57
Captain Carol Mason stand am zentralen Steuerpult auf der Kommandobrücke und blickte ruhig auf den 32,2-Zoll-Plasmabildschirm des Northstar-941XDGPS-Kartenplotters, auf dem Infonav 2.2 lief. Es ist, dachte sie, ein Wunderwerk der elektronischen Ingenieurskunst, eine Technologie, die die Fertigkeiten und mathematischen Kenntnisse, die Erfahrung und die Intuition, die einst zum Steuern eines Schiffes nötig waren, praktisch obsolet gemacht hatte. Mit dieser Technik konnte ein intelligenter Zwölfjähriger die Britannia navigieren: Die farbige elektronische Navigationskarte zeigte ein kleines Schiffssymbol und eine Linie, die nach vorn wies und den Kurs angab und praktischerweise in zehnminütigen Intervallen die voraussichtlichen Positionen markierte, dazu die Wegpunkte für jede Kursänderung.
Sie blickte hinüber zum Autopiloten. Noch so ein Wunderwerk; der Autopilot überwachte fortwährend die Geschwindigkeit, mit der sich das Schiff durch das Wasser bewegte, die Drehzahlen der Dieselmotoren, den Winkel des Ruders und der Pods und nahm zahllose Anpassungen vor. Und zwar derart feine, dass sie noch nicht einmal vom erfahrensten Seefahrtsoffizier wahrnehmbar wären. Die Computeranlage hielt das Schiff besser auf Kurs und Geschwindigkeit als der versierteste Kapitän und sparte auch noch Treibstoff – weshalb der stehende Befehl vorschrieb, dass der Autopilot überall außer in Inlands- oder Küstengewässern eingesetzt wurde.
Noch vor zehn Jahren hätte die Kommandobrücke auf einem Schiff wie diesem die Anwesenheit von mindestens drei extrem gut ausgebildeten Offizieren erfordert; jetzt war nur einer erforderlich, und selbst sie allein hatte im Grunde genommen kaum etwas zu tun.
Sie wandte ihre Aufmerksamkeit LeSeurs Navigationstisch zu, seinen Seekarten, Zirkeln, Kompassen, Bleistiften und Leuchtmarkern und dem kleinen Kasten, in dem er seinen Sextanten aufbewahrte. Tote Instrumente, tote Fertigkeiten.
Sie ging um das zentrale Steuerpult herum und wieder zurück ans Ruder, legte eine Hand auf das elegante Steuerrad aus Mahagoni. Es diente eigentlich nur der Repräsentation. Rechts davon war das Pult des Rudergängers, mit dem das Schiff tatsächlich gesteuert wurde. Die sechs Joysticks ließen sich mit dem kleinen Finger bedienen und kontrollierten zwei fest stehende und zwei rotierende Antriebs-Pods sowie die Motorventile. Mit seinen um dreihundertundsechzig Grad drehbaren Achter-Pods ließ sich das Schiff so leicht manövrieren, dass es ohne die Hilfe eines einzigen Schleppers anlegen konnte.
Sie strich über die glatte Lackschicht des Steuerrads und hob den Blick zum Fenster. Der Wind hatte zugenommen, der Regen dagegen nachgelassen, und jetzt konnte sie den Umriss des Bugs ausmachen, der spektakuläre zwölf Meter hohe Wellen durchschnitt, so dass Gischt und Spritzwasser wie in Zeitlupe über die Vordecks fegten.
Mason empfand inneren Frieden, eine völlige Leere, die alles übertraf, was sie bislang erlebt hatte. Den Großteil ihres Lebens hatten Vorwürfe, Minderwertigkeitskomplexe, Selbstzweifel, Wut und maßloser Ehrgeiz sie geplagt. Jetzt war sie gesegneterweise frei von alldem. Eine Entscheidung zu fällen war Mason noch nie so leichtgefallen, und sie hatte sich dieses Mal hinterher auch nicht diesen quälenden Überlegungen hingegeben, die ihre Karriereentscheidungen so erschwerten. Sie hatte beschlossen, das Schiff zu vernichten. Das musste ruhig und ohne inneren Aufruhr geschehen, und jetzt blieb nur noch eines zu tun: ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Warum?, hatte LeSeur gefragt. Wenn er das nicht erraten konnte, dann wollte sie ihm auch nicht die Genugtuung verschaffen, es ihm zu erklären. Für sie lag es auf der Hand. Es hatte nie, kein einziges Mal, einen weiblichen Kapitän auf einem der großen transatlantischen Linienschiffe gegeben. Wie dumm sie gewesen war, zu glauben, gerade sie würde es bis ganz nach oben schaffen. Sie war nicht überheblich, aber sie wusste, dass sie als Kapitän doppelt so gut war wie die meisten ihrer Kollegen. Sie hatte an der Newcastle Maritime Academy als Beste ihres Jahrgangs abgeschlossen, mit einem der besten Zeugnisse in der Geschichte der Hochschule. Ihr Lebenslauf war perfekt – lupenrein. Sie hatte, trotz mehrerer ausgezeichneter Angebote, sogar auf eine Beziehung verzichtet, um die Frage nach Erziehungsurlaub gar nicht erst aufkommen zu lassen. Mit größter Sorgfalt hatte sie die richtigen Kontakte in der Reederei gepflegt und sich die richtigen Mentoren gesucht, wobei sie die ganze Zeit bemüht war, niemals karrieristische Neigungen zur Schau zu stellen; beflissen hatte sie das knappe, professionelle, aber nicht unangenehme Gebaren der besten Kapitäne kultiviert, stets aufrichtig erfreut über die Erfolge ihrer Kollegen.
