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Hinter der offenen Reling von Halbdeck 7 wütete der Sturm, und die Gischt jagte übers Deck, obwohl sie zwanzig Meter oberhalb der Wasserlinie standen. Liu konnte wegen der donnernden Wellen und dem heulenden Sturm kaum einen klaren Gedanken fassen.

Crowley kam herüber, ebenso durchnässt wie er. »Wollen wir das hier wirklich probieren, Sir?«

»Haben Sie eine bessere Idee?«, erwiderte Liu verärgert. »Geben Sie mir mal Ihr Funkgerät.«

Crowley reichte es ihm.

Liu stellte es auf Kanal zweiundsiebzig ein und drückte die Sprechtaste. »Liu hier, Bruce bitte melden, over.«

»Bruce hier.«

»Wie verstehen Sie mich?«

»Klar und deutlich.«

»Gut. Schnallen Sie sich auf der Bootsführerstation, am Steuer, an. Welch soll sich auf die andere Seite des Gangs setzen.«

»Schon erledigt.«

»Brauchen Sie weitere Instruktionen?«

»Scheinen alle da zu sein.«

»Das Rettungsboot fährt nahezu vollautomatisch. Der Motor startet automatisch beim Aufprall. Er steuert das Boot in gerader Linie vom Schiff fort. Nehmen Sie einfach nur Gas weg – dann sind Sie später leichter zu finden. Das Steuerpult müsste für einen Seemann ziemlich selbsterklärend sein.«

»Okay. Gibt’s eine Seenotboje auf diesem irren Boot?«

»Zwei, es sind sogar die neuesten, die Ihre GPS-Koordinaten übermitteln. Beim Aufprall aktiviert die Boje automatisch auf den Frequenzen 406 und 121,5 Megahertz – Sie müssen gar nichts tun. Lassen Sie das VHF des Rettungsboots auf Notkanal sechzehn. Sprechen Sie mit mir über Kanal zweiundsiebzig auf Ihrem Handfunkgerät. Sie sind auf sich allein gestellt, bis Sie aufgelesen werden – die Britannia wird nicht stoppen. Bleiben Sie beide die ganze Zeit angeschnallt – Sie werden bei diesen Wellen ein paar Eskimorollen machen, um das Mindeste zu sagen.«

»Verstanden.«

»Fragen?«

»Nein.«

»Sind Sie bereit?«

»Bereit.« Bruce’ Stimme kam knisternd über das Handfunkgerät.

»Gut. Der Countdown läuft fünfzehn Sekunden. Drücken Sie die Sprechtaste, damit wir hören können, was passiert. Sprechen Sie mit mir so bald wie möglich, nachdem Sie auf dem Wasser aufgeschlagen sind.«

»Legen Sie los.«

Liu wandte sich dem Steuerpult für den Start zu. Auf der Britannia gab es sechsunddreißig Rettungsboote, achtzehn an Backbord und achtzehn an Steuerbord, jedes mit einem Aufnahmevermögen von bis zu hundertfünfzig Personen. Selbst wenn man ein Boot, so wie jetzt, praktisch leer zu Wasser ließ, blieben noch jede Menge Kapazitäten übrig. Er sah auf die Uhr. Wenn alles klappte, hatten sie fünfzig Minuten Zeit für die Evakuierung.

Er sprach ein kurzes Gebet.

Während Liu die Startsequenz initiierte, begann er ein wenig leichter zu atmen. Es musste funktionieren. Diese verdammten Boote waren irrsinnig gekonnt entworfen, gebaut, um einen freien Fall aus zwanzig Meter Höhe zu überstehen.

