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Mehrere Minuten lang sah Constance zu, wie Pendergast im Wohnzimmer der Tudor-Suite auf und ab schritt. Einmal blieb er stehen, um etwas zu sagen, dann aber ging er wieder nur hin und her. Schließlich drehte er sich zu ihr um. »Du beschuldigst mich egoistischen Verhaltens. Dass ich mich auf Kosten der anderen Passagiere retten wolle. Sag mir etwas, Constance: Wen genau an Bord hältst du für wert, gerettet zu werden?«

Wieder verstummte er, wartete auf eine Antwort, die Belustigung lauernd im Blick. Damit hatte Constance nun überhaupt nicht gerechnet.

»Ich habe dir eine Frage gestellt«, fuhr Pendergast fort, als sie stumm blieb. »Wen von diesen vulgären, gierigen, abstoßenden Menschen an Bord dieses Schiffes hältst du für würdig, gerettet zu werden?«

Constance schwieg noch immer.

Nach einem Augenblick höhnte Pendergast: »Siehst du? Du weißt es nicht – weil es nämlich niemanden gibt.«

»Das ist nicht wahr«, sagte Constance.

»Wahrheit? Du narrst dich selbst. Was ist die Wahrheit?, sagte Pilatus scherzend und wartete nicht die Antwort ab. Vom ersten Augenblick an, als du dieses Schiff betreten hast, warst du selber angewidert von dem elenden Überfluss, entsetzt über die kriecherische Selbstzufriedenheit der Reichen und Verwöhnten. Dir selbst ist die schockierende Ungleichheit zwischen den Dienern und Bedienten aufgefallen. Dein Verhalten beim Dinner an jenem ersten Abend, die Antworten, die du diesen unerträglich linkischen Philistern erteilt hast, mit denen wir zwangsweise essen mussten, bewiesen, dass du bereits ein eindeutiges Urteil über die Britannia gefällt hattest. Und das zu Recht. Und deshalb frage ich dich noch einmal, andersherum: Ist dieses Schiff ein schwimmendes Denkmal der Habgier, Vulgarität und Dummheit der Menschen? Ist es nicht ein Palast krasser Begehrlichkeit, der es zu Recht verdient, niedergerissen zu werden?«

Er breitete die Arme aus, als wäre die Antwort offensichtlich.

Constance sah ihn verwirrt an. Seine Worte kamen ihr nicht gänzlich falsch vor. Sie war abgestoßen gewesen von den bourgeoisen Allüren und der schmerbäuchigen Vornehmheit der meisten Passagiere, die sie kennengelernt hatte. Und sie war schockiert und empört gewesen von den brutalen Arbeits- und Lebensbedingungen der Besatzung. Einige der Dinge, die Pendergast sagte, sprachen durchaus eine Saite in ihr an, erweckten und verstärkten ihre lang zurückgehaltenen misanthropischen Regungen.

»Constance«, fuhr Pendergast fort, »sieh es ein: Die einzigen beiden Menschen, die es wert sind, gerettet zu werden, sind wir selbst.«

Sie schüttelte den Kopf. »Du sprichst von den Passagieren. Was ist mit der Besatzung und dem Personal? Sie versuchen doch nur, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Verdienen sie es, zu sterben?«

Pendergast winkte ab. »Das sind entbehrliche Drohnen, Teil des großen Meeres der arbeitenden Bevölkerung; sie schwappen an die Gestade der Welt wie Wellen an den Strand und hinterlassen nichts.«

»Das kann nicht dein Ernst sein. Menschen bedeuten dir alles. Du hast dein ganzes Leben damit verbracht, das Leben anderer zu retten.«

»Dann habe ich mein Leben an ein nutzloses, ja frivoles Unterfangen vergeudet. In einem waren mein Bruder Diogenes und ich uns immer einig: dass es keine abscheulichere Wissenschaft gibt als die Anthropologie. Man stelle sich das nur einmal vor: das Leben dem Studium des Menschen zu widmen.« Er nahm Brocks Monographie vom Tisch, blätterte darin und reichte sie Constance. »Schau dir das mal an.«

Constance blickte auf die aufgeschlagene Seite. Darauf war die schwarz-weiße Reproduktion eines Ölgemäldes zu sehen: ein junger, hinreißend schöner Engel, der sich über einen verdutzt wirkenden Mann beugt und dessen Hand über eine Manuskriptseite führt.

