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Das Büro des Chefs des Sicherheitsdienstes befand sich im zentralen Sicherheitsbereich, einem Labyrinth niedriger Räume auf Deck A, in Höhe der Wasserlinie der Britannia. Pendergast fragte nach dem Weg und passierte zunächst einen bemannten Kontrollpunkt, dann eine ganze Reihe von U-Haft-Zellen sowie einen Umkleideraum mit Duschen und gelangte schließlich in einen großen, kreisrunden Raum mit Dutzenden von Monitoren, auf denen die Bilder von Hunderten, ja vielleicht Tausenden Überwachungskameras gezeigt wurden, die überall an Bord installiert waren. Drei gelangweilte Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes blickten lustlos auf die Monitore, hinter denen sich eine furnierte Tür mit der Aufschrift Kemper befand. Die Tür war zu. Der legendäre Prunk der Britannia reichte nicht bis unterdecks, stellte Pendergast fest. Er klopfte.

»Herein.«

Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Patrick Kemper saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte. Kemper war ein kleiner, stämmiger Mann mit einem großen, massigen Schädel, dicken, knotigen Ohren und einer braunen Perücke. Sein Gesichtsausdruck war gereizt. Das Büro war erstaunlich spartanisch eingerichtet. Mit Ausnahme eines gerahmten Fotos der Britannia und einigen North Star-Werbepostern gab es kaum Dekoratives. Die Uhr an der Wand hinter dem Schreibtischstuhl zeigte Punkt zwölf Uhr mittags.

Kemper legte auf. »Nehmen Sie Platz.«

»Danke.« Pendergast setzte sich auf einen der ungepolsterten Stühle vor dem Schreibtisch. »Sie wollten mich sprechen?«

Kemper zog ein noch gereizteres Gesicht. »Eigentlich nicht. Hentoff hat darum ersucht.«

Pendergast zuckte leicht zusammen, als er Kempers Akzent hörte. »Der Casinomanager ist also auf meinen kleinen Vorschlag eingegangen? Ausgezeichnet. Es wäre mir ein großes Vergnügen, heute Abend, wenn sich die Kartenzähler an die Arbeit machen, den Gefallen zu erwidern.«

»Die Details können Sie mit Hentoff besprechen.«

»Wie freundlich.«

Kemper seufzte. »Ich habe im Moment alle Hände voll zu tun. Ich hoffe deshalb, Sie fassen sich kurz. Was genau brauchen Sie?«

»Zugang zum Haupttresor.«

Die erschöpfte Haltung des Sicherheitschefs veränderte sich jäh. »Auf gar keinen Fall.«

»Ach so – dann war ich wohl fälschlicherweise davon ausgegangen, dass wir eine Abmachung getroffen haben.«

Jetzt sah Kemper ihn ungläubig an. »Die Passagiere sind nicht befugt, den Tresorraum zu betreten, und erst recht nicht, darin herumzuschnüffeln.«

Pendergasts Antwort fiel milde aus. »Man kann sich unschwer vorstellen, was mit dem Leiter des Sicherheitsdienstes, der während einer einfachen siebentägigen Überfahrt einen Verlust in Höhe von einer Million Pfund in den Casinos zugelassen hat, geschehen wird. Hentoff mag für den reibungslosen Ablauf in den Casinos verantwortlich sein, aber was die Sicherheit betrifft, für die sind allein Sie zuständig.«

Es folgte ein kurzes Schweigen. Die Männer musterten sich gegenseitig. Schließlich sagte Kemper leise: »Nur der Erste Offizier, der Stellvertretende Kapitän und der Commodore haben Zutritt zum Tresorraum.«

»Dann schlage ich vor, Sie rufen den Offizier Ihrer Wahl an.«

Kemper sah Pendergast nochmals des Längeren an. Schließlich griff er zum Hörer und wählte. Es folgte ein kurzes, gemurmeltes Gespräch. Als er auflegte, hatte sich seine Miene noch immer nicht ganz aufgehellt. »Der Erste Offizier trifft uns dort.«

 

Es dauerte fünf Minuten, bis sie im Tresorraum ankamen, der sich eine Ebene weiter unten in einem stark gesicherten Bereich des Schiffs auf Deck B befand, in dem auch das Leitkontrollsystem und das Rechenzentrum, die das interne Netzwerk der Britannia steuerten, untergebracht waren. Hier, unterhalb der Wasserlinie, waren die Vibrationen der Dieselmotoren deutlich zu spüren. Der Erste Offizier wartete bereits in der Sicherheitsstation und sah mit dem silbergrauen Haar und der schicken Uniform wie ein Bilderbuch-Schiffskommandant aus.