Alle Lämpchen auf Grün. Er entriegelte den Schalter, der den Countdown von Rettungsboot Nummer eins auslöste, klappte die Abdeckung auf. Drinnen leuchtete der kleine rote Auslöseknopf. Das hier war verdammt viel leichter als in den alten Zeiten, als ein Rettungsboot an Davits hinuntergelassen werden musste, die wegen des Windes und des Rollens des Schiffes wie verrückt hin und her schwangen. Heute musste man nur noch einen Knopf drücken; das Boot wurde aus seinen Arretierungen freigegeben, glitt die Schienen hinab und stürzte zwanzig Meter tief, um dann, mit dem Bug voran, im Meer zu landen. Einige Augenblicke später tanzte es dann auf dem Wasser und fuhr los, fort vom Schiff. Sie hatten die Übung schon mehrmals absolviert: Vom Start bis zur Rettung dauerte das alles keine sechzig Sekunden.

»Hören Sie mich, Bruce?«

»Laut und deutlich.«

»Bleiben Sie dran. Countdown läuft.«

Er betätigte den roten Knopf.

Aus einem über ihm montierten Lautsprecher erklang eine Frauenstimme. »Rettungsboot Nummer eins wird in fünfzehn Sekunden zu Wasser gelassen. Zehn Sekunden. Neun, acht …«

Die Stimme hallte auf dem von Metall umrundeten Halbdeck wider. Der Countdown lief aus; man hörte ein lautes Klonk, die stählernen Arretierungen lösten sich. Das Boot glitt auf den eingefetteten Schienen nach vorn und rutschte mit dem Bug voran in den leeren Raum; Liu beugte sich über die Reling, um zuzuschauen, wie es, anmutig wie ein Taucher, in die Tiefe stürzte, der brodelnden See entgegen.

Mit einer riesigen Gischtfontäne, viel größer als alles, was Liu bei den Übungen gesehen hatte, traf das Boot aufs Wasser: eine Fontäne, die fünfzehn Meter in die Höhe stieg und die von dem enorm starken Wind in Fetzen nach hinten geschleudert wurde. Im VHF-Kanal ertönte lautes Knistern.

Doch anstatt steil ins Wasser einzutauchen und zu verschwinden, schlug das Rettungsboot wegen der Vorwärtsbewegung und der hohen Geschwindigkeit des Mutterschiffes seitlich auf, hüpfte über die Wellen wie ein Stein auf einem Teich; dann prallte es ein zweites Mal mit voller Wucht auf die Wellen, mit noch einer Gischtfontäne, die das orangefarbene Boot im brodelnden Wasser begrub. Schließlich begann es träge wieder aufzutauchen, während am glänzenden, phosphoreszierenden Rumpf das Wasser hinablief. Das Knistern im Funkgerät verstummte jäh.

Emily Dahlberg stockte der Atem; sie wandte den Blick ab.

Ungläubig starrte Liu auf das Rettungsboot, das bereits rasch nach achtern zurückfiel. Er sah das Boot, so schien es, aus einem merkwürdigen Winkel. Aber nein, das war’s nicht: Das Profil hatte sich verändert – der Rumpf war verformt. Orangefarbene und weiße Placken lösten sich vom Rumpf, aus einer Naht zischte Luft, die einen dünnen Strahl Gischt himmelwärts sandte.

Liu bekam ein flaues Gefühl in der Magengrube. Der Rumpf war leckgeschlagen, auf ganzer Länge aufgeplatzt wie eine vergammelte Melone.

»O nein …«, hörte er Crowley murmeln, der neben ihm stand. »O mein Gott …« Entsetzt starrte er auf das eingedrückte Rettungsboot. Es richtete sich nicht auf; es wälzte sich auf die Seite, versank erneut in den Wellen, die Schiffsschraube drehte sich nutzlos, wühlte die Wasseroberfläche auf, eine Spur aus Öl und Trümmerteilen hinter sich lassend, während es nach achtern zurückfiel, bis es in der grauen, sturmgepeitschten See nicht mehr zu erkennen war.

Liu schnappte sich das VHF und drückte die Sprechtaste. »Bruce! Welch! Liu hier! Antworten Sie! Bruce!«

Aber keine Antwort – und da war ihm klar, dass er niemals eine bekommen würde.