»Der heilige Matthäus und der Engel. Kennst du das Bild?«

Sie sah ihn an, verwirrt. »Ja.«

»Dann weißt du auch, dass es auf dieser Erde nur wenige Bilder von größerer Erhabenheit gibt. Oder Schönheit. Schau dir mal diesen Ausdruck großer Anstrengung auf Matthäus’ Gesicht an – als ob sich jedes Wort des Evangeliums, das er schreibt, aus dem Innersten seines Wesens emporkämpfen würde. Und vergleiche es mit dem gelangweilten Gebaren des Engels, der ihm assistiert – die Art, wie er den Kopf hält; diese halb naive, halb schüchterne Stellung der Beine; das fast skandalös sinnliche Gesicht. Schau, wie Matthäus’ staubiger linker Fuß uns entgegentritt und die Ebene des Gemäldes fast durchbricht. Kein Wunder, dass der Mäzen das Bild abgelehnt hat! Aber selbst wenn der Engel effeminiert erscheint, genügt ein Blick auf die Kraft, die Herrlichkeit dieser prachtvollen Flügel, um uns daran zu erinnern, dass wir uns in der Nähe des Göttlichen befinden.« Er hielt kurz inne. »Weißt du, Constance, warum von allen Reproduktionen in dieser Monographie nur diese schwarz-weiß ist?«

»Nein.«

»Weil keine farbige Abbildung existiert. Das Gemälde wurde zerstört. Ja – dieser herrliche Ausdruck des schöpferischen Genies ist im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs untergegangen. Aber nun sage mir: Wenn ich zwischen diesem Gemälde und dem Leben Millionen nutzloser, unwissender, ephemerer Menschen – der Menschheit, von der du sagst, sie sei mir so wichtig – zu wählen hätte, glaubst du wirklich, ich hätte Lust, in diesem Inferno unterzugehen?« Er schob ihr das Bild hin.

Constance sah ihn entsetzt an. »Wie kannst du nur etwas so Abscheuliches sagen? Und was gibt dir das Recht dazu? Wieso bist du so anders als sonst?«

»Meine liebe Constance! Glaube nur keine Minute lang, dass ich mich für besser als den Rest der Horde halte. Ich bin der fundamentalen Fehler des bestialischen Menschen ebenso schuldig wie jeder andere. Und einer dieser Fehler ist das Eigeninteresse. Ich bin es wert, gerettet zu werden, weil ich will, dass mein Leben weitergeht – und weil ich etwas dafür tun kann. Mein Schicksal steht auf Messers Schneide. Wir steuern mit Höchstgeschwindigkeit auf die Katastrophe zu. Und rein praktisch – wie sollte ich dieses Schiff denn retten? Außerdem gilt, wie bei jeder Katastrophe: Jeder ist sich selbst der Nächste.«

»Glaubst du wirklich, du könntest dich selbst ertragen, wenn du all diese Menschen ihrem Schicksal überließest?«

»Natürlich könnte ich das. Und du auch.«

Constance stutzte. »Ich wäre mir da nicht so sicher«, murmelte sie. Tief im Inneren empfand sie seine Worte als zutiefst verführerisch – und das beunruhigte sie am meisten.

»Diese Menschen bedeuten uns nichts. Sie sind wie die Toten, von denen du in den Zeitungen liest. Wir werden einfach dieses schwimmende Gomorrha verlassen und nach New York zurückkehren. Wir werden uns in intellektuellen Beschäftigungen ergehen: Philosophie, Dichtung, Gespräche. Unsere Villa am Riverside Drive eignet sich hervorragend als Ort der Reflexion und der Zurückgezogenheit.« Er hielt inne. »Und war das nicht die Lebensweise deines ersten Vormunds, meines fernen Verwandten, Enoch Leng? Seine Verbrechen sind sehr viel ruchloser als unser kleiner Augenblick des Eigeninteresses. Und doch ist es ihm gelungen, sein Leben dem körperlichen Wohlbehagen und der geistigen Befriedigung zu widmen. Sein langes, langes Leben. Du weißt, dass das wahr ist, Constance.Du warst dort, bei ihm, die ganze Zeit.« Und wieder nickte er, als habe er gerade den alles entscheidenden Teil seiner Argumentation vorgebracht.