Mühelos hatte sie die Leiter zum Zweiten, Ersten und schließlich Stellvertretenden Kapitän erklommen, ganz nach Plan. Klar, längs des Weges hatte es Bemerkungen gegeben, unangenehme und nicht willkommene sexuelle Annäherungsversuche von Vorgesetzten, aber damit war sie immer mit Aplomb umgegangen, hatte nie für Unruhe gesorgt, sich nie beschwert; die widerwärtigsten und dämlichsten Vorgesetzten hatte sie mit äußerster Korrektheit und größtem Respekt behandelt, so getan, als hätte sie ihre beleidigenden, vulgären Bemerkungen und anstößigen Angebote nicht gehört. Sie hatte sie alle mit Humor behandelt, als hätten sie irgendein kluges Bonmot geäußert.
Als die Ozeania vor vier Jahren vom Stapel lief, waren sie und zwei andere für das Kommando in Frage gekommen – sie selbst, außerdem Cutter und Thrale. Thrale hatte es bekommen, obwohl er von ihnen dreien der am wenigsten Befähigte war und zudem ein Alkoholproblem hatte. Cutter, der bessere Kapitän, war es wegen seines schwierigen, egozentrischen Charakters nicht geworden. Aber sie – der bei weitem beste Kapitän von allen – war übergangen worden. Warum?
Weil sie eine Frau war.
Dabei war das noch nicht mal das Schlimmste. Ihre Kollegen bemitleideten Cutter, obwohl viele den Mann nicht ausstehen konnten. Alle nahmen ihn beiseite und versicherten ihm, es sei eine Schande, dass er das Kommando nicht bekommen, dass er das Kapitänsamt verdient, dass die Reederei einen Fehler gemacht habe – und alle trösteten ihn damit, dass er mit Sicherheit das nächste Kommando bekommen werde.
Keiner hatte sie auf diese Weise beiseitegenommen. Niemand hatte sie getröstet. Sie alle hatten schlicht angenommen, dass sie als Frau sowieso nicht damit gerechnet habe und außerdem mit einem Kommando auch nicht zu Rande gekommen wäre. Die meisten waren gute Kameraden in der Royal Navy gewesen; das war ihr als Frau verweigert worden. Niemand hatte je davon erfahren, welch brennende Herabsetzung sie empfunden hatte – wohl wissend, dass sie von den dreien die beste Kandidatin war, mit der meisten Erfahrung und den besten Beurteilungen.
Sie hätte es schon damals erkennen müssen.
Und dann kam die Britannia. Der größte, luxuriöseste Ozeanriese, der je gebaut wurde. Er kostete die Reederei fast eine Milliarde Pfund. Und sie war nun die klare Favoritin. Das Kommando gebührte ihr, fast zwangsläufig …
Außer dass Cutter es bekam. Und dann hatte die Reederei, als wollte sie dieser Beleidigung noch eins draufsetzen, aus irgendeinem Grund gemeint, sie müsse dankbar sein, dass man sie mit dem Posten des Stellvertretenden Kapitäns abspeiste.
Cutter war nicht dumm. Er wusste sehr gut, dass sie das Kommando verdiente. Außerdem war ihm klar, dass sie der bessere Kapitän war. Und dafür hasste er sie. Er fühlte sich bedroht. Noch bevor sie an Bord gegangen waren, hatte er jede Gelegenheit genutzt, sie zu kritisieren, sie herabzusetzen. Und dann hatte er ihr klargemacht, dass er, anders als die meisten anderen Kapitäne von Linienschiffen, seine Zeit nicht damit vergeuden werde, mit den Passagieren zu plaudern und fröhliche Dinner am Kapitänstisch zu veranstalten. Er wollte seine Zeit auf der Brücke verbringen – ihren rechtmäßigen Platz usurpieren.
Prompt hatte sie ihm die Munition geliefert, die er in seinem Kampf gegen sie benötigte. Der erste Verweis wegen eines disziplinarischen Vergehens in ihrem ganzen Leben – und sie hatte ihn sich noch vor dem Auslaufen der Britannia eingehandelt. Da hätte sie begreifen müssen, unbewusst, dass sie nie ein großes Schiff kommandieren würde.
