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Die Hilfsbrücke war überfüllt. Rasch wurde es wärmer. LeSeur hatte alle Abteilungsleiter zu einer Not-Personalversammlung einberufen, und schon trafen die Leiter der Hotellerie- und Unterhaltungsabteilung, der Purser, der Bootsmann und der Chefsteward ein. Er sah auf die Uhr; dann wischte er sich die Stirn und blickte wohl zum hundertsten Mal auf den Rücken von Captain Mason, wie sie auf dem zentralen Überwachungsmonitor zu sehen war, kerzengerade und ruhig am Ruder stehend, keine Haarsträhne lugte unter der Mütze hervor. LeSeur hatte den Kurs der Britannia auf dem zentralen NavTrac-GPS-Kartenplotter aufgerufen. Und da waren sie, dargestellt in kühlen elektronischen Farben: der Kurs, die Geschwindigkeit … und die Carrion Rocks.
Er blickte erneut zu Mason, die unbeweglich am Ruder stand. Etwas war mit ihr passiert, ein medizinisches Problem, ein Schlaganfall, Drogen, vielleicht eine schizoide Episode. Was ging in ihrem Kopf vor? Was sie tat, war das genaue Gegenteil dessen, wozu der Kapitän eines Schiffes verpflichtet war.
Neben ihm, an der Station mit den Überwachungsmonitoren, stand Kemper mit Kopfhörern auf den Ohren. LeSeur stieß ihn an; der Sicherheitschef nahm die Kopfhörer ab.
»Sind Sie absolut sicher, Kemper, dass sie uns hören kann?«
»Alle Kanäle sind offen. Ich bekomme sogar ein bisschen Rückkopplung.«
LeSeur drehte sich zu Craik um. »Irgendwelche weiteren Antworten auf unseren SOS-Ruf?«
Craik sah von seinem SSB-Satelliten-Funktelefon hoch. »Ja, Sir. Die US- und die kanadische Küstenwache haben geantwortet. Das am nächsten befindliche Schiff ist die CCGS Sir Wilfred Grenfell, Heimathafen St. John’s, ein achtundsechzig Meter langes Offshore-Patrouillenboot mit neun Offizieren, elf Besatzungsmitgliedern, sechzehn Schlafplätzen plus zehn weiteren im Schiffshospital. Sie ist auf Abfangkurs und wird uns rund fünfzehn Seemeilen Ost-Nordost von den Carrion Rocks … um … etwa fünfzehn Uhr fünfundvierzig erreichen. Niemand sonst ist nahe genug, um uns vor der geschätzten Zeit der, ähm, Kollision zu erreichen.«
»Was haben die auf der Grenfell vor?«
»Sie arbeiten noch an den Optionen.«
LeSeur wandte sich an den Dritten Offizier. »Holen Sie Dr. Grandine hier rauf. Ich will ein paar medizinische Ratschläge zu dem, was mit Mason los ist. Und fragen Sie Mayles, ob sich unter den Passagieren ein Psychiater befindet. Wenn ja, holen Sie den auch hierher.«
»Aye, Sir.«
Als Nächstes wandte sich LeSeur an den Leitenden Ingenieur. »Mr Halsey, ich möchte, dass Sie persönlich in den Maschinenraum gehen und den Autopiloten abschalten. Kappen Sie, falls nötig, Leitungen, zerschlagen Sie mit einem Vorschlaghammer die Steuerplatinen. Als letzten Ausweg schalten Sie einen der Pods ab.«
Der Ingenieur schüttelte den Kopf. »Der Autopilot ist gegen Angriffe gesichert. Er ist so konstruiert, dass er alle manuellen Systeme umgeht. Selbst wenn man einen der Pods ausschalten könnte – was nicht geht –, würde der Autopilot das ausgleichen. Das Schiff kann, falls erforderlich, auch mit einem Pod fahren.«
»Mr Halsey, sagen Sie mir erst, warum etwas nicht funktioniert, nachdem Sie es ausprobiert haben.«
»Aye, Sir.«
LeSeur wandte sich an den Funkoffizier. »Versuchen Sie, mit Ihrem Handgerät Mason über den VHF-Kanal 16 zu erreichen.«
»Ja, Sir.« Der Funkoffizier holte sein VHF-Funkgerät aus dem Holster, hob es an den Mund, drückte die Ruftaste. »Funkoffizier an Brücke, Funkoffizier an Brücke, bitte melden.«
LeSeur zeigte auf den Überwachungsmonitor. »Sehen Sie?«, rief er. »Man sieht das grüne Empfangslicht. Sie hört uns laut und deutlich!«
»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, antwortete Kemper. »Die versteht jedes Wort.«
LeSeur schüttelte den Kopf. Er kannte Mason seit Jahren. Sie war absolut professionell – ein bisschen verklemmt, hielt sich an die Regeln, nicht besonders warmherzig, aber immer durch und durch professionell. Er zermarterte sich den Kopf. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu kommunizieren. Es frustrierte ihn wahnsinnig, dass sie ihnen die ganze Zeit den Rücken zukehrte.
