37
LeSeur blickte zu Hentoff und Kemper und dann wieder zu Hentoff. Er ärgerte sich schon jetzt darüber, dass der Commodore ihm dieses Problem zugeschoben hatte – er war schließlich Schiffsoffizier, nicht irgendein Casinoangestellter. Aber nicht nur das, sein Problem würde bestehen bleiben – es wurde nur immer schlimmer. Bei mindestens einem Mordfall, ja vielleicht sogar drei, musste er sich um weit gefährlichere und beunruhigendere Dinge kümmern. Noch einmal schaute er den beiden Männern vor ihm direkt in die Augen.
»Ich möchte sichergehen, dass ich das richtig verstanden habe«, sagte er. »Sie erzählten mir gerade, dass dieser Pendergast es fertiggebracht hat, dass die Kartenzähler eine Million Pfund an den Blackjack-Tischen verlieren, und er selbst hat dabei fast dreihunderttausend eingestrichen?«
Hentoff nickte. »So könnte man das ausdrücken, Sir.«
»Mir scheint, dass man Sie soeben übers Ohr gehauen hat, Mr Hentoff.«
»Nein, Sir«, erwiderte Hentoff frostig. »Pendergast musste gewinnen, damit die Kartenzähler verlieren.«
»Erklären Sie.«
»Pendergast hat zunächst nach dem shuffle track gespielt – eine Technik, bei der man die Zusammensetzung des Kartenstapels beobachtet, sich die Positionierung bestimmter entscheidender Karten oder Gruppierungen merkt, die sogenannten slugs, und diese dann während des Spiels verfolgt, per Augenschein. Außerdem ist es ihm gelungen, einen Blick auf die unterste Karte zu werfen, und da man ihm die Spieleröffnung anbot, konnte er diese Karte genau dort im Packen plazieren, wo er sie haben wollte.«
»Das scheint mir unmöglich zu sein.«
»Es gibt bekannte, wenn auch ungeheuer schwierige Techniken. Dieser Pendergast scheint sie besser gemeistert zu haben als die meisten.«
»Das erklärt immer noch nicht, warum Pendergast gewinnen musste, damit die Kartenzähler verlieren.«
»Indem er wusste, wo sich bestimmte Karten befanden, und indem er diese Kenntnis mit einem Zählsystem kombinierte, konnte er steuern, wie die Karten im Laufe des Spiels an die restlichen Spieler ausgeteilt wurden, indem er entweder ins Spiel einstieg oder es aussaß – wie auch dadurch, dass er sich unsinnigerweise eine weitere Karte geben ließ.«
LeSeur nickte langsam und dachte über die Antwort nach.
»Er musste die guten Karten aufhalten, damit die schlechten an die anderen weitergereicht wurden. Damit die anderen Spieler verloren, musste er gewinnen.«
»Hab’s schon verstanden«, sagte LeSeur säuerlich. »Und deshalb wollen Sie wissen, was wir mit den Gewinnen des Mannes anfangen sollen?«
»So ist es.«
LeSeur überlegte kurz. Alles hing davon ab, wie Commodore Cutter reagierte, wenn er von dieser Sache erführe – was er selbstverständlich irgendwann musste. Die Antwort lautete: nicht gut. Und wenn die Reederei Wind davon bekäme – die würde noch weniger wohlwollend reagieren. So oder so, sie mussten das Geld zurückbekommen.
Er seufzte. »Um unser aller Zukunft bei der Corporation willen müssen Sie sich das Geld zurückholen.«
»Und wie?«
LeSeur wandte sich erschöpft ab. »Tun Sie’s einfach.«
Eine halbe Stunde später marschierten Kemper und Hentoff den eleganten Korridor auf Deck 12 hinunter. Kemper spürte, wie sich in seinem dunklen Anzug feuchter Schweiß bildete. Vor der Tür zur Tudor-Suite blieb er stehen.
»Sind Sie sicher, dass jetzt der richtige Zeitpunkt dafür ist?«, fragte Hentoff. »Es ist dreiundzwanzig Uhr.«
»Ich hatte nicht den Eindruck, dass LeSeur wollte, dass wir noch länger damit warten«, erwiderte Kemper. »Sie?« Damit drehte er sich zur Tür um und klopfte an.
»Herein«, ließ sich eine ferne Stimme vernehmen.
Sie traten ein. Pendergast und die junge Frau, die mit ihm reiste – Constance Greene, seine Nichte oder so etwas –, saßen bei gedimmtem Licht im Salon am Esstisch, die Reste einer erlesenen Mahlzeit vor sich.
