75
Pendergast lag lang ausgestreckt, ringsum herrschte gellende Nacht. Er hatte eine letzte, nahezu übermenschliche Anstrengung unternommen, um sich zu verteidigen, hatte alle Verstandeskräfte, die das Agozyen ihm übertragen hatte, um sich geschart – und sie dabei erschöpft. Es hatte nichts gebracht. Die tulpa war bis in sein Mark eingesunken, in den tiefsten Kern seines Geistes vorgedrungen. Er verspürte eine fürchterliche Fremdheit in sich, wie die Entpersönlichung von der übelsten Art bei einem Panikanfall. Eine feindselige Entität war damit beschäftigt, ihn unaufhaltsam, unerbittlich zu verschlingen … und wie ein von einem Alptraum gelähmter Mensch konnte er ihr keinen Widerstand leisten. Es war eine seelische Agonie, die weitaus schlimmer war als die entsetzlichste körperliche Folter.
Er widerstand einen endlosen, unbeschreiblichen Augenblick lang. Und dann, ganz plötzlich, stürmte eine gesegnete Dunkelheit über ihn herein.
Wie lange er so dalag – außerstande, zu denken, außerstande, sich zu bewegen –, wusste er nicht. Und dann ertönte, aus dem Dunkel, eine Stimme. Eine Stimme, die er nur allzu gut kannte.
»Findest du nicht, dass es an der Zeit ist, miteinander zu sprechen?«
Langsam – zögernd – schlug Pendergast die Augen auf. Er befand sich in einem kleinen, schwach erhellten Raum mit einem niedrigen, geneigten Dach. Auf der einen Seite sah er eine Gipswand, an der Schatzkarten und mit Buntstift und Kreide gemalte Kinderzeichnungen berühmter Gemälde hingen; auf der anderen eine Gittertür. Im schwachen nachmittäglichen Licht schwebten Staubpartikel träge in der Luft und verliehen dem geheimen Raum den jenseitigen Schein einer unterseeischen Grotte. Hier und da lagen Bücher von Howard Pyle, Arthur Ransome und Booth Tarkington. Der Raum roch angenehm nach altem Holz und Bohnerwachs.
Ihm gegenüber saß sein Bruder, Diogenes Pendergast. Sein Körper lag in tiefem Schatten, doch das Gitterlicht fiel auf seine scharfen Gesichtszüge. Beide Augen waren haselnussbraun – so wie sie es vor dem Ereignis gewesen waren.
Das hier war ihr Versteck gewesen, die kleine Kammer, die sie sich unter der Hintertreppe in der alten Villa eingerichtet hatten; »Platons Höhle« hatten sie es genannt. Ihr Bau war das Letzte gewesen, was sie zusammen gemacht hatten, ehe die schlechten Zeiten begannen.
Pendergast starrte seinen Bruder ungläubig an. »Du bist tot.«
»Tot.« Diogenes rollte das Wort im Mund, als würde er es schmecken. »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Aber ich werde auf ewig in deinem Geist leben. Und in diesem Haus.«
Eine höchst unerwartete Antwort. Pendergast hielt einen Moment inne, um die eigenen Empfindungen zu analysieren: Der fürchterliche, bohrende Schmerz der tulpa war verschwunden, zumindest fürs Erste. Er empfand nichts. Keine Überraschung, nicht einmal ein Gefühl der Irrealität. Er befand sich wohl in irgendeinem unergründlich tiefen Winkel seines Unbewussten.
»Du steckst ziemlich tief in der Klemme«, fuhr sein Bruder fort. »Vielleicht tiefer, als du es je gewesen bist. Es betrübt mich, zugeben zu müssen, dass diese Situation diesmal nicht von mir verursacht wurde. Und deshalb frage ich dich noch einmal: Findest du nicht, es ist Zeit, miteinander zu sprechen?«
»Ich kann sie nicht besiegen«, sagte Pendergast.
»Ganz genau.«
»Und sie kann nicht getötet werden.«
»Stimmt. Sie wird dich erst verlassen, wenn ihre Mission erfüllt ist. Aber das heißt nicht, dass sie nicht beherrscht werden kann.«
Pendergast zögerte. »Was willst du damit sagen?«
»Du hast die Literatur studiert. Du kennst dich in den Lehren aus. Eine tulpa ist chronisch unzuverlässig, unberechenbar.«
Pendergast antwortete nicht sofort.
