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Emily Dahlberg blieb in dem Gang stehen, der vom Backbord-Rettungsbootdeck wegführte, und holte Atem. Hinter sich hörte sie die Rufe und Schreie des Pöbels – und es war wirklich Gesindel von der primitivsten, mörderischsten Sorte –, die sich mit dem Heulen des Windes und dem Einströmen des Wassers durch die offenen Luken vermischten. Viele andere Leute waren auf die Idee gekommen, sich auf den Weg zu den Stationen der Rettungsboote zu machen, so dass ein steter Strom von Passagieren in Panik an ihr vorbeirannte, ohne Notiz von ihr zu nehmen.

Dahlberg hatte genug gesehen, um zu wissen, dass jeder Versuch, bei dieser Geschwindigkeit die Rettungsboote zu nutzen, reiner Selbstmord wäre. Sie hatten es mit eigenen Augen erlebt. Jetzt hatte sie die Aufgabe, diese entscheidende Information zur Hilfsbrücke zu bringen. Gavin Bruce und Niles Welch hatten ihr Leben geopfert – ebenso wie eine Bootsladung Passagiere –, um diese Erkenntnis zu erlangen, und sie war fest entschlossen, sie zu übermitteln.

Sie setzte sich wieder in Bewegung und wollte sich gerade orientieren, als ein stämmiger Mann, mit rotem Kopf und glotzäugig, den Gang heruntergerannt kam und schrie: »Zu den Rettungsbooten!« Sie versuchte, ihm auszuweichen, war aber nicht schnell genug; er rempelte sie an, und sie stürzte. Als sie sich wieder aufgerappelt hatte, war der Mann nicht mehr zu sehen.

Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, kam wieder zu Atem, hielt sich fern vom Strom der panischen Leute, die zum Rettungsbootdeck liefen. Es schockierte sie, wie leicht die Leute sich zu den groteskesten Darbietungen ihrer Selbstsüchtigkeit hinreißen ließen – sogar, oder vielleicht vor allem, die Privilegierten. Sie hatte nicht gesehen, dass die Besatzungsmitglieder und das Personal kreischend in der Gegend herumliefen. Da musste sie einfach an den Gegensatz zum würdevollen und selbstbeherrschten Ende der Passagiere auf der Titanic denken. Die Welt hatte sich wirklich verändert.

Als sie sich wieder besser fühlte, ging sie weiter über den Korridor, wobei sie sich nahe der Wand hielt. Die Hilfsbrücke lag im vorderen Bereich des Schiffes, direkt unter der Hauptbrücke – Deck 13 oder 14, wie sie sich erinnerte. Derzeit befand sie sich auf dem Halbdeck 7 – was bedeutete, sie musste weiter nach oben.

Sie ging weiter über den Gang, vorbei an den verlassenen Cafés und Läden, und folgte den Schildern zum Grand Atrium – von dem aus sie sich, wie sie wusste, besser orientieren konnte. Binnen Minuten hatte sie einen Durchgang passiert und gelangte zu einer halbrunden Brüstung mit Blick auf den riesigen achteckigen Raum. Selbst in dieser Extremsituation fand sie ihn bemerkenswert: acht Ebenen hoch, mit gläsernen Aufzügen, die an beiden Seiten hinauffuhren, verziert mit unzähligen kleinen Balkonen und mit einer mit Passionsblumen geschmückten Brüstung.

Sie packte die Brüstung und ließ den Blick durch das Atrium schweifen. Ein schockierender Anblick bot sich ihr dar. Das King’s Arms – das elegante, fünf Ebenen unter ihr befindliche Restaurant – war fast nicht wiederzuerkennen. Überall lag Besteck, Reste von Mahlzeiten, die nie mehr gegessen würden, zertrampelte Blumen und zerbrochene Gläser. Tische waren umgestoßen, die Gegenstände darauf herabgefallen. Der Raum sieht aus, dachte sie, als wäre ein Tornado hindurchgefegt. Überall waren Menschen – einige liefen mitten durchs Atrium, andere rannten ziellos im Kreis, wieder andere bedienten sich an Wein- und Schnapsflaschen. Die Schreie und Rufe drangen bis zu ihr herauf.

Die gläsernen Aufzüge waren noch in Betrieb, deshalb eilte sie zu dem nächstgelegenen. Aber noch währenddessen erfüllte ein lautes Rumpeln den riesigen Raum: ein Brummen von tief unten aus dem Bauch des Schiffes.

Und dann begann das Atrium sich zu neigen.

Zunächst glaubte sie, sie bilde es sich nur ein. Aber als sie zum großen Kristalllüster hinaufschaute, sah sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte: Das Atrium neigte sich tatsächlich. Je lauter das tiefe Brummen wurde, desto heftiger vibrierte der Kronleuchter, klirrte und klingelte wie verrückt. Rasch zog sich Dahlberg in einen Durchgang zurück, während Stücke geschliffenen Kristalls herabregneten und hagelgleich zwischen die Tische, Stühle und Brüstungen prasselten.

