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Constance Greene schlug die Augen auf, und ihr ganzer Körper entriss sich dem Schlaf mit einem gedämpften Schrei. Die Welt stürzte wieder auf sie ein – das Schiff, das schwankende Zimmer, das Prasseln des Regens, das Donnern der Wellen und das Heulen des Windes.

Sie starrte auf den dgongs. Er lag, unordentlich eingerollt, um einen sehr alten Fetzen zerknitterter Seide. Er war gelöst worden – endgültig.

Entsetzt blickte sie zu Pendergast. Noch während sie ihn anschaute, hob er leicht den Kopf, und seine Augen erwachten wieder zum Leben, die silbrigen Regenbogenhäute funkelten im Kerzenschein. Ein merkwürdiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. »Du hast die Meditation abgebrochen, Constance.«

»Du hast versucht … mich ins Feuer zu zerren«, stieß sie atemlos hervor.

»Natürlich.«

Eine Welle der Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Es war ihr nicht gelungen, ihn aus der Finsternis zu befreien, stattdessen hatte er sie fast mit hineingezogen.

»Ich habe versucht, dich von den irdischen Fesseln zu befreien«, sagte er.

»Mich befreien«, wiederholte sie verbittert.

»Ja. Damit du wirst, was du sein willst: frei von den Ketten des Gefühls, der Moral, der Grundsätze, der Ehre, der Tugend und all dieser unwichtigen Dinge, die dazu dienen, uns mit allen anderen in der menschlichen Sklavengaleere anzuketten. Auf dass wir ins Nichts rudern.«

»Und genau das hat das Agozyen mit dir angestellt«, sagte sie. »Es hat alle moralischen und ethischen Hemmungen weggefegt. Lass deinen dunkelsten, soziopathischsten Wünschen freien Lauf. Das hat es auch mir angeboten.«

Pendergast stand auf und streckte die Hand aus. Constance schlug nicht ein.

»Du hast den Knoten gelöst«, sagte sie.

Er antwortete, seine Stimme leise und merkwürdig vibrierend vor Triumph: »Ich habe ihn nicht angefasst. Niemals.«

»Aber wie …?«

»Ich habe ihn mit meinem Geist gelöst.«

Sie sah ihn immer noch ungläubig an. »Das ist nicht möglich.«

»Es ist nicht nur möglich, sondern es ist geschehen, wie du sehen kannst.«

»Die Meditation hat versagt. Du bist derselbe.«

»Die Meditation hat durchaus gewirkt, meine liebe Constance. Ich habe mich verändert – ungeheuer verändert. Dank deines Insistierens, das hier zu tun, habe ich nun die Macht, die mir das Agozyen geschenkt hat, vollends verwirklicht. Die Kraft des reinen Gedankens – des Geistes über die Materie. Ich habe ein immenses Reservoir an Macht angezapft, und das kannst du auch.« Seine Augen funkelten leidenschaftlich. »Es handelt sich hier um eine außerordentliche Demonstration des Agozyen-Mandalas und seiner Fähigkeit, den Geist und das Denken des Menschen in ein Werkzeug von kolossaler Kraft zu verwandeln.«

Ein Gefühl des Grauens stahl sich in Constances Herz.

»Du hast mich zurückholen wollen«, fuhr er fort. »Du wolltest mein altes, törichtes Selbst wiederherstellen. Aber stattdessen hast du mich vorangebracht. Du hast die Tür geöffnet. Und nun, meine liebe Constance, bist du an der Reihe, befreit zu werden. Erinnerst du dich an unsere kleine Abmachung?«

Sie brachte kein Wort heraus.

»Nun gut. Es ist jetzt an dir, das Agozyen anzuschauen.«

Sie zögerte noch immer.

»Wie du willst.« Er stand auf und packte den Leinensack. »Ich bin es leid, auf dich aufzupassen.« Er ging zur Tür, oh-ne Constance anzusehen, und warf sich den Sack über die Schulter.

Voller Entsetzen stellte sie fest, dass er sie nicht mehr wertschätzte als irgendeinen anderen Menschen.

»Warte …«, begann sie.

Ein Schrei schnitt ihr jäh die Worte ab. Die Tür flog auf, und Marya taumelte rückwärts herein. Hinter dem Zimmermädchen sah sie ganz kurz etwas Graues, Waberndes, das sich auf sie zubewegte.

Woher kam dieser Rauch? Stand das Schiff in Flammen?

Pendergast ließ den Sack fallen und trat einen Schritt zurück. Zu ihrer Verblüffung sah sie einen Ausdruck des Schreckens, ja der Angst in seinen Zügen.

Es blockierte die Tür. Wieder kreischte Marya, während das Etwas sie einhüllte, ihre Schreie erstickte.

Während dieses Ding durch die Tür kam, wurde es einen Moment lang von einer Leuchte im Eingangsflur erhellt. Und dann sah Constance, mit einem Gefühl wachsender Irrealität, eine seltsame Präsenz tief im Inneren des Rauchs, ein Wesen mit zwei blutunterlaufenen Augen, einem dritten auf der Stirn – ein Dämon, der ruckte und sich bewegte und sich voranschleppte, als sei er verkrüppelt … oder, vielleicht, als tanzte er …

Marya kreischte zum dritten Mal und sank zu Boden – Glas zersprang, ihre Augen verdrehten sich, flackerten, zuckten. Das Etwas war inzwischen an ihr vorbeigegangen, es erfüllte den Salon mit feuchter Kälte und dem Gestank nach verfaulenden Pilzen, drängte Pendergast in eine Ecke; und dann war es auf ihm, in ihm, verschlang ihn, und er stieß einen erstickten Schrei von einer solch reinen Todesangst, einer solch durchdringenden Verzweiflung aus, dass es Constance durch Mark und Bein ging.