Es war schon merkwürdig, dass Blackburn ausgerechnet die Jungfernfahrt der Britannia gebucht hatte. Er hatte ihr vor Jahren einen Heiratsantrag gemacht, den sie aber wegen ihres brennenden Ehrgeizes abgelehnt hatte. Ironischerweise war er in dem Jahrzehnt seit ihrem Verhältnis zum Milliardär geworden.
Was für erstaunliche drei Stunden sie gemeinsam verbracht hatten, jeder Augenblick war wie eingebrannt in ihr Gedächtnis. Seine Suite war ein Traum. Er hatte den Salon mit seinen Lieblingsschätzen dekoriert: Millionen Dollar teure Gemälde, Skulpturen, seltene Antiquitäten. Besonders aufgeregt war er wegen eines tibetischen Gemäldes gewesen, das er erst kürzlich erworben hatte – offenbar binnen der letzten vierundzwanzig Stunden; in seiner Begeisterung und seinem Stolz hatte er das Bild aus seinem Kasten genommen und für sie auf dem Boden des Salons ausgerollt. Als sie es ansah, fühlte sie sich wie von einem Blitz getroffen; fasziniert, sprachlos war sie auf Hände und Knie gesunken, um es genauer zu betrachten, um mit Blicken und Fingern auch die kleinste Einzelheit in sich aufzunehmen. Es hatte sie angezogen, war geradezu in ihrem Kopf explodiert. Und noch während sie drauf gestarrt hatte – geradezu hypnotisiert, der Ohnmacht nahe –, hatte er ihr den Rock über die Hüften geschoben, den Slip weggerissen und sie, wie ein wilder Hengst, bestiegen. Es war Sex, wie sie ihn noch nie erlebt hatte und nie vergessen würde – nicht das unbedeutendste Detail, den kleinsten Schweißtropfen, das leiseste Stöhnen, keine der Berührungen und Stöße. Schon allein der Gedanke daran ließ sie vor neu entfachter Leidenschaft leise erschauern.
Schade nur, dass ihr so etwas nie mehr passieren würde.
Denn hinterher hatte Blackburn das magische Gemälde zusammengerollt und wieder in den Kasten gelegt. Immer noch strahlend und erhitzt vom Sex, hatte sie ihn gebeten, es nicht zu tun; hatte darum gebettelt, sich das Bild noch einmal anschauen zu dürfen. Er hatte sich umgedreht, ohne Zweifel das Verlangen in ihrem Gesichtsausdruck bemerkt. Sofort waren seine Augen zu eifersüchtigen, besitzergreifenden Schlitzen geworden. Er hatte gehöhnt, gesagt, dass sie es einmal gesehen habe und es nicht noch einmal sehen müsse. So schnell, wie zuvor die Lust sie überkommen hatte, erfüllte sie nun eine dunkle, verzehrende Wut. Sie beide hatten sich angeschrien, mit einer Heftigkeit, zu der sie sich gar nicht imstande gefühlt hatte. Die Schnelligkeit, mit der ihre Gefühle umschlugen, war ebenso schockierend wie berauschend gewesen. Und dann hatte Blackburn sie rausgeworfen. Nein – sie würde nie wieder mit ihm sprechen, niemals wieder einen Blick auf das Gemälde werfen.
Und dann kam die allergrößte Ironie. Ihr Streit hatte den Passagier in der angrenzenden Kabine veranlasst, sich zu beschweren. Man hatte sie gesehen, wie sie das Triplex-Appartement verlassen hatte. Und irgendwer hatte das gemeldet. Und diese Chance hatte sich Cutter nicht entgehen lassen können. Auf der Brücke, vor sämtlichen Deckoffizieren, hatte er sie gedemütigt, abgekanzelt. Sie war sich sicher, dass der Verweis bereits in ihrer Personalakte stand und der Reederei gemeldet war.
Viele Offiziere und Besatzungsmitglieder, selbst die verheirateten, hatten Liebschaften an Bord; es war so leicht, wie einen Fisch in einer Tonne zu schießen. Sie schienen nie gemeldet zu werden – weil sie Männer waren. Von Männern wurde erwartet, dass sie so etwas taten, diskret und wenn sich die Gelegenheit ergab, genauso wie sie es getan hatte. Aber bei einer Frau war das etwas anderes – so schien es jedenfalls die Unternehmenskultur zu sehen.
Mit ihrer Karriere war es vorbei. Nie wieder würde ihr etwas anderes angeboten als das Kommando eines mittelgroßen Kreuzfahrtschiffs, eines dieser schäbigen Kutter voller dicker, weißer Mittelschichtssenioren auf Butterfahrt, die im Mittelmeer oder in der Karibik herumgondelten. Nie wieder würde sie Blauwasser sehen, vor jedem Sturm würde sie davonlaufen.
Cutter. Wie konnte sie sich besser an ihm rächen, als ihm sein Schiff wegzunehmen, dessen Eingeweide herauszureißen und es auf den Grund des Atlantiks zu schicken?