»Es stimmt. Ich war tatsächlich dort. Ich habe gesehen, wie die Gewissensbisse seinen Seelenfrieden langsam zerfressen haben wie Würmer modriges Holz. Am Ende war von dem brillanten Mann so wenig übrig, dass es fast ein Segen war, als …« Sie wollte nicht weitersprechen. Aber sie hatte sich entschieden. Pendergasts nihilistische Botschaft überzeugte sie einfach nicht. »Aloysius, es interessiert mich nicht, was du sagst. Du irrst auf fürchterliche Weise. Du hast immer anderen geholfen. Deine ganze berufliche Laufbahn hast du allein diesem Ziel gewidmet.«

»Genau! Und zu welchem Nutzen? Was hat es mir je eingebracht außer Frustration, Reue, Entfremdung, Kasteiung, Schmerz und Vorwürfe? Wenn ich das FBI verließe, glaubst du, irgendjemand würde mir eine Träne nachweinen? Teils dank meiner eigenen Unfähigkeit ist mein einziger Freund im Bureau eines höchst unangenehmen Todes gestorben. Nein, Constance! Endlich habe ich die bittere Wahrheit gefunden. Die ganze Zeit habe ich sinnlos geschuftet – die fruchtlose Arbeit des Sisyphos – und versucht, das zu retten, was letztlich unrettbar ist.« Und damit ließ er sich wieder in seinem Ledersessel nieder und nahm seine Teetasse zur Hand.

Constance sah ihn entsetzt an. »Das ist nicht der Aloysius Pendergast, den ich kenne. Du hast dich verändert. Seit du aus Blackburns Suite zurückgekommen bist, benimmst du dich ganz sonderbar.«

Pendergast nahm noch einen Schluck Tee und erklärte sehr von oben herab: »Ich werde dir sagen, was passiert ist. Es ist mir endlich wie Schuppen von den Augen gefallen.« Sorgfältig stellte er die Teetasse auf den Tisch zurück und beugte sich vor. »Es hat mich die Wahrheit erkennen lassen.«

»Es?«

»Das Agozyen. Es handelt sich hierbei um ein wirklich erstaunliches Objekt, Constance, ein Mandala, das einem erlaubt, die wirkliche Wahrheit im Zentrum der Welt zu schauen: die reine, unverfälschte Wahrheit. Eine so machtvolle Wahrheit, dass ein schwacher Geist daran zerbrechen würde. Aber für diejenigen unter uns mit einem starken Intellekt ist sie eine Erleuchtung. Jetzt kenne ich mich: Wer ich bin und – am wichtigsten – was ich will

»Weißt du denn nicht mehr, was die Mönche gesagt haben? Das Agozyen ist böse, ein finsteres Werkzeug der Vergeltung, dessen Ziel es ist, die Welt rein zu waschen.«

»Ja. Eine etwas doppeldeutige Wortwahl, nicht wahr? Die Welt rein zu waschen. Ich werde es natürlich nicht zu einem solchem Ziel einsetzen. Vielmehr werde ich es in der Bibliothek unserer Villa am Riverside Drive aufhängen, wo ich es mein Leben lang betrachten kann.« Pendergast lehnte sich zurück und nahm wieder seine Teetasse zur Hand. »Das Agozyen wird mich also in der Rettungsinsel begleiten. So wie du – vorausgesetzt, du kannst dich mit meinem Plan anfreunden.«

Aber Constance gab ihm keine Antwort.

»Die Zeit drängt. Die Zeit ist gekommen, dass du eine Entscheidung triffst: Bist du für mich … oder gegen mich?«

Und während er noch einen Schluck nahm, betrachtete er sie aus seinen blassen Katzenaugen ruhig über den Rand der Teetasse.