15
Der Erste Offizier Gordon LeSeur hatte im Laufe seiner beruflichen Karriere schon auf Dutzenden von Schiffsbrücken Dienst getan, von Zerstörern bis zu Kreuzfahrtschiffen. Die Kommandobrücke der Britannia ähnelte keiner von ihnen. Sie war ruhiger, ultramodern, geräumig – und vom Gefühl her seltsam unnautisch mit ihren vielen Computermonitoren, elektronischen Steuerpulten, Skalen und Druckern. Alles auf der Brücke war auf dem allerneuesten Stand der Technik. Am ehesten erinnerte sie, sinnierte LeSeur, an den Kontrollraum eines französischen Kernkraftwerks, das er im vorigen Jahr besichtigt hatte. Das Ruder hieß jetzt »Hauptstation des integrierten Brückensystems« und der Kartentisch »Zentrales Navigationspult«. Das Steuerrad war ein prachtvolles Ding aus Mahagoni und blankpoliertem Messing, aber es existierte nur, weil Passagiere, die die Brücke besichtigten, so etwas sehen wollten. Der Steuermann rührte es nie an – manchmal fragte LeSeur sich, ob es überhaupt angeschlossen war. Der Steuermann manövrierte das Schiff mit Hilfe von vier Joysticks, je einem für die vier Antriebsgondeln, die »Pods«, plus einem Paar für das Bugstrahlruder. Die Hauptmotoren wurden mit einer Reihe von Hebeln kontrolliert, die an das Cockpit eines Flugzeugs denken ließen. Das Ganze erinnerte eher an ein Computerspiel als an eine traditionelle Schiffsbrücke.
Direkt unterhalb der riesigen Fensterfront, die sich von Backbord bis Steuerbord erstreckte, befanden sich Dutzende von Computerstationen: Steuer- und Kontrollgeräte, Kommunikationssysteme, Wetterkarten, Satellitenbilder. Es gab zwei Kartentische, ordentlich mit Seekarten bestückt, die aber niemand zu benutzen schien.
Soll heißen, niemand außer ihm.
LeSeur warf einen Blick auf die Uhr: zwanzig Minuten nach Mitternacht. Er schaute aus den Vorderfenstern. Das Lichtermeer des gewaltigen Schiffs erhellte den schwarzen Ozean nach allen Seiten auf Hunderte von Metern, aber die See war so weit unten – vierzehn Decks –, dass sie sich, wenn das langsame Schlingern nicht gewesen wäre, ebenso gut hoch oben auf einem Wolkenkratzer hätten befinden können. Jenseits des Lichtkreises lag dunkle Nacht, der Seehorizont war kaum wahrnehmbar. Längst hatten sie erst den Leuchtturm von Falmouth und dann den Leuchtturm von Penzance passiert. Jetzt lag bis New York nur offener Ozean vor ihnen.
Seit der Southamptoner Lotse, der das Schiff aus dem Ärmelkanal gesteuert hatte, von Bord gegangen war, war die Brücke voll bemannt. Zu stark bemannt sogar. Alle Chefoffiziere wollten an der ersten Etappe der Jungfernfahrt der Britannia teilhaben, des größten Schiffes, das je die sieben Weltmeere durchpflügt hatte.
Carol Mason, der Stellvertretende Kapitän, sprach mit dem Wachoffizier. Ihre Stimme war so ruhig wie die Brücke selbst. »Wie ist die Lage, Mr Vigo?« Die Frage wurde nur pro forma gestellt – die neue Schiffselektronik lieferte laufend sämtliche Informationen auf Anzeigefeldern, die für jeden sichtbar waren. Aber Mason war traditionell eingestellt – und peinlich genau.
»Geschwindigkeit siebenundzwanzig Knoten, Kurs zwei fünf zwei, kaum Verkehr, Seegang Stärke drei, leichte Brise aus Backbord. Meeresströmung von etwas über einem Knoten aus Nordost.«
Der Brückenausguck meldete dem Wachoffizier: »Schiff ungefähr vier Strich Steuerbord voraus, Sir.«
LeSeur warf einen Blick auf das ECDIS, das elektronische Kartendarstellungs- und Informationssystem, und sah den Radarpunkt.
