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Emily Dahlberg hatte die Hilfsbrücke verlassen und machte sich, wie angeordnet, auf den Weg zu ihrer Kabine. Das Schiff fuhr immer noch voran, und zwar offenbar mit Höchstgeschwindigkeit. Sie stieg eine Treppe hinunter auf Deck 9, ging einen Korridor entlang und tauchte auf einem Balkon mit Blick auf die höchste Ebene des Grand Atriums wieder auf.

Sie blieb stehen, entsetzt über den Anblick, der sich ihr bot. Das Wasser war in die unteren Decks abgeflossen, zurückgeblieben war ein Trümmerhaufen aus durchweichten und zerbrochenen Möbelstücken, Kabeln, Holzpaneelen, aufgerissenen Teppichböden, zerbrochenen Gläsern und – hier und da – reglosen Menschen. Das Atrium stank nach Meerwasser.

Gewiss, sie musste sich in ihre Kabine begeben und sich gegen die Kollision wappnen. Sie hatte den Streit auf der Hilfsbrücke mitbekommen, die Durchsage gehört. Aber sie fand, dass ihre Kabine, hier auf Deck 9, vielleicht nicht der beste Ort war. Vielleicht eignete sich eines der unteren Wetterdecks, nahe dem Heck, besser, wo sie vom Punkt des Aufpralls am weitesten entfernt wäre und hinterher vielleicht ins Meer springen könnte. Das war natürlich eine erbärmliche Hoffnung, aber immer noch besser, als in einer Kabine vierzig Meter über dem Wasser in der Falle zu sitzen.

Sie lief mehrere Treppen hinunter, stieg nochmals acht Ebenen hinab, dann trat sie durch einen Durchgang und begann sich nach hinten durchzuschlagen, mitten durch die durchweichten Trümmerteile, die überall auf dem Boden des Grand Atriums lagen. Die elegante Tapete des King’s Arms war fleckig und geschwärzt, eine Linie aus Seetang zeigte an, wie hoch das Wasser gestanden hatte. Dahlberg kam an dem zerstörten Klavier vorbei, schaute beiseite, als sie ein zertrümmertes Bein sah, das aus dem Schallkasten herausragte.

Jetzt, da alle in ihren Kabinen waren, wirkte das Schiff eigenartig still, menschenleer und gespenstisch. Aber da hörte sie in der Nähe ein Geräusch – ein Schluchzen – und sah, als sie sich umwandte, einen schmutzigen Jungen von vielleicht elf Jahren, ohne Hemd, klitschnass, inmitten herumliegender Trümmerteile hocken. Das Herz schwoll ihr vor Mitleid.

Sie ging hinüber zu ihm. »Hallo, junger Mann«, sagte sie und versuchte, einen möglichst unbeschwerten, gelassenen Ton anzuschlagen.

Er starrte sie an, sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm mit mir, ich bringe dich hier raus. Ich heiße Emily.«

Der Junge fasste ihre Hand, sie half ihm auf die Beine, dann zog sie ihre Jacke aus und legte sie ihm um die Schulter. Er zitterte vor Angst. Sie legte den Arm um ihn. »Wo sind denn deine Eltern?«

»Meine Mum und mein Dad«, antwortete er mit britischem Akzent, »ich kann sie nicht finden.«

»Verlass dich auf mich. Ich helfe dir. Wir haben nicht viel Zeit.«

Er schluchzte noch einmal. Und dann scheuchte sie ihn aus dem Grand Atrium, vorbei an den Läden der Regent Street – vergittert und verlassen – und weiter über den Seitenkorridor, der zum Wetterdeck führte. Sie blieb an einer Notfallstation stehen, wo sie sich Rettungswesten anlegten. Dann ging sie ihm voran zur Lukentür.

»Wohin gehen wir?«, fragte der Junge.

»Nach draußen, an Deck. Da sind wir sicherer.«

Binnen Minuten, nachdem sie die Lukentür geöffnet und dem Jungen nach draußen geholfen hatte, war sie durch die windgepeitschte Gischt nass bis auf die Haut. Über sich sah sie Hubschrauber kreisen. Sie ergriff die Hand des Jungen, trat an die Reling und bereitete sich darauf vor, auf dem Deck nach achtern zu gehen. Die Motoren jaulten und ratterten, schüttelten das Schiff wie ein Terrier eine Ratte.

Sie drehte sich um und blickte zu dem Jungen. »Gehen wir …« Dann blieben ihr die Worte im Hals stecken. Über der Schulter des Jungen, vor dem Bug der Britannia, sah sie eine Linie schäumender Brandung vor einer pechschwarzen Reihe riesiger, zahnähnlicher Felsen. Sie schrie auf. Der Junge drehte sich um und schaute hin. Die Todeswand näherte sich mit hoher Geschwindigkeit. Es blieb ihnen keine Zeit mehr, bis zum Heck zu gelangen, keine Zeit, irgendetwas zu tun, außer sich gegen den Aufprall zu wappnen.

Das Donnern der Brandung gegen die Felsen erzeugte ein tiefes Vibrieren in Emily. Sie legte die Arme um den Jungen. »Bleiben wir einfach hier«, sagte sie atemlos. »Wir kauern uns an die Wand.«

Sie fanden Schutz an den Aufbauten, der Junge, der jetzt wieder weinte, lag in ihren Armen. Von irgendwo über ihr ertönte ein Schrei, ein einsamer Laut wie von einer verirrten Möwe.

Wenn sie sterben musste, dann wollte sie zumindest mit Würde sterben, mit einem anderen Menschen in den Armen. Sie drückte den Kopf des Jungen an ihre Brust, schloss die Augen und fing an zu beten.

Plötzlich änderte sich das Maschinengeräusch. Das Schiff krängte, vollführte eine neue Bewegung. Sie riss die Augen auf, hatte Angst, Hoffnung zu schöpfen. Aber es stimmte – das Schiff drehte ab. Sie rappelte sich auf, führte den Jungen zurück zur Reling – und traute fast ihren Augen nicht, als die Linie der donnernden Brandung zwar näher rückte, aber nicht mehr ganz so schnell. Während das Schiff weiterhin gierte, donnerte die steiler werdende Grunddünung gegen den Schiffsrumpf und schleuderte immer wieder Wassermassen empor, aber dazwischen waren die schwarzen Felsen zu erkennen, die am Bug vorbeischwangen, sich abwendeten, abwendeten – bis sie parallel zum Schiff verliefen und die gigantische Brandungslinie an der Steuerbordseite vorbeiglitt; nichtsdestotrotz waren die nächsten Felsen so nah, dass man sie fast hätte berühren können, als sie vorbeizogen, während der Schiffsrumpf durch die steilwandigen Wellen krachte.

Plötzlich fiel der letzte Felsen nach achtern ab, das Donnern der Brandung verklang, und die Britannia fuhr weiter, jetzt allerdings erkennbar langsamer. Da hörte sie, durch das Jaulen der Maschinen und den Lärm der Brandung hindurch, ein anderes Geräusch: Jubelrufe.

»Na«, sagte sie und drehte sich zu dem Jungen um, »wollen wir nach deiner Mama und deinem Papa suchen?« Und während Emily Dahlberg auf etwas wackeligen Beinen zur Lukentür zurückging, erlaubte sie sich ein leises, erleichtertes Lächeln.