstellte. Aber dieser Duft war ungewöhnlich. Er war wie Weihrauch oder, genauer gesagt, wie die Räucherstäbchen, die er einmal in einem nepalesischen Restaurant in der Chinatown von San Francisco gerochen hatte.
Seine Schritte wurden langsamer, als er die Lobby zum dahinterliegenden Backbordkorridor durchquerte. Hier herrschte relative Stille, und er spürte nur das tiefe Dröhnen der Dieselmotoren des Schiffes weit unter sich. Der Geruch wurde stärker – viel stärker. Der eigenartige, moschusartige Duft war vermischt mit anderen, tieferen, weitaus weniger angenehmen Düften – modrige Pilze, vielleicht, zusammen mit etwas, das er nicht bestimmen konnte. Er hielt stirnrunzelnd inne. Dann blickte er kurz zurück in die Lobby und bog in den Backbordflur.
Und blieb jählings stehen, auf der Stelle nüchtern.
Weiter vorn sah er die Quelle des Geruchs: eine dunkle Rauchwolke, die seinen Weg den Gang hinunter versperrte. Doch es war kein Qualm, wie er ihn je gesehen hatte, merkwürdig undurchdringlich, mit einer dichten, dunkelgrauen Farbe und einer gerippten Oberfläche, die ihn – auf irgendeine bizarre Weise – an Leinen erinnerte.
Paul Bitterman holte tief, hörbar Luft. Etwas stimmte hier nicht – ganz und gar nicht.
Rauch müsste eigentlich durch die Luft schweben, an den Rändern zerfasern. Aber diese Wolke lag einfach da, mannsgroß, seltsam bösartig, reglos, als fordere sie ihn heraus. Sie war so regelmäßig und glatt, dass sie wie eine feste, eine organische Größe wirkte. Der Gestank war so stark, dass es ihm fast den Atem verschlug. Diese Wolke war grotesk, völlig fremdartig.
Er spürte, wie sein Herz plötzlich vor Angst schneller schlug. War das hier seine Einbildung, oder hatte die Wolke die Gestalt eines Menschen? Da waren Tentakel, die wie Arme aussahen; ein tonnenartiger Kopf mit einem Gesicht, merkwürdige Beine, die sich bewegten, als tanzten sie … O Gott, die Wolke sah gar nicht aus wie ein Mensch, sondern wie ein Dämon …
Und da streckte das Ding langsam seine zottigen Arme aus und bewegte sich, mit einer fürchterlichen, wellenförmigen Zielstrebigkeit, langsam auf ihn zu.
»Nein!«, schrie Bitterman. »NEIN! Geh weg! Geh weg!«
Bei seinen verzweifelten Rufen öffneten sich etliche Kabinentüren auf dem Backbordkorridor an Deck 9. Es entstand ein kurzer, elektrisch aufgeladener Augenblick der Stille. Dann Keuchen; erstickte Schreie; der dumpfe Aufprall eines ohnmächtigen Körpers, der auf dem Teppich zusammenbrach; das hektische Zuknallen von Türen. Bitterman hörte nichts davon. All seine Aufmerksamkeit, jede Faser seines Wesens war fixiert auf dieses monströse Etwas, das näher glitt, immer näher …
Und dann war alles vorbei.