»Haben Sie es, Mr Vigo?«, fragte Mason.
»Ich habe es verfolgt, Sir. Sieht aus wie ein Mammuttanker, Geschwindigkeit zwanzig Knoten, zwölf Seemeilen entfernt. Unsere Kurse kreuzen sich.«
Niemand war sonderlich beunruhigt. LeSeur wusste, dass sie das Wegerechtschiff waren, das Schiff, das Vorfahrt hatte, und dem anderen Schiff blieb reichlich Zeit, den Kurs zu ändern.
»Lassen Sie es mich wissen, wenn es den Kurs ändert, Mr Vigo.«
»Ja, Sir.«
In LeSeurs Ohren klang es immer leicht merkwürdig, eine Frau mit »Sir« anzusprechen, obwohl er wusste, dass das sowohl bei der Marine als auch in der zivilen Schifffahrt üblich war. Schließlich gab es nur sehr wenige Frauen, die Captain waren.
»Fällt das Barometer immer noch?«, fragte Mason.
»Einen halben Punkt in den letzten dreißig Minuten.«
»Sehr gut. Gegenwärtigen Kurs halten.«
LeSeur warf einen heimlichen Blick auf den Stellvertretenden Kapitän. Mason sprach nie über ihr Alter, aber er nahm an, dass sie vierzig war, vielleicht einundvierzig – bei Leuten, die ihr Leben auf See verbrachten, war das manchmal schwer zu sagen. Sie war groß und stattlich, sehr attraktiv auf eine kompetente, nüchterne Art. Ihr Gesicht war leicht gerötet, was vielleicht auf den Stress ihrer ersten Fahrt als Kapitän zurückzuführen war. Ihr braunes Haar war kurz, und sie trug es stets unter die Kapitänsmütze geschoben. Er beobachtete sie, wie sie sich über die Brücke bewegte, gelegentlich auf einen der Monitore schaute oder leise ein Wort mit einem Mitglied der Brückenbesatzung wechselte. In vielerlei Hinsicht war sie der perfekte Offizier: ruhig und freundlich, weder diktatorisch noch kleinlich, fordernd, ohne herrschsüchtig zu sein. Sie erwartete viel von den Leuten unter ihrem Kommando, aber sie selbst arbeitete härter als jeder andere. Und sie strahlte eine Art Magnetismus aus, eine Aura von Verlässlichkeit und Professionalität, die man nur bei den besten Offizieren fand. Die Besatzung war ihr treu ergeben, und das mit Recht.
Ihre Anwesenheit auf der Brücke war nicht erforderlich, ebenso wenig wie seine. Aber alle wollten in der ersten Nacht der Jungfernfahrt der Britannia auf der Brücke sein und zusehen, wie Mason das Schiff kommandierte. Wenn alles mit rechten Dingen zugegangen wäre, hätte sie den Chefposten auf der Britannia bekommen müssen. Was mit ihr passiert war, war eine Schande, eine echte Schande.
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür, und Commodore Cutter trat ein. Augenblicklich änderte sich die Atmosphäre im Raum. Muskeln spannten sich an, Gesichter wurden starr. Der Wachoffizier setzte eine beflissene Miene auf. Nur Mason schien unbeeindruckt. Sie kehrte zum Navigationspult zurück, schaute aus dem Brückenfenster und sprach leise mit dem Steuermann.
Cutters Rolle war – zumindest theoretisch – größtenteils zeremoniell. Er war das öffentliche Gesicht des Schiffes, der Mann, zu dem die Passagiere aufschauten. Sicher, er hatte das Kommando, aber auf den meisten Luxuslinern sah man den Kapitän selten auf der Brücke. Die tatsächliche Führung des Schiffes wurde dem Stellvertretenden Kapitän überlassen.
Man konnte den Eindruck gewinnen, dass das auf dieser Fahrt anders sein würde.
Commodore Cutter trat einen Schritt vor, marschierte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, über die Brücke und studierte die Monitore. Er war ein kleiner, kräftig gebauter Mann mit eisengrauem Haar und fleischigem Gesicht, tiefrosa sogar im gedämpften Licht der Brückenbeleuchtung. Seine Uniform war stets makellos.