»Sie kann zu einem speziellen Zweck heraufbeschworen werden. Aber wenn sie erst einmal herbeigerufen wurde, neigt sie dazu, umherzuschweifen, eigene Absichten zu entwickeln. Das ist auch der Grund, warum sie so sehr, sehr gefährlich sein kann, sobald sie – wie soll ich sagen? – verantwortungslos verwendet wird. Aber das kannst du zu deinem Vorteil nutzen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich dich verstehe.«
»Muss ich dir das wirklich erklären, frater? Ich habe dir doch gesagt: Es ist möglich, eine tulpa dem eigenen Willen zu unterwerfen. Du musst lediglich ihre Zielsetzung ändern.«
»Ich bin nicht in der Lage, irgendetwas zu ändern. Ich habe mit ihr gerungen – bis ans Ende meiner Kräfte gekämpft – und bin besiegt worden.«
Diogenes grinste. »Das sieht dir ähnlich, Aloysius. Du bist es so sehr gewohnt, dass dir alles leichtfällt, dass du dich bei den ersten Anzeichen von Schwierigkeiten verhältst wie ein bockiges Kind.«
»Alles, was mich als Person ausmachte, ist aus mir herausgesogen worden, wie Mark aus einem Knochen. Es ist nichts mehr übrig.«
»Du irrst. Nur die äußere Schale wurde weggerissen, diese vermeintliche Superwaffe des Intellekts, die du dir unlängst zugelegt hast. Der Kern deines Seins bleibt bestehen – zumindest vorerst. Wäre er nicht mehr da, völlig verschwunden, würdest du es wissen – und wir würden jetzt nicht miteinander sprechen.«
»Was soll ich tun? Ich kann nicht mehr kämpfen.«
»Das ist genau das Problem. Du betrachtest es von der falschen Seite: als Kampf. Hast du alles vergessen, was die dich gelehrt haben?«
Einen Augenblick lang starrte Pendergast seinen Bruder nur verständnislos an. Dann begriff er, ganz plötzlich.
»Der Lama«, hauchte er.
Diogenes lächelte. »Bravo.«
»Wieso …« Pendergast zögerte, setzte wieder an. »Warum weißt du von diesen Dingen?«
»Du kennst sie auch. Für den Augenblick warst du nur zu … überspannt, um sie sehen zu können. Nun geh und sündige nicht mehr.«
Pendergast wandte den Blick von seinem Bruder ab und schaute auf die Streifen goldenen Lichts, die durch die Gittertür hereinfielen. Es erstaunte ihn ein wenig, dass er Angst hatte, dass er alles lieber täte, als durch diese Tür zu treten.
Er atmete tief durch und zwang sich, die Tür zu öffnen.
Abermals umfing ihn gähnende, leidenschaftliche Schwärze. Wieder näherte sich das hungrige, einhüllende Ding; wieder fühlte er die fürchterliche Fremdheit in seinem Inneren, wie sie durch seine Gedanken und durch seine Glieder fuhr. Es schlich sich in seine archaischsten Gefühle. Es war eine Schändung: intimer, gefräßiger und unersättlicher als alles, was er sich jemals vorgestellt hatte. Er fühlte sich mutterseelenallein, jenseits von Anteilnahme oder Beistand – und das war auf seine Weise schlimmer als jeder Schmerz.
Er atmete noch einmal tief durch, mobilisierte seine letzten Reserven körperlicher und emotionaler Kraft. Er würde nur eine Chance haben; danach würde er auf ewig verloren sein, völlig verzehrt.
Er leerte seinen Geist, so gut er konnte, schob das gefräßige Etwas zur Seite und erinnerte sich an die Lehren des Lamas über die Begierde. Er stellte sich einen See vor, ziemlich salzhaltig, präzise auf Körpertemperatur, von unbestimmter Farbe. Er visualisierte sich darauf treibend, völlig regungslos. Dann – und das war das Schwierigste – hörte er langsam auf zu kämpfen.