»Das ist Mr Pendergast«, sagte Kemper ohne den geringsten Anflug von Höflichkeit in der Stimme.

LeSeur nickte. »Wir haben uns gestern Abend kennengelernt. An Roger Mayles’ Tisch.«

Pendergast lächelte milde. »Mein Ruf eilt mir voraus, dank des guten Mr Mayles. Gentlemen, die Situation ist folgende: Ein Kunde hat mich mit der Wiederbeschaffung eines Objektes beauftragt, das ihm gestohlen wurde. Über diesen Gegenstand ist mir dreierlei bekannt: Es handelt sich um ein einzigartiges Kunstwerk tibetischer Provenienz; es befindet sich irgendwo auf dem Schiff; und sein derzeitiger Besitzer, der übrigens ebenfalls auf dem Schiff ist, hat einen Menschen ermordet, um in den Besitz des Objekts zu gelangen.«

Er schlug leicht auf die Brusttasche seines Jacketts. »Meine Liste der Verdächtigen enthält drei Namen von Passagieren, die, laut Mr Mayles, im Tresorraum des Schiffes Gegenstände untergebracht haben. Ich möchte mir diese Objekte einmal kurz anschauen, wenn ich bitten darf.«

»Warum?«, fragte Kemper. »Jede Suite hat ihren eigenen Safe. Wenn das, was Sie sagen, wirklich stimmt, dann würde der Dieb den Gegenstand doch wohl eher dort verstecken.«

»Das Objekt ist einen Meter zwanzig lang. Es ist deshalb zu groß für die Safes in den Zimmern, mit Ausnahme derjenigen in den allergrößten Suiten.«

LeSeur runzelte die Stirn. »Machen wir’s kurz, Mr Pendergast: Sie dürfen sich umsehen, aber nichts anfassen. Mr Kemper, holen Sie bitte einen Ihrer Männer hierher. Ich möchte für das, was jetzt passieren wird, drei Augenzeugen haben.«

Sie passierten die Sicherheitsstation und gingen über einen kurzen Flur, der vor einer nicht gekennzeichneten Tür endete. Der Erste Offizier griff in die Tasche, holte einen Schlüssel an einer Stahlkette heraus und schloss die Tür auf. Kemper zog sie auf, und sie traten ein.

Der Raum war klein. Die Rückwand wurde komplett von einer dicken, kreisrunden Tresortür aus poliertem Stahl eingenommen. LeSeur wartete, bis einer der Security-Leute aus der Sicherheitsstation den Raum betrat. Er zog noch einen Schlüssel aus der Tasche und schob diesen in ein Schloss in der Tresortür. Dann schob er eine Ausweiskarte in ein Kartenlesegerät an der einen Seite des Tresors. Schließlich legte er die Handfläche in einen Handgeometrie-Scanner neben dem Kartenschlitz. Man hörte ein metallisches, dumpfes Geräusch, und über der Tür ging ein rotes Licht an.

LeSeur begab sich zu einem großen Kombinationsschloss, das in die gegenüberliegende Seite der Stahlkammertür eingelassen war. Er verdeckte die Nummernscheibe mit der freien Hand und drehte mehrere Male nach links und rechts. Das Licht über der Tür wechselte auf Grün; LeSeur drehte an einem Rad in der Mitte, dann zog er die schwere Tür zu sich heran, und sie schwang auf.

Das Innere war in wässrig grünes Licht getaucht. Der Tresorraum maß kaum mehr als vier Quadratmeter. Der hintere Teil war durch einen Stahlgittervorhang gesichert. Dahinter lagen, in Schubfächern, die sich schulterhoch aufeinanderstapelten, zahlreiche Metallboxen. Die beiden Seitenwände säumten Sicherheitstüren, einige davon recht groß, ihre glatten Frontseiten glänzten matt in dem fahlen Licht. Jede hatte in der Mitte ein Schlüsselloch und eine Nummer, die unmittelbar darüber in den Stahl geätzt war.