Wenn er ihr Gesicht sehen könnte, könnte er vielleicht mit ihr reden. Oder wenigstens verstehen, was sie vorhatte.
»Mr Kemper«, sagte er, »direkt unterhalb der Panoramafenster der Brücke verläuft eine Deckskante, an der man die Scheibenwaschanlage anbringt – habe ich recht?«
»Ich glaube, ja.«
LeSeur riss sein Jackett von einem Stuhl und zog es an. »Ich gehe da raus.«
»Spinnen Sie?«, sagte Kemper. »Bis aufs Deck geht das im freien Fall zehn Meter nach unten.«
»Ich werde sie direkt fragen, was zum Teufel sie vorhat.«
»Sie werden der vollen Wucht des Sturms ausgesetzt sein …«
»Zweiter Offizier Worthington, übernehmen Sie die Wache, bis ich zurückkehre.« Und damit stürmte LeSeur zur Tür hinaus.
LeSeur stand an der vorderen Backbordreling der Beobachtungsplattform an Deck 13; der Wind zerrte an seiner Kleidung, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, während er zur Kommandobrücke hinaufsah. Sie lag auf der höchsten Ebene des Schiffes, über ihr erhoben sich nur die Schornsteine und Masten. Die beiden Seitenflügel der Brücke verliefen weit nach Back- und nach Steuerbord, ihre Enden wiesen über den Rumpf hinaus. Unter der Wand aus matt erleuchteten Fenstern konnte er die Deckskante so gerade eben ausmachen, ein einzelnes, zentimeterdickes Messingrohr, das rund fünfzehn Zentimeter von den Aufbauten des Schiffes mit freitragenden Stahlträgern angebracht war. Von der Plattform führte eine schmale Leiter zum Backbordflügel, wo sie auf die Deckskante traf, die die untere Brücke umran-dete.
LeSeur taumelte über das Deck zu der Leiter, zögerte einen Augenblick, dann packte er die Sprosse in Schulterhöhe und umklammerte sie so fest wie ein Ertrinkender. Er zögerte nochmals; seine Arm- und Beinmuskeln zitterten bereits im Vorgefühl der bevorstehenden Plackerei.
Er setzte einen Fuß auf die unterste Sprosse und zog sich hoch. Feine Gischtspritzer trafen ihn, und er war entsetzt, hier, in über siebzig Metern Höhe über der Wasserlinie, Salzwasser zu schmecken. Er konnte das Meer zwar nicht sehen – dafür waren der Regen und die Gischt zu dicht; aber er konnte das Donnern der Wellen hören und die Vibrationen spüren, wenn sie Schlag um Schlag gegen den Rumpf klatschten. Es klang wie das Hämmern eines wütenden, verletzten Meeresgotts. In LeSeurs Höhe waren die Bewegungen des Schiffes besonders ausgeprägt, so dass er jedes langsame, Übelkeit verursachende Rollen in der Magengrube spürte.
Sollte er es wagen? Kemper hatte recht: Es war völlig verrückt. Aber noch während er sich die Frage stellte, kannte er bereits die Antwort. Er musste Mason ins Gesicht sehen.
Schließlich packte er die Sprossen mit aller Kraft und erklomm die Leiter. Der Wind schlug derart heftig gegen LeSeur, dass er jedes Mal die Augen schließen und sich nach Gefühl nach oben vorarbeiten musste, während er mit seinen rauhen Seemannshänden die mit Splitt gestrichenen Stufen packte. Als das Schiff unter einer besonders heftigen Welle krängte, hatte er das Gefühl, über leerem Raum zu hängen, als würde ihn die Schwerkraft hinabziehen, hinab in den brodelnden Kessel der See.
Immer eine Hand nach der anderen.
Nach einem, so schien es, endlosen Aufstieg erreichte er die oberste Deckskante und zog den Kopf bis in die Höhe der Fenster. Er spähte hinein. Weil er aber weit außen am Backbord-Seitenflügel der Kommandobrücke war, konnte er außer dem trüben Lichtschein der elektronischen Systeme nichts erkennen.
Er würde sich um die Ecke bis zur Mitte vorarbeiten müssen.
Die Fenster der Brücke neigten sich leicht nach außen. Über ihnen befand sich die Vorderkante des Oberdecks, mit einer eigenen Fußreling. LeSeur wartete die Flaute zwischen zwei Böen ab, zog sich hinauf, packte den oberen Rand und setzte gleichzeitig die Füße auf die Deckskante. Einen langen Augenblick stand er mit pochendem Herzen da und kam sich den Elementen schutzlos ausgeliefert vor. Jetzt, an die Brückenfenster gedrückt, die Gliedmaßen ausgestreckt, spürte er das Rollen des Schiffes noch deutlicher.
Er holte tief Luft, dann noch einmal. Und dann rückte er langsam vor – klammerte sich mit den eiskalten Fingern an den Rand, wappnete sich erneut gegen jede Windböe. Die Brücke war über fünfzig Meter breit; das bedeutete, dass er noch eine fünfundzwanzig Meter lange Strecke auf der Deckskante vor sich hatte, ehe er auf Höhe des zentralen Steuerpults angelangt wäre.