»Der Tanker ändert den Kurs nicht«, sagte der Wachoffizier zu Mason. »CPA neun Minuten. Er ist auf konstantem Kurs und kommt näher.«
Eine leichte Anspannung begann sich aufzubauen.
Mason kam herüber und studierte das ECDIS. »Funker, rufen Sie ihn auf Kanal sechzehn.«
»Schiff an meiner Steuerbordseite«, sagte der Funker, »Schiff an meiner Steuerbordseite, hier ist die Britannia. Verstehen Sie mich?« Keine Reaktion, nur Geknister.
»Schiff an meiner Steuerbordseite, können Sie mich empfangen?«
Eine Minute verging. Cutter stand wie festgewachsen auf der Brücke, Hände auf dem Rücken verschränkt, und beobachtete schweigend die Vorgänge.
»Er ändert den Kurs noch immer nicht«, sagte der Wachoffizier zu Mason. »CPA acht Minuten, und er ist auf Kollisionskurs.«
LeSeur war sich bewusst, dass die Lage allmählich ungemütlich wurde: Die beiden Schiffe näherten sich einander mit einer vereinten Geschwindigkeit von vierundvierzig Knoten. Wenn der Mammuttanker nicht bald seinen Kurs änderte, würde es haarig werden.
Mason beugte sich über das ECDIS und studierte die Anzeige. Alle waren alarmiert, ein plötzliches Gefühl von Beunruhigung breitete sich auf der Brücke aus. Das erinnerte LeSeur an einen Ausspruch einer seiner Offiziere in der Royal Navy: Seefahrt ist zu neunzig Prozent Langeweile und zehn Prozent Schrecken. Ein Mittelding gab es nicht. Er warf einen Blick auf Cutter, dessen Gesicht ausdruckslos war, und dann auf Mason, die ganz gelassen blieb.
»Was machen die denn da?«, fragte der Wachoffizier.
»Nichts«, versetzte Mason trocken. »Und das ist das Problem.« Sie trat einen Schritt vor. »Mr Vigo, ich übernehme die Schiffsführung für das Ausweichmanöver.«
Vigo trat zur Seite, Erleichterung im Gesicht.
Sie drehte sich zum Steuermann um. »Ruder zwanzig Grad nach Backbord.«
»Aye, Ruder zwanzig Grad –«
Plötzlich unterbrach Cutter die Bestätigung des Befehls: »Captain Mason, wir sind das Wegerechtschiff.«
Mason, die sich über das ECDIS gebeugt hatte, richtete sich auf. »Ja, Sir. Aber dieser Mammuttanker hat fast null Manövrierfähigkeit, und wir sind vielleicht schon über den Punkt hinaus, wo –«
»Captain Mason, ich wiederhole: Wir sind das Wegerechtschiff.«
Auf der Brücke herrschte angespanntes Schweigen. Cutter wandte sich an den Steuermann. »Kurs halten, zwei fünf zwei.«
»Aye, Sir, Kurs halten, zwei fünf zwei.«
LeSeur konnte jetzt die Lichter des Tankers vorn auf Steuerbordseite sehen; sie wurden heller. Er spürte, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Es stimmte, sie hatten eindeutig Vorfahrt, und das andere Schiff sollte ausweichen, aber manchmal musste man sich den Gegebenheiten anpassen. Die fuhren wahrscheinlich auf Autopilot und waren mit anderen Dingen beschäftigt. Wer weiß, vielleicht waren sie alle in der Offiziersmesse, guckten Pornos oder lagen betrunken auf dem Fußboden.
»Betätigen Sie das Horn«, sagte Cutter.
Das große Horn der Britannia, hörbar über fünfzehn Seemeilen, sandte ein tiefes Bellen über die nächtliche See. Fünf Signaltöne – das Gefahrensignal. Beide Brückenausgucke waren auf Station und starrten mit Ferngläsern voraus. Die Anspannung wurde unerträglich.
