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Um halb zwei führte Roger Mayles eine Gruppe verdrießlicher Deck-10-Passagiere zur letzten Mittagessensschicht im Oscar’s. Seit über einer Stunde beantwortete er nun schon ihre Fragen – oder besser: war er ihren Fragen ausgewichen. Was denn passieren würde, wenn man in Neufundland eingetroffen wäre; wie sie nach Hause kämen, wo man die Entschädigungen beantragen könne. Niemand hatte ihm irgendetwas erzählt, er wusste nichts, er konnte niemandem antworten; und trotzdem hatte man ihn ermahnt, die Sicherheit aufrechtzuerhalten, was immer zum Teufel das bedeuten mochte.
So etwas wie das hier hatte er noch nie erlebt. Das Schönste am Leben an Bord eines Schiffes war doch die Vorhersehbarkeit. Aber auf dieser Reise war überhaupt nichts vorhersehbar. Und jetzt hatte er das Gefühl, sich allmählich der Grenze seiner Belastbarkeit zu nähern.
Er ging, ein starres Lächeln im Gesicht, über den Flur. Die Passagiere hinter ihm redeten mit erhobenen, quengeligen Stimmen über die ewig gleichen Themen, über die sie sich schon den ganzen Tag unterhielten: Entschädigungszahlungen, Prozesse, wie man nach Hause kam. Er spürte das langsame Rollen des Schiffes und hielt den Blick abgewendet von den breiten Steuerbordfenstern an der einen Seite des Korridors. Er hatte den Regen satt, das Heulen des Windes, das Donnern der Wellen gegen den Rumpf. In Wirklichkeit machte das Meer ihm Angst – hatte es immer. Er hatte es nie genossen, ins Wasser hinabzuschauen, auch nicht bei gutem Wetter, weil es immer so tief und kalt aussah. Und endlos – so sehr, sehr endlos. Seit dem Verschwinden der ersten Passagiere hatte er immer wieder geträumt, nachts in den finsteren Atlantik zu stürzen, Wasser tretend, während er sah, wie die Lichter des Schiffes langsam im Nebel verschwanden. Jedes Mal war er zwischen zerwühlten Laken aufgewacht und hatte leise gewimmert.
Er konnte sich schlicht keinen schlimmeren Tod vorstellen. Keinen.
Einer der Männer in der Gruppe hinter ihm beschleunigte seine Schritte. »Mr Mayles?«
Er drehte sich um, ohne langsamer zu gehen, das Lächeln so angespannt wie immer. Er konnte es gar nicht erwarten, ins Oscar’s zu kommen.
»Ja, Mr …«
»Wendorf. Bob Wendorf. Schauen Sie – ich habe am Fünfzehnten eine wichtige geschäftliche Verabredung in New York. Ich muss wissen, wie wir von Neufundland nach New York kommen.«
»Mr Wendorf, ich habe keinen Zweifel, dass Ihre Firma das Nötige veranlassen wird.«
»Verdammt noch mal, das ist doch keine Antwort! Und noch etwas: Wenn Sie glauben, wir werden per Schiff nach New York fahren, dann irren Sie gewaltig. Ich setze nie mehr im Leben wieder einen Fuß auf ein Schiff. Ich verlange einen Flug, erster Klasse.«
Zustimmendes Gemurmel in den Reihen hinter ihm. Mayles blieb stehen und drehte sich um. »Zufällig organisiert die Reederei bereits die ersten Flüge.« Zwar wusste er nichts davon, aber inzwischen war er so weit, alles zu behaupten, nur um sich diese Dummköpfe vom Leibe zu halten.
»Für alle dreitausend Passagiere?« Eine Frau mit Ringen auf jedem schrumpligen Finger drängte sich vor und wedelte ihm mit ihren leberfleckigen Händen vor dem Gesicht herum.
»St. John’s hat einen internationalen Flughafen.« Wirklich? Mayles hatte keine Ahnung.
