26

Es war Viertel nach elf, als Kemper die Sicherheitszentrale des Schiffes betrat. Die Tür stand halboffen, und er hörte lautes Stimmengewirr, Gejohle und vereinzelte Hurrarufe aus der zentralen Überwachungsstation. Er legte die Hand an die Tür und schob sie auf.

An den Wänden des kreisrunden Raumes standen Hunderte Videomonitore, von denen jeder ein Bild aus den unzähligen Überwachungskameras auf dem Schiff zeigte. Die diensthabenden Mitarbeiter drängten sich um einen einzigen Monitor, lachten und redeten, so vertieft in das dargestellte Geschehen, dass sie sein Eintreten gar nicht bemerkten. Die vielen flackernden Monitore tauchten die Männer in ein bläuliches Licht. Im Raum roch es nach alter Pizza, in einer Ecke stapelten sich die dazugehörigen fetttriefenden Kartons.

»Oh ja, Oma, steck ihn dir ganz rein!«, rief einer.

»Ganz tief!«

»Das ist die kleine alte Dame aus Pasadena!«

Irgendwer johlte, andere steuerten Anfeuerungsrufe und Gelächter bei. Einer der Männer schwang lasziv die Hüften. »Mach schon, alter Junge! Reit sie zu, Cowboy!«

Kemper ging hinüber. »Was zum Teufel geht hier vor?«

Die Männer sprangen auf, gaben den Blick auf einen Monitor frei, auf dem zwei übergewichtige Passagiere in einem matt erleuchteten Korridor wilden Sex hatten.

»Herrgott.« Kemper drehte sich um. »Mr Wadle, Sie sind doch der Schichtleiter, oder?« Er blickte alle Mitarbeiter an, die lächerlicherweise strammstanden.

»Ja, Sir.«

»Wir haben einen vermissten Passagier, einen Selbstmord innerhalb der Besatzung, wir verlieren Tausende im Casino, und Sie sehen sich hier ein Viagra-Filmchen an. Finden Sie das komisch?«

»Nein, Sir.«

Kemper schüttelte den Kopf.

»Soll ich …?« Wadle zeigte auf den Ausschalter des Monitors.

»Nein. Wenn wir eine Kamera ausschalten, werden die Aufnahmen aufgezeichnet, und das führt später nur zu unangenehmen Fragen. Schauen Sie einfach nicht hin.«

Woraufhin irgendjemand kicherte, und da musste auch Kemper lachen. »Na gut. Ihr hattet euren Spaß. Aber jetzt marsch zurück an die Arbeit.«

Mit diesen Worten ging er in sein winziges Büro. Kurz darauf summte die Gegensprechanlage.

»Ein Mr Pendergast ist hier und wünscht Sie zu sprechen.«

Kempers Stimmung verschlechterte sich schlagartig. Kurz darauf betrat der Privatdetektiv das Büro.

»Wollen Sie sich auch die Show angucken?«, fragte Kem-per.

»Der fragliche Herr hat das Kamasutra studiert. Ich glaube, die Stellung heißt ›das Buttern der Sahne‹.«

»Wir haben nicht viel Zeit«, antwortete Kemper. »Bislang haben wir heute Abend im Casino wieder zweihunderttausend Miese gemacht. Ich dachte, Sie wollten uns helfen?«

Pendergast setzte sich, schlug die Beine übereinander. »Und genau das ist der Grund meines Kommens. Darf ich Fotos von den heutigen Gewinnern haben?«

Kemper reichte ihm einen kleinen Packen unscharfer Bilder. Pendergast blätterte kurz darin. »Interessant – eine andere Gruppe als gestern Abend. Genau, wie ich gedacht habe.«

»Aha! Und das wäre?«

»Es handelt sich um ein großes, sehr erfahrenes Team. Die Spieler wechseln jeden Abend. Die Spotter sind das Entscheidende.«