Cutter beugte sich über die Schiffsverkehrs-Funkanlage. »Kreuzendes Schiff auf meiner Steuerbordseite, hier ist die Britannia. Wir sind das Wegerechtschiff, Sie müssen den Kurs ändern. Verstehen Sie mich?«
Das Zischen einer leeren Frequenz.
Wieder ertönte das Horn. Die Lichter des Mammuttankers waren mittlerweile einzeln erkennbar. LeSeur konnte sogar das schwache Licht von der Brücke des Tankers sehen.
»Captain«, sagte Mason, »ich weiß nicht, ob sie, selbst wenn sie jetzt noch den Kurs ändern –«
»CPA vier Minuten«, sagte der Wachoffizier.
Mit schierer Ungläubigkeit dachte LeSeur: Scheiße, wir werden zusammenstoßen.
Entsetztes Schweigen legte sich über die Brücke. Die Britannia gab noch einmal das Gefahrensignal.
»Er weicht nach Steuerbord aus«, sagte der Ausguck. »Er ändert den Kurs, Sir!«
Die Schiffssirene des Tankers tönte über das Wasser, drei kurze Signale, die anzeigten, dass das Schiff in einem Notfallmanöver auswich. Wird auch langsam Zeit, dachte LeSeur.
»Kurs halten«, sagte Cutter.
LeSeur starrte auf das ECDIS. Quälend langsam berechnete das System den Kurs des Mammuttankers neu. Mit einer Welle der Erleichterung erkannte der Erste Offizier, dass sie sich aus dem Gefahrenbereich bewegten; der Mammuttanker würde an Steuerbord passieren. Spürbare Entspannung auf der Brücke, man hörte Stimmengemurmel, ein paar leise Flüche.
Vollkommen ungerührt wandte Cutter sich an den Stellvertretenden Kapitän. »Captain Mason, dürfte ich fragen, warum Sie die Geschwindigkeit auf vierundzwanzig Knoten reduziert haben?«
»Vor uns liegt widriges Wetter, Sir«, erwiderte Mason. »Die Regeln der Geschäftsordnung besagen, dass die Passagiere in der ersten Nacht der Überfahrt langsam an die offene See gewöhnt werden sollen …«
»Ich kenne die Regeln der Geschäftsordnung«, unterbrach Cutter sie. Er sprach langsam und ruhig, was irgendwie viel einschüchternder war, als Gepolter es gewesen wäre. Er wandte sich an den Steuermann. »Erhöhen Sie die Geschwindigkeit auf dreißig Knoten.«
»Aye-aye, Sir.« Die Stimme des Steuermanns klang völlig neutral. »Erhöhe Geschwindigkeit auf dreißig Knoten.«
»Mr Vigo, Sie können die Wache wieder übernehmen.«
»Aye, Sir.«
Cutter richtete den Blick auf Mason. »Da wir gerade von den Regeln der Reederei sprechen, es ist zu meiner Aufmerksamkeit gelangt, dass einer der Offiziere dieses Schiffes vorhin dabei gesehen wurde, wie er die Kabine eines Passagiers verließ.«
Er hielt inne, bis die Tragweite seiner Bemerkung zu allen durchgedrungen war.
»Ob es eine sexuelle Liaison gab oder nicht, ist irrelevant. Wir alle kennen die Regeln hinsichtlich der Fraternisierung mit Passagieren.«
Die Hände auf dem Rücken verschränkt, schaute er jedem Offizier ins Gesicht; Mason kam als Letzte dran.
»Ich darf Sie daran erinnern, dass das hier nicht das Traumschiff ist. Ein derartiges Verhalten wird nicht geduldet werden. Welche Indiskretionen die Passagiere auch begehen mögen, meine Besatzungsmitglieder dürfen sich nicht auf diese Weise kompromittieren.«
Erstaunt sah LeSeur, dass die Röte auf Masons Gesicht sich vertieft hatte.
Sie kann es unmöglich gewesen sein, dachte er. Sie wäre die Letzte, die gegen die Regeln verstößt.
Die Tür zur Brücke öffnete sich, Patrick Kemper, der Sicherheitschef der Britannia, trat ein. Als er Cutter sah, ging er zu ihm. »Sir, ich –«
»Nicht jetzt«, sagte Cutter. Kemper verstummte.
