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»Das Badewasser war wieder zu heiß«, beklagte sich die alte Frau mit schriller, viel zu lauter Stimme. »Und Sie haben zu wenig Badeöl hineingetan.«

Inge Larssen bemühte sich, der alten Frau – die zweimal so viel wog wie sie selbst – ein Nachthemd überzuziehen. »Tut mir leid«, murmelte sie.

»Und wie oft muss ich es Ihnen noch sagen!«, nörgelte die Stimme weiter, während die uralte Haut, faltig und schwammig wie der Kehllappen eines Haushahns, gnädigerweise unter Lagen von Seide und Baumwolle verschwand. »Nach dem Essen haben Sie meine Handtasche auf die rechte Seite des Rollstuhls gestellt. Sie gehört aber auf die linke Seite! Die linke!«

»Sehr wohl, Ma’am.« Inge zuckte zusammen, als die gichtige Hand sich fest in ihre Schulter krallte, und reichte der alten Frau ihren Gehstock. Sofort erhielt sie einen schmerzhaften Schlag auf die Knöchel. »Steh gerade, Mädchen. Oder willst du, dass ich stürze?«

»Nein, Ma’am.« Inge schaute weg. Es schien ihre Arbeitgeberin nur zu zusätzlicher Kritik anzustacheln, wenn sie sie ansah.

»Wirklich, Sie sind die schlechteste Gesellschafterin, die ich je hatte – und ich hatte mehr als meinen Teil davon, das kann ich Ihnen flüstern. Wenn Sie sich nicht bald besser machen, werde ich Sie entlassen müssen.«

»Ich bedaure sehr, dass meine Arbeit nicht zu Ihrer Zufriedenheit ausfällt«, erwiderte Inge.

Es dauerte eine halbe Stunde, die Frau ins Bett zu bekommen, ihre Füße in die richtige Position zu heben und sie ordentlich einzupacken, Handlotion und Gesichtscreme aufzutragen, das Haar zu kämmen und festzustecken und die Kissen genau richtig aufzuschütteln.

»Und jetzt will ich keinen Mucks mehr von Ihnen hören«, sagte die krächzende Stimme. »Sie wissen, wie schwer es mir fällt, einzuschlafen.«

»Sehr wohl, Ma’am.«

»Und lassen Sie die Tür offen. Ich habe einen leichten Schlaf, und man weiß nie, ob ich Sie vielleicht noch brauche.«

»Sehr wohl.« So behutsam und leise wie möglich schlich Inge aus dem Schlafzimmer und nahm ihre Position auf einem Stuhl direkt vor dessen Tür im Wohnbereich ein. Hier schlief sie auch: auf dem Sofa. Die alte Frau bestand darauf, dass sie ihr Bettzeug morgens sofort wegräumte und bis spät in die Nacht nicht wieder hervorholte; es schien sie zu ärgern, dass Inge ebenfalls schlafen musste.

Sie wartete und wagte kaum zu atmen, während die alte Dame gereizt vor sich hinbrabbelte. Allmählich erstarben die Geräusche, und ihre Atmung wurde regelmäßiger. Inge saß lauschend da, bis das laute Schnarchen einsetzte. Was die alte Hexe auch sagen mochte, sie hatte einen extrem festen Schlaf und wachte nachts nie auf.

Sehr leise erhob Inge sich von ihrem Stuhl und schlich an der offenen Schlafzimmertür vorbei. Das Schnarchen ging weiter. Auf dem Weg zur Tür kam sie an einem Spiegel vorbei und blieb kurz davor stehen, um zu überprüfen, ob sie auch passabel aussah. Aus dem Spiegel schaute sie eine ernsthafte junge Frau mit glattem, blondem Haar und traurigen, fast verängstigten Augen an. Inge fuhr sich rasch mit der Hand übers Haar. Dann öffnete sie vorsichtig die Tür der Suite und trat in den Korridor hinaus.