Fürchtest du die Auslöschung?, fragte er sich.
Eine Pause. Nein.
Kümmert es dich, wenn du in der Welt aufgehst?
Wieder eine Pause. Nein.
Bist du bereit, alles aufzugeben?
Ja.
Dich dem Ding völlig hinzugeben?
Schneller jetzt: Ja.
Dann bist du bereit.
Seine Glieder verkrampften sich in einem langen Schauer, dann entspannten sie sich. In seinem gesamten geistigen und körperlichen Sein – in jedem Muskel, jeder Synapse – spürte er, dass die tulpa zögerte. Es entstand ein merkwürdiger, völlig unaussprechlicher Moment der Stasis. Dann, langsam, lockerte das Ding seinen Griff.
Und währenddessen ließ Pendergast zu, dass ein neues Bild – einzeln, machtvoll, unausweichlich – sich in seinem Geist formte.
Wie aus weiter Ferne hörte er, wie ein Bruder wieder etwas sagte: Vale, frater.
Einen Augenblick lang wurde Diogenes erneut sichtbar. Dann begann er, so schnell wie er gekommen war, zu entschwinden.
»Warte«, sagte Pendergast. »Geh nicht.«
»Aber ich muss.«
»Ich muss es wissen. Bist du wirklich tot?«
Diogenes gab ihm keine Antwort.
»Warum hast du das getan? Warum hast du mir geholfen?«
»Ich habe es nicht für dich getan«, antwortete Diogenes. »Ich habe es für mein Kind getan.« Und als er dann in dem umfassenden Dunkel verschwand, schenkte er ihm zum Abschied ein kleines, geheimnisvolles Lächeln.
Constance saß im Lehnstuhl zu Pendergasts Füßen. Ein Dutzend Mal hatte sie die Waffe gehoben und auf sein Herz gerichtet; ein Dutzend Mal hatte sie gezögert. Sie hatte es kaum bemerkt, als das Schiff sich plötzlich aufrichtete, als es erneut mit hoher Geschwindigkeit vorwärtsfuhr. Für sie existierte die Britannia nicht mehr.
Sie konnte einfach nicht mehr warten. Es war grausam, ihn leiden zu lassen. Er war gütig zu ihr gewesen; sie sollte respektieren, da war sie sich sicher, was seine Wünsche sein würden. Sie packte die Waffe fester und hob sie mit neuer Entschlossenheit.
Pendergast erschauerte heftig. Kurz darauf schlug er die Augen auf.
»Aloysius?«
Einen Augenblick lang rührte er sich nicht. Dann nickte er ihr zu.
Plötzlich nahm sie den Rauch-Geist wahr. Er hatte sich neben der Schulter des Agenten materialisiert. Für einen Moment war er still. Dann schwebte er erst dorthin, dann dahin, fast wie ein Hund, der etwas beschnüffelt. Kurz danach schwebte er davon.
»Misch dich nicht ein«, flüsterte Pendergast. Und einen Moment lang fürchtete Constance, die fürchterliche Veränderung sei noch immer in Aloysius. Aber dann schlug er wieder die Augen auf und sah sie an, und da erkannte sie, dass es anders war.
»Du bist zurückgekommen.«
Er nickte.
»Wie?«, flüsterte sie.
Als er ihr antwortete, klang seine Stimme ungeheuer schwach. »Das, was ich auf mich nahm, als ich das Agozyen erblickte, ist in meinem Kampf weggeschmolzen. Nicht anders als das Wachs beim Wachsausschmelzverfahren. Übrig geblieben ist nur … das Original.«
Schwach hob er eine Hand. Wortlos kniete sie sich neben ihn, umklammerte seine Finger.
»Lass mich ausruhen«, flüsterte er. »Zwei Minuten – nicht länger. Dann müssen wir gehen.«
Sie nickte, warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Die tulpa schwebte über Constances Schulter davon. Als sie sich umdrehte, um ihr hinterherzusehen, waberte die tulpa langsam, aber mit unerbittlicher Zielstrebigkeit durch die Eingangstür der Suite, über Maryas reglose Gestalt und weiter, hinein ins Mysterium.