Auf jedem großen Kreuzfahrtschiff, auf dem LeSeur Dienst getan hatte, bestand die Hauptverantwortung des Kapitäns darin, mit den Passagieren zu plauschen, den Vorsitz bei langen, fröhlichen Dinners am Captain’s Table zu führen und das öffentliche Gesicht des Schiffes zu sein. Der Stellvertretende Kapitän, nominell Zweiter in der Befehlskette, war für die Führung des Schiffes verantwortlich. Aber Cutter genoss den Ruf, die Händeschüttel-Pflichten zu verachten, und wie es schien, würde er diese Gewohnheit auch bei seiner ersten Fahrt als Kapitän der Britannia beibehalten. Er war ein Offizier der alten Schule, früherer Kapitän zur See bei der Königlichen Marine, stammte aus einer adeligen Familie und war wohl, wie LeSeur vermutete, etwas über seine Kompetenzen hinaus befördert worden. Vor ein paar Jahren war Cutters erbittertster Rivale zum Kapitän der Olympia ernannt worden, was er nie verwunden hatte. Er hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt und seine Beziehungen spielen lassen, um das Kommando der Britannia zu bekommen – das von Rechts wegen Mason hätte zufallen sollen. Und jetzt hatte er offenbar vor, alles in seiner Macht Stehende zu tun, damit diese Jungfernfahrt zum Höhepunkt seiner Karriere wurde – was einschloss, den Rekord für die schnellste Atlantiküberquerung zu brechen, den die Olympia erst im letzten Jahr aufgestellt hatte. Ungünstiges Wetter würde ihn nicht aufhalten, dachte LeSeur grimmig, es würde nur seine Entschlusskraft stählen. Kreuzfahrtschiffe schlugen einen Ausweichkurs ein, wenn schlechtes Wetter aufkam, aber ein Oceanliner, ein richtiger Oceanliner auf Transatlantikroute, fuhr mitten hindurch.
LeSeur schaute Mason an. Sie blickte aus den Vorderfenstern, ruhig und gelassen; der einzige Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmte, war ihre schnell verfliegende Röte im Gesicht. Bislang, auf den Probefahrten und dem heutigen ersten Tag der Jungfernreise, hatte sie die Härte und Kritik des Commodore mit Gleichmut ertragen. Sogar dass sie bei der Beförderung übergangen worden war, schien sie nicht sonderlich aufzuregen. Vielleicht hatte sie sich mittlerweile an den Chauvinismus auf hoher See gewöhnt und sich eine dicke Haut zugelegt. Der Kapitänsposten eines Ozeanriesen war offenbar eine der letzten männlichen Bastionen in der zivilisierten Welt. Mason war sich zweifellos der unausgesprochenen Regel bewusst, die in der Kreuzfahrtbranche galt: egal wie fähig sie war, einer Frau würde nie die Führung eines der großen Ozeanriesen anvertraut werden.
»Geschwindigkeit unter dem Bug dreißig Knoten, Sir«, meldete der Steuermann.
Cutter nickte und wandte sich an den Sicherheitschef. »Gut, Mr Kemper, was ist los?«
Obwohl der Mann mit starkem Bostoner Akzent sprach und in vielerlei Hinsicht ein typischer Amerikaner war, betrachtete LeSeur ihn als verwandte Seele. Das lag vielleicht daran, dass sie beide aus Arbeitervierteln in Hafenstädten am Atlantik stammten. Kemper, der früher Polizist gewesen war, hatte einen Drogendealer erschossen, der gerade seinen Kollegen umbringen wollte. Er wurde zum Helden, kündigte aber trotzdem. Offenbar war er nicht damit zurechtgekommen. Dennoch war er ein verflixt guter Sicherheitsbeamter, selbst wenn es ihm an Selbstvertrauen fehlte. Dieser Mangel war vermutlich eine der Nebenwirkungen, wenn man einen Menschen erschossen hatte.
»Captain, wir haben ein Problem im Casinobetrieb«, sagte Kemper.