»Ein Tresor im Tresor«, sagte Pendergast. »Höchst beeindruckend.«

»Richtig«, sagte LeSeur. »Nach wem suchen wir?«

Pendergast zog das Blatt aus der Tasche. »Der Erste ist Edward Robert Smecker, Lord Cliveburgh.« Er hielt kurz inne, las. »Nachdem er das Vermögen seiner Vorfahren durchgebracht hatte, suchte er offenbar Zuflucht in kreative Möglichkeiten, um finanziell über die Runden zu kommen. Tummelt sich im Jetset, reist nach Monaco, St. Tropez, Capri und an die Costa Smeralda. Wenn er dort ist, verschwindet immer wieder Schmuck. Nichts von den Juwelen, die er angeblich gestohlen hat, ist je wieder gefunden worden, und er wurde von jeder Anklage freigesprochen. Man nimmt an, dass er die Edelsteine neu schleift und das Metall zu Barren einschmilzt.«

LeSeur drehte sich zu einem Ziffernfeld in der nahe gelegenen Wand um und tippte kurz etwas darauf ein. »Das müsste Nummer 226 sein.« Dann ging er hinüber zu einem kleinen Safe. »Der hier ist nicht groß genug für den von Ihnen erwähnten Gegenstand.«

»Vielleicht lassen sich die Ausmaße des Objekts verringern, indem man es zerschneidet oder faltet. Wären Sie bitte so freundlich, den Safe zu öffnen?«

LeSeurs Lippen strafften sich fast unmerklich, dann schob er einen Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Die Tür schwang auf, ein großer Aluminiumkoffer mit einem Zahlenschloss kam zum Vorschein.

»Interessant«, sagte Pendergast. Einen Augenblick schlich er einer Katze ähnlich um die offene Tür herum. Dann streckte er plötzlich die Hand aus und drehte mit seinen langen, schmalen Fingern äußerst vorsichtig die Nummernscheiben des Zahlenschlosses, eine nach der anderen.

»Moment mal!«, rief Kemper. »Nichts anfassen, hatte ich gesagt!«

»Ah!« Pendergast hob den Deckel des Koffers. Darin lagen mehrere ziegelförmige, in Alufolie und Zellophanpapier eingewickelte Gegenstände, die je mit einer dicken Wachsschicht überzogen waren.

»O Gott«, sagte Kemper. »Hoffentlich ist es nicht das, wonach es aussieht.« Er zog ein Taschenmesser hervor und stach damit durch die Wachs- und Folienschicht, worauf ein körniges weißes Pulver herausrieselte. Er steckte eine Fingerspitze in das Puder, leckte daran.

»Kokain.«

»Allem Anschein nach«, sagte Pendergast leise, »ist unser guter Lord Cliveburgh auf eine neue, noch lukrativere Geschäftsidee verfallen.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte LeSeur, während er auf das weiße Puder blickte.

»Erst einmal nichts«, sagte Kemper, klappte den Koffer zu und drehte die Nummernscheibe. »Glauben Sie mir, das führt zu nichts. Wir geben dem US-Zoll per Funk Bescheid. Sobald wir in den Hafen einlaufen, holt Cliveburgh seinen Koffer; die Leute vom Zoll sollen ihn an Land mit dem Zeug verhaften – nicht auf dem Schiff.«

»Sehr gut«, sagte LeSeur. »Aber wie erklären wir, dass wir den Koffer …«

»Das müssen wir nicht«, sagte Kemper grimmig. »Überlassen Sie die Details mir.«

»Was für ein Glück«, sagte Pendergast fröhlich, weil die Stimmung im Raum sich verdüsterte, »dass ich zufällig auf dem Schiff bin!«

Offenbar teilte niemand seine Ansicht.

»Als Nächsten habe ich den Filmstar Claude Dallas auf meiner Liste.«

LeSeur sah, dass Kemper schwitzte. Wenn das je rauskäme … Er wandte sich zu dem Ziffernfeld um, ohne dass er den Gedanken zu Ende führte. »Nummer 822.«

Sie begaben sich zu einem größeren Schließfach. »Vielversprechend«, sagte Pendergast leise.

LeSeur schloss es auf. Darin befanden sich mehrere alte Schrankkoffer, bedeckt mit Aufklebern von Destinationen wie Rio de Janeiro, Phuket und Goa. An den Haspen hingen faustgroße Vorhängeschlösser.