Auf dem eleganten, mit Teppich ausgelegten Gang fühlte sie sich sofort besser. Es war wie ein dunkler Nebel, der sich unter den Strahlen der Sonne auflöste. Über die Haupttreppe stieg sie in die Gesellschaftsräume des Schiffes hinunter. Hier ging es viel fröhlicher zu: Die Leute plauderten und lachten. Mehr als ein Mann lächelte sie an, als sie an den Läden, Cafés und Weinbars vorbeiging – sie war zwar schüchtern und ein wenig unbeholfen, aber attraktiv, und ihre schwedische Herkunft war unverkennbar.

Seit zwei Monaten arbeitete sie jetzt für die alte Frau, und es war überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Obwohl früh verwaist, hatte sie eine behütete Kindheit gehabt – sie war in Klosterschulen aufgewachsen. Als es Zeit war, sich einen Job zu suchen, hatte sie durch eine Agentur, die mit dem Kloster eng verbunden war, eine Stelle als Gesellschafterin für eine Dame bekommen. Es schien perfekt. Sie sprach ein einwandfreies Englisch, und von der Schule bekam sie hervorragende Referenzen. Sie hatte keine eigene Wohnung, als Gesellschafterin wurde ihr jedoch Unterkunft und Verpflegung gestellt. Noch besser, das Reisen mit einer wohlhabenden Dame würde ihr gestatten, die weite Welt zu sehen, von der sie so oft geträumt hatte.

Aber die Wirklichkeit sah dann ganz anders aus. Ihre Arbeitgeberin krittelte an allem herum, was sie tat; Inge fiel kein einziges Wort des Lobes ein, das sie je geäußert hätte. Die alte Frau benötigte ständige Betreuung und verlangte, dass jeder ihrer launenhaften Wünsche sofort erfüllt wurde. Solange sie wach war, durfte Inge ihr nicht von der Seite weichen. Es war wie im Gefängnis, und nach dem Vertrag, den sie unterschrieben hatte, war sie zu zwei Jahren verurteilt. Ein wenig Freiheit genoss sie nur spät in der Nacht, wenn die alte Frau schlief. Sie wachte immer schon bei Tagesanbruch auf, nörgelig und anspruchsvoll.

Inge wanderte durch die eleganten Räumlichkeiten und genoss die Musik, die opulente Pracht um sich herum, die Düfte, die Gespräche. Sie hatte eine lebhafte Phantasie – Tagträume waren ihre einzige Fluchtmöglichkeit –, und zumindest die Britannia wurde all ihren Erwartungen gerecht. Das Schiff war das Schönste, was sie je gesehen hatte. Im Eingang eines großen Casinos blieb sie stehen und schaute den Reichen und Mächtigen in ihrer eleganten Garderobe beim Spielen zu. Der Anblick ließ sie die Hölle auf Erden vergessen, die sie bei Tag erlebte.

Aber sie verweilte nur kurz, dann raffte sie sich auf und ging weiter. Es war spät in der Nacht, sehr spät, und sie brauchte selber noch etwas Schlaf – die alte Dame erlaubte ihr nicht, tagsüber ein Nickerchen zu machen oder eine Pause einzulegen. Aber sie würde morgen Nacht wieder herkommen und die ganze Pracht in sich aufnehmen, um den Träumen und Phantasien neue Nahrung zu geben, die ihr helfen würden, die kommenden Tage durchzustehen. Sie träumte von dem Tag, an dem sie ebenfalls in solcher Eleganz und solchem Luxus reisen würde, ungehindert durch Armut oder Grausamkeit, mit einem Ehemann und einem ganzen Schrank voller schöner Kleider. Aber ganz gleich, wie reich sie dann sein mochte, sie würde immer mit leiser Stimme mit ihren Angestellten sprechen und sie freundlich behandeln; sie würde nicht vergessen, dass auch sie Menschen waren.