»Spotter?«

»Mr Kemper, Ihre Naivität verblüfft mich. Das System ist zwar komplex, aber die Prinzipien sind einfach. Die sogenannten Spotter mischen sich unter die Leute und verfolgen das Spiel an den Tischen mit hohen Einsätzen.«

»Und wer zum Teufel sind diese Spotter?«

»Jeder kommt in Frage: eine ältere Dame an einem strategisch plazierten Einarmigen Banditen, ein beschwipster Geschäftsmann, der laut in sein Handy spricht, selbst ein pickliger Teenager, der nur neugierig zuschaut. Die Spotter sind extrem gut geschult und beherrschen es oft meisterhaft, ihr Treiben zu vertuschen. Sie zählen die Karten – aber sie spielen nicht.«

»Und die Spieler?«

»Ein Spotter kann zwei bis vier Spieler in seiner Gruppe haben. Die Spotter behalten den Überblick über alle Karten, die an einem Tisch gespielt werden, und ›zählen‹ sie, wozu normalerweise gehört, negative Zahlen an niedrige Karten und positive Zahlen an Zehnen und Asse zu vergeben. Dabei müssen sie sich nur eine Zahl merken: eine einzige – den Zahlenwert der bislang ausgespielten Karten. Übersteigt das Verhältnis von hohen zu niedrigen Karten, die sich noch im Spiel befinden, einen bestimmten Punkt, so verschieben sich die Chancen vorübergehend zugunsten der Spieler; beim Blackjack benachteiligen hohe Karten den Croupier. Wenn ein Spotter sieht, wie sich das Verhältnis an einem Tisch auf diese Weise verschiebt, gibt er einem der Spieler ein vorher vereinbartes Zeichen, der sich dann an den Tisch setzt und anfängt, hoch zu setzen. Oder: Falls der Spieler schon am Tisch sitzt, wird er plötzlich seinen Einsatz erhöhen. Wenn das Verhältnis wieder auf normal oder darunter zurückgeht, zeigt ein weiterer Hinweis seitens des Spotters dem Spieler, dass es an der Zeit ist, aufzuhören oder wieder kleinere Einsätze zu spielen.«

Kemper rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Wie können wir das stoppen?«

»Die einzige narrensichere Gegenmaßnahme besteht darin, die Spotter zu identifizieren und sie, ähm, hochkant rauszuschmeißen.«

»Das geht nicht.«

»Zweifellos ist das der Grund, warum die Leute hier und nicht in Las Vegas sind.«

»Was sonst?«

»Spielen Sie mit acht Paketen Spielkarten, und verteilen Sie nur ein Drittel des Kartenstapels, bevor Sie neu mischen.«

»Wir spielen mit vier Paketen.«

»Noch ein Grund, warum Sie Kartenzähler anziehen. Sie könnten sie ausbremsen, wenn Sie die Croupiers anwiesen, jedes Mal neu zu mischen, wenn sich ein neuer Spieler an den Tisch setzt oder ein Spieler plötzlich seinen Einsatz erhöht.«

»Ausgeschlossen. Das würde das Spiel verlangsamen und den Gewinn reduzieren. Außerdem würden die erfahrenen Spieler protestieren.«

»Zweifellos.« Pendergast hob die Schultern. »Außerdem würde Ihnen keine dieser Gegenmaßnahmen helfen, Ihr Geld wieder zurückzubekommen.«

Kemper sah ihn aus rotgeränderten Augen an. »Gibt es denn eine Möglichkeit, das Geld zurückzubekommen?«

»Vielleicht.«

»Wir dürfen nichts tun, was ein Falschspiel beinhaltet.«

»Sie dürfen das nicht.«

»Wir können auch nicht erlauben, dass Sie falsch spielen, Mr Pendergast.«

»Bitte, Mr Kemper«, erwiderte Pendergast in sehr gekränktem Tonfall, »habe ich denn gesagt, ich will falsch spielen

Kemper schwieg.

