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Scott Blackburn ging zur Tür seiner Suite, hängte von außen das Bitte-nicht-stören-Schild an den Türknauf und verriegelte von innen die Tür. Er stieg zwei Treppen zum Ankleidezimmer hinauf, riss sich die Krawatte vom Hals, zog Anzugjacke und Hemd aus, warf beides auf den Boden, damit sein Zimmermädchen sie aufhängte, und streifte die Hose ab. Einen Augenblick stand er vor dem raumhohen Spiegel, ließ seine Muskeln spielen und bewunderte geistesabwesend seinen Körper. Dann zog er ein safrangelbes Toray-Seidengewand aus einer Schublade. Bedächtig legte er es an, zuerst das innere Gewand, dann das obere und schließlich das äußere. Er faltete das Gewand, wobei er eine muskulöse Schulterpartie frei ließ.

Er betrat sein eigenes Zimmer und schloss die Tür. Umgeben von seiner Sammlung asiatischer Kunst blieb er, tief in Gedanken, in der Mitte stehen. Er musste seinen Geist, der durch das, was er am Abend am Dinnertisch gehört hatte, in Aufruhr war, beruhigen. Gestern war ein Zimmermädchen in seinem Privatgemach gewesen. Und danach war sie verrückt geworden und hatte sich umgebracht. Der Sicherheitschef hatte ihn vernommen – angeblich alles Routine. Und dann hatte er, im letzten Moment, ein Zimmermädchen in seiner Suite ertappt, obwohl er den Hotelmanager und die Leiterin des Housekeepings strikt angewiesen hatte, niemanden hereinzulassen. War das ein Zufall?

Oder stand er unter Beobachtung? War man seinen Bewegungen, seinen Aktivitäten, seinen Erwerbungen auf die Spur gekommen?

Während seines gegen erbitterten Widerstand geführten Aufstiegs an die Spitze der Silicon-Valley-Hierarchie hatte Blackburn schon vor langer Zeit gelernt, seinen paranoiden Anwandlungen zu vertrauen. Wenn seine Intuition ihm sagte, dass jemand hinter ihm her war, dann war das in der Regel auch der Fall. Und hier, gefangen auf diesem Schiff, ohne Zugriff auf seine üblichen vielfältigen Sicherheitsmaßnahmen, befand er sich in einer ungewöhnlich verletzlichen Position. Ihm waren Gerüchte zu Ohren gekommen, nach denen ein privater Ermittler an Bord sei, ein exzentrischer Passagier namens Pendergast, der nach einem Dieb oder Mörder suche.

Ermittelte dieser Mistkerl gegen ihn?

Man konnte da zwar nicht sicher sein, aber je länger er darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher kam es ihm vor. Doch er konnte es sich nicht leisten, Risiken einzugehen; es ging um zu viel. Er musste mit diesem Gegner – wenn ihn nicht alles täuschte, gab es keine andere Bezeichnung – auf besondere Weise fertig werden.

Auf sehr besondere Weise.

Er schaltete alle Lampen aus, blieb im Dunkeln stehen und schärfte seine Sinne. Zunächst lauschte er, nahm auch das geringste Geräusch wahr – vom fernen, tief im genieteten Stahl verborgenen Dröhnen der Schiffsmotoren bis zum Stöhnen und Ächzen des Windes und der Wellen; das Geprassel der Regentropfen gegen die Fensterscheiben; das Schluchzen seines Zimmermädchens in ihrem Schlafzimmer; die gedämpften Schritte im Gang vor der Suite. Er konzentrierte sich auf seine Körperempfindungen, seine nackten Füße auf dem dicken Teppichboden, den Geruch nach Sandelholz und Bienenwachs in der Kabine, die Empfindung, die das langsame, langwellige Rollen des Schiffes hervorrief.

Er atmete ein, aus. Die drei Feinde – Hass, Begehren und Verwirrung – mussten vorübergehend verbannt werden. Alle mussten still und leise sein. Von diesen drei Gegnern war der Hass der mächtigste; im Augenblick erstickte er Blackburn geradezu in seiner triumphierenden Umarmung.