Mein Gott, dachte sie. Was geht hier vor?

Das Schiff neigte sich immer stärker; sie packte die an einer Säule an der einen Seite des Durchgangs angebrachte Haltestange. Im Restaurant unter ihr rutschten die Tische und Stühle laut kratzend zur Seite, langsam zunächst, dann immer schneller werdend. Augenblicke später hörte sie das Scheppern von Glas, als die Flaschenwand in der eleganten Bar an einer Seite des Restaurants einstürzte.

Sie hielt sich am Geländer fest, außerstande, den Blick von dem Tumult abzuwenden, der dort unten stattfand. Jetzt bewegte sich der große Steinway-Konzertflügel in der Mitte des Atriums, er glitt so lange auf seinen Rollen, bis er mit der Vorderseite gegen die große Statue der Britannia prallte, die in tausend Stücke zerfiel, bis sie nur noch eine Ruine war.

Es hatte den Anschein, als sei das Schiff in dem schraubstockartigen Griff eines Riesen gefangen und würde, trotz der ächzenden, protestierenden Maschinen, auf die Seite gedrückt. Dahlberg packte die Brüstung; die Neigung wurde steiler, so dass alle möglichen Dinge – Stühle, Vasen, Tischdecken, Gläser, Kameras, Schuhe, Handtaschen – von den Balkonen krachend ins Atrium stürzten. Durch die vielen Schreie und Rufe hindurch hörte sie einen besonders spitzen Aufschrei; unmittelbar darauf stürzte eine kleine, untersetzte Frau mit krisseligem blondem Haar und in der Uniform einer Aufseherin von einem oberen Balkon und rauschte, immer noch kreischend, unter fürchterlichem Krachen, in den Flügel: Die Elfenbeintasten flogen, die Saiten rissen in einer bizarren Symphonie aus hohen und tiefen Tönen.

Mit einem Kreischen von Metall erbebte der ihr am nächsten befindliche Aufzug in seinem senkrechten Gehäuse, und dann – mit einem Platzen, das im gesamten Atrium widerhallte – zersprang mit einem Mal die gesamte Röhre und begann in Zeitlupe wie ein glitzernder Vorhang aus Glas herabzuregnen. Das Wrack – der Aufzug war jetzt nichts anderes mehr als ein Stahlrahmen – wurde aus dem Gehäuse gerissen und schwang lose am Stahlkabel. Da sah Dahlberg zwei Menschen im Lift, sie hielten sich kreischend an den Messingstangen im Fahrstuhlkäfig fest. Unter Dahlbergs entsetztem Blick schwang der Fahrstuhl, sich um die eigene Achse drehend, durch das riesige Atrium, dann knallte er auf der anderen Seite gegen eine Reihe von Balkonen. Die Menschen darin wurden durch die Luft geschleudert, stürzten hinab, hinab, um am Ende in dem chaotischen Durcheinander der Möbelstücke und Halterungen unterzugehen, die sich an der unteren Wand des King’s Arms stauten.

Dahlberg packte die Messingreling mit aller Kraft, da der Boden sich weiter neigte. Plötzlich kam von unten ein neues Geräusch herauf, laut wie ein mächtiger Wasserfall, begleitet von einem Strom kalter salziger Luft, so heftig, dass es sie fast umgeweht hätte; dann strömte Weißwasser in die unterste Ebene des Atriums und begann allmählich heraufzustrudeln, eine üble Flut, in der sich pulverisierte Möbelstücke, Armaturen und verrenkte menschliche Leiber bewegten. Gleichzeitig riss sich der riesige Leuchter über ihr unter lautem Knacken von Eisen und Gips aus der Halterung; die riesige funkelnde Masse stürzte schräg nach unten, krachte in die Brüstung genau gegenüber, dann rollte sie die Seite des Atriums entlang und verlor dabei Unmengen glitzernder Kristallstücke.

Der kalte, tote Geruch der See stieg ihr in die Nase. Langsam wurde ihr klar, dass das Schiff, ungeachtet der furchtbaren Zerstörung, die sich rings um sie herum abspielte, offenbar nicht sank: zumindest noch nicht. Vielmehr legte sich das Schiff auf die Seite und lief voll Wasser. Die Dieselmotoren dröhnten weiter, das Schiff preschte mit unverminderter Geschwindigkeit vorwärts.

Dahlberg sammelte ihre Gedanken und versuchte, alle Geräusche – das Scheppern des Glases, das Rauschen des Wassers, die Schreie – auszublenden. Sosehr sie es auch wollte, hier konnte sie niemandem mehr helfen. Aber eines konnte sie, musste sie tun: die Brücke informieren, dass die Rettungsboote keine Option waren, solange das Schiff fuhr. Sie blickte sich um und sah in der Nähe eine Treppe. Vorsichtig packte sie die Reling und zog sich, fast kriechend, daran entlang, bis sie das Treppenhaus erreichte. Sie umklammerte das Treppengeländer mit aller Kraft, dann stieg sie nach oben, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Hilfsbrücke.