Die Frau redete weiter, ihre Stimme kreischend wie eine Kreissäge. »Offen gestanden, finde ich die fehlende Kommunikation unerträglich. Wir haben viel Geld für diese Reise bezahlt. Wir verdienen es, zu erfahren, was hier vor sich geht!«
Du verdienst einen Tritt in deinen alten, schlaffen Hintern, Lady. Mayles lächelte weiter. »Die Gesellschaft …«
»Was ist mit den Erstattungen?«, unterbrach ihn eine andere Stimme. »Ich hoffe, Sie glauben nicht, wir werden für diese Art von Behandlung auch noch bezahlen …!«
»Die Reederei wird sich um jeden Einzelnen von Ihnen kümmern«, sagte Mayles. »Bitte haben Sie Geduld.« Er drehte sich rasch um, um weitere Fragen zu vermeiden – und da sah er es.
Es war ein Ding; so etwas wie eine dichte Ballung von Rauch, an der Biegung des Flurs. Es bewegte sich mit einer Art schwankenden, rollenden Bewegung auf sie zu. Mayles blieb wie angewurzelt stehen. Es war wie ein dunkler, irgendwie bösartiger Nebel, außer dass es eine Textur zu haben schien, wie gewebter Stoff, aber undeutlich, unbestimmt, dunkler zur Mitte hin, aus der es dunkel flackerte. Formen, die aussahen wie gespannte Muskeln, schienen auf, verlöschten, huschten über die Oberfläche.
Mayles war sprachlos, rührte sich nicht vom Fleck. Es stimmt also, dachte er. Aber das kann doch nicht wahr sein. Es kann doch …
Es bewegte sich auf ihn zu, gleitend und rollend, als verfolge es irgendein fürchterliches Ziel. Die Gruppe kam hinter ihm zum Stehen; eine Frau schnappte nach Luft.
»Was zum Teufel?«, ließ sich eine Stimme vernehmen.
Mayles’ Gruppe zog sich zurück, mehrere Passagiere schrien vor Angst. Mayles konnte den Blick nicht abwenden, konnte sich nicht bewegen.
»Das ist so eine Art Naturerscheinung«, sagte Wendorf laut, als wollte er sich das selbst einreden. »Wie ein Kugelblitz.«
Das Ding bewegte sich über den Flur, unstet, kam immer näher.
»O mein Gott!«
Hinter sich registrierte Roger Mayles einen allgemeinen ungeordneten Rückzug, der rasch zu einer wilden Flucht ausartete. Langsam verklang das Gekreisch und Geschrei. Noch immer konnte er sich nicht bewegen, nicht sprechen. Er allein blieb wie angewurzelt stehen.
Während das Ding sich ihm näherte, konnte er etwas darin erkennen. Einen Umriss, kauernd, hässlich, ungezähmt, mit kleinen, umherhuschenden Augen …
Nein, nein, nein, neeiin …
Ein tiefer, klagender Laut entrang sich Mayles’ Kehle. Während das Ding näher rückte, nahm Mayles einen zunehmenden Geruch von Feuchtigkeit und Schimmel wahr, roch diesen Gestank nach Schmutz und verrottenden Giftpilzen … Der Klagelaut in seiner Kehle verwandelte sich in einen gurgelnden Fluss aus Speichel, während das Etwas vorbeischlich, ihn kein einziges Mal anschauend, nichts sehend, vorbeihuschte wie ein Hauch feuchter Kellerluft.
Als Nächstes war Mayles bewusst, dass er auf dem Boden lag und zu einem Sicherheitsbeamten hochsah, der ihm ein Glas Wasser hinhielt.
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber er brachte keinen Ton heraus – nur ein Seufzen.
»Mr Mayles«, sagte der Beamte. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er gab ein Geräusch von sich wie ein Reifen, aus dem die Luft entwich.
»Mr Mayles, Sir?«
Er bewegte seine verklemmte Kinnlade. »Es … war … hier.«
Ein starker Arm packte ihn an der Jacke und zog ihn hoch.
»Ihre Gruppe ist hysterisch an mir vorbeigerannt. Was immer Sie gesehen haben, es ist jetzt fort. Wir haben alle benachbarten Korridore abgesucht. Es ist fort.«
Mayles beugte sich vor, schluckte und erbrach sich auf den goldfarbenen Hochflorteppich, als wollte er das Ding exorzieren.