»Eine Eigenschaft von Kartenzählern ist, dass sie bei ihrem System bleiben. Ein normaler Spieler hört auf, wenn er starke Verluste erlitten hat – nicht so ein professioneller Kartenzähler. Er weiß, dass seine Chance kommt. Das ist unser Vorteil.«

Pendergast sah auf die Uhr. »Halb zwölf. Uns bleiben noch drei Stunden bis zur Hauptspielzeit. Mr Kemper, seien Sie bitte so gut, und räumen Sie mir eine Kreditlinie von einer halben Million ein.«

»Sagten Sie: eine halbe Million?«

»Ich würde es höchst ärgerlich finden, klamm zu sein, wenn die Sache so richtig ins Laufen kommt.«

Kemper dachte angestrengt nach. »Können Sie unser Geld zurückbekommen?«

Pendergast lächelte. »Ich will es versuchen.«

»Also gut.«

»Mr Hentoff muss das Aufsichtspersonal und die Croupiers warnen, dass meine Spielweise exzentrisch, ja sogar verdächtig wirken kann – allerdings wird es immer innerhalb der rechtlich zulässigen Grenzen bleiben. Ich nehme am ersten Base Platz – also links vom Croupier – und werde fünfzig Prozent der Runden mitgehen, bitte sagen Sie also Ihren Leuten, mich nicht umzusetzen, wenn ich nicht spiele. Hentoff soll seine Croupiers anweisen, mich bei jeder normalen Gelegenheit das Spiel eröffnen zu lassen, vor allem, wenn ich mich gerade hingesetzt habe. Es muss aussehen, als würde ich sehr viel trinken; sorgen Sie also dafür, dass man mir, wenn ich Gin Tonic bestelle, nur Tonic bringt.«

»Einverstanden.«

»Wäre es möglich, den maximal möglichen Einsatz an einem der Tische anzuheben?«

»Sie meinen, kein oberes Limit?«

»Ja. Das wird dafür sorgen, dass die Spotter diesen Tisch mit ihren Spielern besetzen, außerdem wird es dadurch viel effizienter, das Geld zurückzubekommen.«

Kemper rann eine Schweißperle über die Stirn. »Das ließe sich machen.«

»Und schließlich: Mr Hentoff soll einen Kartengeber mit kleinen Händen und schlanken Fingern an den Tisch setzen. Je weniger erfahren, desto besser. Er oder sie soll die Schlusskarte des Spiels weit unten im Kartenstapel plazieren.«

»Darf ich fragen, warum?«

»Dürfen Sie nicht.«

»Mr Pendergast, wenn wir Sie beim Mogeln erwischen, wird das für uns beide äußerst unangenehme Konsequenzen haben.«

»Ich werde nicht mogeln – Sie haben mein Wort.«

»Wie wollen Sie denn das Spiel beeinflussen, wenn keiner der Spieler je die Karten anrührt?«

Pendergast lächelte geheimnisvoll. »Es gibt Mittel und Wege, Mr Kemper. Ach, und ich werde eine Assistentin benötigen, eine Ihrer Cocktailkellnerinnen, eine, die diskret und intelligent ist, mir meine Drinks bringt und auf Abruf bereitsteht, um einige – wie soll ich sagen? – ungewöhnliche Aufträge auszuführen, die ich ihr unvermittelt erteile. Diese Aufträge müssen ohne Fragen und ohne Zögern ausgeführt werden.«

»Hoffentlich klappt das alles.«

Pendergast machte eine kurze Pause. »Das wird schon klappen; und sollte ich Erfolg haben, werde ich Sie im Gegenzug um einen Gefallen bitten.«

»Natürlich.«

Pendergast stand auf, drehte sich um und schritt durch die Tür des Büros in die dahinterliegende Überwachungszentrale. Kurz bevor er die Tür schloss, hörte Kemper, wie er mit seiner honigsüßen Südstaatenstimme sagte: »Meine Güte, die Apadravyas-Stellung. Und das in ihrem Alter!«