Mit eiserner Selbstbeherrschung ging er zu einer Staffelei, die vor der gegenüberliegenden Wand stand. Auf der Staffelei, unter einem Überwurf aus feinster Seide, befand sich etwas. Es war ein törichter Fehler gewesen, es nicht von Anfang an im Safe zu lassen; aber es wegzuschließen, wenn er es so oft brauchte, war ihm ein Greuel. Seinem Zimmermädchen hatte er strikte Anweisung erteilt, niemals den Seidenüberwurf anzuheben und das Objekt zu betrachten. Und sie würde das auch nicht tun – es hatte Jahre gedauert, jemanden zu finden, der so zuverlässig, phantasielos und wenig neugierig war. Aber das Zimmermädchen des Schiffes – die, die sich umgebracht hatte – musste den Schleier gelüftet haben. Wenn seine Vermutung zutraf und dieser Pendergast hinter dem Objekt her war, war somit selbst der Tresor nicht sicher genug. Hotelsafes waren notorisch leicht zu knacken, und Safes auf einem Schiff, auch einem großen, bildeten da keine Ausnahme. Sie sollten Gelegenheitsdiebe abschrecken, mehr nicht.

Er musste ein besseres Versteck finden.

Während er etwas ängstlich den Blick abwandte, hob er behutsam den Seidenüberwurf von dem Objekt und stellte es in die Mitte des Zimmers. Mit zeremonieller Sorgfalt arrangierte er auf einem großen Silbertablett sechsunddreißig Butterkerzen, zündete sie an, stellte sie dann vor das Objekt, um es besser auszuleuchten. Dabei hielt er immer noch den Blick abgewendet. Er stellte Bündel von Räucherstäbchen in zwei reich ziselierte goldene Weihrauchschwenker und arrangierte sie zu beiden Seiten des Gegenstands.

Die Butterkerzen flackerten und tauchten das Zimmer in ein sonderbares, golden schimmerndes Licht. Er legte eine gesteppte Seidenmatte vor die Kerzen und nahm im Lotussitz Platz; er schloss die Augen und stimmte einen Sprechgesang an, ein eigentümliches, tiefes Summen, das ein aufmerksamer Zuhörer als eine Abfolge derselben immer wiederkehrenden Klänge wahrgenommen hätte, ohne Anfang oder Ende. Der warme, animalische Geruch der Butterkerzen erfüllte die Luft, während sein Summen mal lauter und mal leiser wurde, wodurch er jenen außergewöhnlichen polyphonen Effekt erzeugte, der als sygyt bekannt ist: der Effekt, zwei Töne gleichzeitig mit derselben Stimme anzuschlagen, berühmt geworden durch die tibetischen Tengyo-Mönche, bei denen er studiert hatte.

Nachdem er eine halbe Stunde lang mit geschlossenen Augen psalmodiert hatte, waren die drei Feinde verschwunden, besiegt. Sein Geist war von allem Hass, von allem Begehren entleert und empfänglich für ihn. Plötzlich riss Blackburn die Augen ganz weit auf und starrte auf den Gegenstand im Kerzenschein.

Es war, als habe er einen Stromstoß empfangen. Sein Körper versteifte sich, seine Muskeln traten hervor, die Sehnen am Nacken spannten sich, die Halsschlagader pulsierte. Dennoch setzte er den Sprechgesang unbeirrt fort, wurde schneller, schwang sich in die höheren Register und erreichte eine Intensität, die sich mit dem normalen Klang der menschlichen Stimme nicht vergleichen ließ.

Er starrte und starrte und starrte. Ein eigenartiger Geruch strömte ins Zimmer, ein ekelerregender, erdiger Geruch, wie verrottende Giftpilze. Die Luft schien dicker zu werden, so als füllte sie sich mit Rauch, der sich etwa einen Meter vor ihm zusammenzog und sich wie eine dunkle, dickflüssige Sahne zu etwas Dichtem, fast Festem verklumpte. Und dann …

… begann es sich zu bewegen.