»Ah, Mr Kemper.« Pendergast schob seinen Wasserkressesalat beiseite und erhob sich. »Und Mr Hentoff. Ich habe Sie bereits erwartet.«
»Tatsächlich?«
»Natürlich. Unser Geschäft ist noch nicht abgeschlossen. Bitte setzen Sie sich.«
Kemper ließ sich etwas ungelenk auf dem Sofa in der Nähe nieder. Hentoff setzte sich auf einen Stuhl und blickte von Agent Pendergast zu Constance Greene und wieder zurück. Zu gern würde er herausbekommen, wie sie wirklich zueinander standen.
»Darf ich Ihnen ein Glas Port anbieten?«, fragte Pendergast.
»Nein, danke«, sagte Kemper. Ein peinliches Schweigen entstand, ehe er fortfuhr: »Ich möchte Ihnen nochmals dafür danken, dass Sie sich der Kartenzähler angenommen haben.«
»Keine Ursache. Befolgen Sie meinen Ratschlag, wie man sie davon abhalten kann, wieder zu gewinnen?«
»Ja, vielen Dank.«
»Funktioniert’s?«
»Absolut«, sagte Hentoff. »Immer wenn ein Spotter das Casino betritt, schicken wir eine Cocktailkellnerin zu ihm, die ihn in ein belangloses Gespräch verwickelt, bei dem es immer um Zahlen geht. Das macht die zwar ganz irre, aber sie können nichts dagegen tun.«
»Ausgezeichnet.« Pendergast blickte fragend zu Kemper. »Gibt es sonst noch etwas?«
Kemper rieb sich die Schläfe. »Na ja, da wäre noch die Frage … des Geldes.«
»Sprechen Sie von diesem Geld?« Pendergast zeigte mit einem Nicken zu dem Sekretär, auf dem, wie Kemper jetzt erst bemerkte, ein Stapel dicker Briefumschläge lag.
»Wenn das die Gewinne aus dem Casino sind, ja.«
»Und gibt es eine Frage bezüglich des Geldes?«
»Mr Pendergast, Sie haben für uns gearbeitet«, sagte Kemper und spürte, wie lahm sein Argument war, noch ehe er es vorgebracht hatte. »Die Gewinne gehören von Rechts wegen Ihrem Arbeitgeber.«
»Ich bin niemandes Mitarbeiter«, sagte Pendergast und lächelte eisig. »Außer natürlich der Bundesregierung der Vereinigten Staaten.«
Kemper fühlte sich ganz entsetzlich unwohl unter dem Blick aus den silbergrauen Augen.
»Mr Kemper«, fuhr Pendergast fort, »Ihnen ist natürlich klar, dass ich diese Gewinne auf legale Weise erworben habe. Kartenzählen, das Verfolgen von Kartengruppierungen und die anderen von mir verwendeten Techniken sind alle legal. Fragen Sie Mr Hentoff hier. Ich habe nicht einmal die Kreditlinie in Anspruch nehmen müssen, die Sie mir eingeräumt haben.«
Kemper warf einen Blick auf Hentoff, der unglücklich nickte.
Noch ein Lächeln. »Also gut. Beantwortet das Ihre Frage?«
Kemper dachte daran, das Ganze Cutter zu berichten, und das half ihm, Rückgrat zu zeigen. »Nein, Mr Pendergast. Wir halten diese Gewinne für Geld des Hauses.«
Pendergast ging zum Sekretär, nahm einen der Briefumschläge in die Hand, holte einen dicken Stapel Pfundnoten heraus und blätterte ganz lässig darin. »Mr Kemper«, sagte er, während er ihm den Rücken zuwandte, »normalerweise hätte ich nicht im Traum daran gedacht, einem Casino zu helfen, Geld von Spielern zurückzubekommen, die das Haus schlagen. Meine Sympathien liegen grundsätzlich auf der anderen Seite. Wissen Sie, warum ich Ihnen geholfen habe?«
»Sie wollten uns dazu bringen, Ihnen zu helfen.«
»Das stimmt nur zum Teil. Der Grund ist, dass ich glaube, dass ein gefährlicher Killer an Bord ist, und um der Sicherheit des Schiffes willen musste ich ihn mit Ihrer Hilfe identifizieren, ehe er töten konnte. Leider scheint er mir noch immer einen Schritt voraus zu sein.«
Kempers Niedergeschlagenheit wurde größer. Er würde das Geld nie wiedersehen, die Überfahrt war eine Katastrophe auf ganzer Linie, und ihm würde man die Schuld dafür geben.
Pendergast drehte sich um, blätterte erneut das Geld durch. »Kopf hoch, Mr Kemper! Vielleicht bekommen Sie beide Ihr Geld doch noch zurück, wenn Sie mir einen Gefallen tun.«
Irgendwie munterte das Kemper überhaupt nicht auf.