»Hmm.« Pendergast beugte sich vor und strich sich übers Kinn.

»Mr Pendergast«, sagte Kemper warnend.

Pendergast streckte beide Hände aus, in der einen hielt er ein kleines, glänzendes Werkzeug; er drehte das Schloss mit spitzen Fingern. Mit einem Klick sprang es auf.

»Mr Dallas sollte das Schloss ersetzen lassen.« Und ehe Kemper oder LeSeur etwas einwenden konnten, schob Pendergast den Verschluss zur Seite, klappte die Haspe auf und hob den Deckel an.

Obenauf lag ein Gummianzug, daneben eine geflochtene Pferdehaarpeitsche, Ketten, Handschellen, Stricke und diverse Gegenstände aus Leder und Eisen obskurer Natur.

»Wie seltsam.« Pendergast griff in den Koffer. Diesmal sagte LeSeur nichts, als Pendergast einen Superman-Umhang aus Lycra mit schrittoffenem Anzug hervorholte. Er untersuchte das Kleidungsstück, pflückte etwas von der Schulter, tat es in ein Teströhrchen, das wie aus dem Nichts erschienen war und zurück im Nirgendwo verschwand. »Ich glaube kaum, dass wir uns Mr Dallas’ andere Koffer ansehen müssen.«

»Das ist gewiss nicht notwendig«, meinte LeSeur trocken.

»Schließlich wäre da noch Felix Strage, Leiter der Griechischen und Römischen Abteilung im Metropolitan Museum. Er kehrt von einer für ihn recht unangenehmen Reise nach Italien zurück, wo die italienischen Behörden ihn wegen einiger Antiquitäten verhört haben, die sein Museum in den achtziger Jahren unrechtmäßig erworben haben soll.«

LeSeur betrachtete Pendergast lange und forschend. Dann wandte er sich wieder der Tastatur zu. »Nummer 597. Ehe ich den Safe öffne, möchte ich eines klarstellen: Finger weg. Mr Wadle hier wird das Ganze übernehmen.« Er nickte dem Mann vom Sicherheitsdienst zu. »Wenn Sie irgendeinen der darin befindlichen Gegenstände öffnen, ist Ihre Erkundungsmission jäh und frühzeitig beendet. Verstanden?«

»Gewiss«, erwiderte Pendergast gutmütig.

LeSeur ging zu einem Schließfach in der untersten Reihe an der rechten Wand. Es war eines der größten im ganzen Raum. Er blieb stehen und kramte nach einem weiteren Schlüssel. Dann kniete er sich hin, schloss die Stahltür auf und öffnete sie. Drei große, quadratische Holzkisten kamen zum Vorschein. Das Schließfach war recht tief, und das Licht war nicht hell genug, dass man seinen Inhalt deutlich erkennen konnte.

Pendergast betrachtete einen Augenblick lang völlig regungslos die Kisten, drehte sich um und zog einen Schraubenzieher aus der Tasche. »Mr Wadle?«

Der Mann blickte unsicher hinüber zu Kemper; dieser nickte.

Wadle nahm das Werkzeug, schraubte die Seite auf – insgesamt acht Schrauben – und zog sie ab. Die Kiste war mit Luftpolsterfolie und einer Styroporverpackung vollgestopft. Er entfernte die Noppenfolie und zwei Styroporformen, so dass eine griechische Vase zum Vorschein kam.

Pendergast zog eine kleine Stablampe aus der Tasche und leuchtete damit in die offene Kiste. »Hm. Ein Kelchblütenkrug. Zweifellos echt. Offenbar hat unser Dr. Strage wieder in seine alte Trickkiste gegriffen und schmuggelt Exponate für sein Museum.« Er richtete sich auf, steckte die Stablampe wieder ein und trat einen Schritt von den Schließfächern zurück. »Gentlemen, haben Sie besten Dank für Ihre Zeit und Geduld.«

LeSeur nickte. Kemper sagte nichts.

»Und nun entschuldigen Sie bitte, dass ich mich so hastig verabschiede.« Damit verneigte er sich, drehte sich um und verließ den Tresorraum.

Im Fahrstuhl, der zu Deck 12 hinauffuhr, zog Pendergast seine Liste aus der Tasche. Er strich die Namen Lord Cliveburgh und Dallas durch. Aber nicht den Namen Strage.