Cutter wandte sich ab und sprach zu dem Mann, als wäre er gar nicht da. »Mr Kemper, die Casinos sind für die Führung des Schiffes ohne Belang. Der Erste Offizier wird sich um die Sache kümmern.« Ohne auch nur einen Blick für LeSeur wandte er sich an den Wachoffizier. »Rufen Sie mich, wenn Sie mich brauchen, Mr Vigo.« Damit marschierte er schneidig über die Brücke und verschwand durch die Tür.
»Das hier ist nicht das Traumschiff«, murmelte LeSeur. »Was für ein selbstgefälliger …«
Mason sagte schneidig, aber nicht unfreundlich: »Es war vollkommen korrekt von Commodore Cutter, das anzusprechen.«
»Ja, Sir.« Mit freundlichem Lächeln wandte LeSeur sich an Kemper. »Schön, Mr Kemper, was gibt es für Probleme im Casino?«
»Offenbar haben wir eine Gruppe von Kartenzählern an Bord, die die Blackjack-Tische abräumt.«
»Oje.«
»Erst war das Mayfair zweihunderttausend Pfund im Minus, dann das Covent Garden um hunderttausend.«
Das war eine Sache, die das Management wirklich in Rage versetzen würde. LeSeur spürte, wie sein Augenlid leicht zuckte. »Haben Sie die Leute identifiziert?«
»Selbstverständlich wissen wir, wer die Gewinner sind, aber wir wissen nicht, wer einfach Glück hatte und wer gezählt hat. Sie arbeiten im Team: Spieler und Zähler. Die Zähler spielen nicht – sie beobachten und geben den Spielern Zeichen. Wie Sie wissen, sind sie die eigentlichen Falschspieler.«
»Nein, das wusste ich nicht. Und es ist kein Zufall?«
»Unwahrscheinlich. Hentoff macht sich Sorgen. Sie erinnern ihn an diese Studentenclique, die Vegas vor ein paar Jahren um drei Millionen erleichtert hat.«
Das unangenehme Gefühl in der Magengegend wurde stärker. Die Britannia war schließlich nicht Las Vegas, wo man Leute achtkantig rauswerfen konnte, die man beim Kartenzählen ertappte. Das hier waren zahlende Passagiere. Passagierschiff-Reedereien waren auf die Gewinne aus den Spielcasinos angewiesen, und eine lautstarke Auseinandersetzung im Casino könnte andere Passagiere vom Spielen abhalten. Trotzdem musste etwas unternommen werden. Eine erfolgreiche Jungfernreise nach New York unter einer Fanfare anbetender Publicity würde die Reederei einen Dreck interessieren, wenn sie im Casino riesige Verluste zu verzeichnen hatte. Schließlich ging es um Geld – zuerst, zuletzt und immer.
»Was schlagen Sie vor?«, fragte er.
»Also, Sir, da ist dieser …« Kemper zögerte, »dieser ungewöhnliche Passagier. Ein reicher Typ, der sich selbst als Privatdetektiv bezeichnet. Er war der Erste, dem das Betrugsmanöver aufgefallen ist, und er hat angeboten, uns dabei zu helfen, die Leute zu identifizieren.«
»Und was will er dafür?«
»Also, sehen Sie …«, stammelte Kemper. »Offenbar ist er an Bord, um einen Gegenstand aufzuspüren, der, wie er behauptet, einem Klienten von ihm gestohlen wurde. Wenn wir ihm Informationen über die Passagiere geben, die er verdächtigt, wird er uns bei den Kartenzählern helfen …« Seine Stimme verlor sich.
»Soweit wir wissen«, erklärte LeSeur energisch, »könnte das alles Zufall sein, und das Mayfair ist gegen Ende der Nacht wieder hunderttausend Pfund im Plus. Warten wir ein paar Stunden ab. Mal sehen, ob die Verluste weitergehen. Aber was auch immer Sie unternehmen, tun Sie es unauffällig. Kein Melodrama.«
»Gut, Sir.«
LeSeur blickte Kemper hinterher. Der Mann tat ihm leid – und er sich selbst auch. Gütiger Himmel, wenn er doch nur wieder in der Royal Navy wäre, wo es keine Casinos, Falschspieler oder neurotischen Passagiere gab.