»Ich möchte die Suite und den Safe von Mr Scott Blackburn durchsuchen. Zu diesem Zweck benötige ich eine Ausweiskarte zum Safe und dreißig Minuten Zeit, in denen ich mich umsehe.«
Eine Pause. »Ich glaube, das ließe sich machen.«
»Es gibt da allerdings eine kleine Schwierigkeit. Blackburn hat sich in seinem Zimmer verschanzt und will nicht heraus.«
»Warum? Macht er sich Sorgen wegen des Mörders?«
Wieder lächelte Pendergast: ein leises, ironisches Lächeln. »Wohl kaum, Mr Kemper. Er versteckt irgendetwas, und ich muss es finden. Also muss er aus dem Zimmer gelockt werden.«
»Sie können nicht von mir wollen, dass ich einen Passagier festnehmen lasse.«
»Festnehmen? Wie grob. Eine elegantere Möglichkeit, seine Entfernung zu bewerkstelligen, wäre es, für die Steuerbordseite des Decks 9 den Feueralarm auszulösen.«
Kemper runzelte die Stirn. »Sie wollen, dass ich einen Fehlalarm auslöse? Ausgeschlossen.«
»Aber Sie müssen es.«
Kemper überlegte kurz. »Ich nehme an, wir könnten einen Probealarm veranstalten.«
»Mr Blackburn wird seine Kabine nicht verlassen, wenn es sich lediglich um eine Übung handelt. Nur bei einer Zwangsevakuierung wird er seine Kabine räumen.«
Kemper fuhr sich durchs feuchte Haar. Meine Güte, er schwitzte ja. »Vielleicht könnte ich in dem Korridor einen Feueralarm inszenieren.«
Diesmal antwortete Constance Greene ihm. »Nein, Mr Kemper«, sagte sie in einem eigenartig altmodischen Akzent. »Wir haben das Ganze sorgfältig recherchiert. Sie müssen einen zentralen Alarm auslösen. Ein eingeschlagener Feuermelder würde zu schnell entdeckt werden. Wir brauchen eine volle halbe Stunde in Blackburns Suite. Außerdem müssen Sie die Sprinkleranlage vorübergehend außer Betrieb setzen, was nur mit Hilfe der zentralen Feuerwarnanlage bewerkstelligt werden kann.«
Kemper stand auf, Hentoff folgte schnell. »Unmöglich. Es ist verrückt, darum zu bitten. Ein Brand ist das Gefährlichste, was an Bord eines Schiffes passieren kann, abgesehen vom Untergang. Ein Schiffsoffizier, der absichtlich einen falschen Alarm auslöst … Ich würde eine Straftat begehen, vielleicht eine schwere Straftat. Herrgott, Mr Pendergast, Sie sind ein FBI-Agent, Sie wissen doch, dass das nicht geht! Es muss da eine andere Möglichkeit geben!«
Pendergast lächelte, diesmal fast betrübt. »Es gibt keinen anderen Weg.«
»Ich mache das nicht.«
Pendergast blätterte durch das dicke Bündel Geldscheine. Kemper konnte das Geld förmlich riechen – es roch nach rostigem Eisen.
Der Sicherheitschef blickte auf die Geldscheine. »Ich kann das einfach nicht machen.«
Einen Augenblick lang war es still. Dann stand Pendergast auf, ging hinüber zur Kommode, zog die oberste Schublade auf, legte das Bündel Geldscheine hinein und verstaute die übrigen Briefumschläge daneben. Behutsam schob er die Lade zu, drehte sich zu Hentoff um und nickte. »Wir sehen uns dann im Casino, Mr Hentoff.«
Wieder entstand ein Schweigen, länger diesmal.
»Sie wollen … spielen?«, fragte Hentoff langsam.
»Warum nicht?« Pendergast breitete die Arme aus. »Wir sind schließlich im Urlaub. Und Sie wissen ja, wie unglaublich gern ich Blackjack spiele. Ich hatte daran gedacht, es auch Constance beizubringen.«
Hentoff sah Kemper erschrocken an.
»Es heißt, ich lerne schnell.«
Kemper strich sich abermals durch das feuchte Haar. Er spürte geradezu, wie ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen rann. Alles wurde nur noch schlimmer.
Die Atmosphäre in dem Zimmer war angespannt. Schließlich atmete Kemper tief durch und sagte: »Es wird eine Weile dauern, das alles in die Wege zu leiten.«
»Ich verstehe.«
»Um zehn Uhr morgen früh werde ich einen allgemeinen Feueralarm auf Deck 9 auslösen. Mehr kann ich nicht tun.«
Pendergast nickte knapp. »In dem Fall werden wir uns in Geduld fassen. Hoffen wir, dass die Dinge zu dem Zeitpunkt, äh, noch unter Kontrolle sind.«
»Unter Kontrolle? Was meinen Sie damit?«
Aber Pendergast verneigte sich nur vor jedem Einzelnen, setzte sich dann wieder an den Tisch und fuhr mit seinem Abendessen fort.