Die Deckskante war nicht mit Splitt gestrichen – auf die sollte ja kein Mensch je einen Fuß setzen! – und deshalb teuflisch glatt. Langsam, vorsichtig rückte er vor und hielt sein Gewicht großteils mit den Händen, während er sich an die polierte Deckskante vorarbeitete und sich an der Kante aus Hartlack festhielt. Ein enorm starker, dröhnender Wind schlug gegen ihn, saugte seine Füße von der Deckskante, und einen Augenblick lang baumelte er, erschrocken, über der brodelnden grauen See. Er suchte nach Halt, dann zögerte er erneut, schluckte Luft, mit hämmerndem Herzen und tauben Fingern. Nach einer Minute zwang er sich, weiterzugehen.
Schließlich erreichte er die Mitte der Brücke. Und da war sie: Captain Mason, am Ruder, ruhig blickte sie ihn an.
Die völlige Normalität ihres Gesichtsausdrucks wunderte ihn. Sie zeigte sich nicht einmal überrascht von seinem Erscheinen: ein Gespenst in Schlechtwetterkleidung, das sich an der falschen Seite der Brückenfenster festklammerte.
Er packte die obere Reling mit der Linken und donnerte mit der Rechten ans Fenster. »Mason! Mason!«
Sie stellte zwar Blickkontakt her, aber auf eine fast geistesabwesende Weise.
»Was machen Sie da?«
Keine Antwort.
»Herrgott noch mal, Mason, reden Sie doch mit mir!« Er schlug derart heftig mit der Faust an die Fensterscheibe, dass es weh tat.
Trotzdem erwiderte sie nur seinen Blick.
»Mason!«
Schließlich trat sie um das Steuerrad herum und kam ans Fenster. Leise drang ihre Stimme durch das Glas und das Heulen des Sturms. »Die Frage ist, Mr LeSeur, was Sie da machen?«
»Begreifen Sie denn nicht, dass wir uns auf Kollisionskurs mit den Carrion Rocks befinden?«
Noch ein Zucken der Lippen, Vorbote eines Lächelns. Dann sagte sie etwas, was er wegen des Sturms nicht verstand.
»Ich kann Sie nicht hören!« Er hielt sich an der Kante fest und fragte sich, wann seine Hände ihm wohl den Dienst verweigern und er in die brodelnde graue Gischt hinabstürzen würde.
»Ich habe gesagt« – sie trat an die Fensterscheibe und sprach lauter –, »dass mir das durchaus bewusst ist.«
»Aber warum?«
Schließlich kam das Lächeln, wie die Sonne, die auf einer Eisfläche glitzert. »Das ist tatsächlich die entscheidende Frage, nicht wahr, Mr LeSeur?«
Er drückte sich an die Scheibe, um nicht den Halt zu verlieren. Ihm war klar, dass er nicht viel länger durchhalten konnte.
»Warum?«, schrie er.
»Fragen Sie doch die Reederei.«
»Aber Sie … Sie können das hier doch nicht absichtlich tun!«
»Und wieso nicht?«
Am liebsten hätte er sie angeschrien, sie sei verrückt. Aber er musste unbedingt an sie herankommen, ihre Motive herausfinden, vernünftig mit ihr reden. »Um Gottes willen, Sie wollen doch nicht viertausend Menschen auf diese Weise ermorden!«
»Ich habe weder etwas gegen die Passagiere noch die Crew. Aber ich werde dieses Schiff zerstören.«
Waren das auf seinem Gesicht nun Regentropfen oder Tränen? »Captain, schauen Sie. Wenn es Probleme in Ihrem Leben gibt, Schwierigkeiten mit der Reederei – die lassen sich alle lösen. Aber das hier … es sind Tausende unschuldiger Menschen an Bord, viele Frauen und Kinder. Ich flehe Sie an, bitten tun Sie’s nicht. Bitte!«
»Menschen sterben jeden Tag.«
»Ist das eine Art Terrorangriff? Ich meine …«, er überlegte, wie er es möglichst neutral formulieren könnte, »… vertreten Sie einen … einen besonderen politischen oder religiösen Standpunkt?«
Ihr Lächeln blieb kalt, kontrolliert. »Da Sie danach fragen, die Antwort lautet: nein. Dies ist streng persönlich.«
»Wenn Sie das Schiff zerstören wollen, dann halten Sie es vorher an. Lassen Sie uns wenigstens die Rettungsboote zu Wasser lassen.«
»Sie wissen ganz genau: Wenn ich das Tempo auch nur geringfügig drossele, landet ein Einsatzkommando auf dem Schiff und knallt mich ab. Zweifellos hat die Hälfte der Passagiere die Außenwelt bereits per E-Mail benachrichtigt. Mit Sicherheit ist ein massiver Gegenschlag in Vorbereitung. Nein, Mr LeSeur, die Geschwindigkeit ist mein Verbündeter, und das Ziel der Britannia – das sind die Carrion Rocks.« Sie blickte auf den Chartplotter des Autopiloten. »In genau einhundertneunundvierzig Minuten.«
Er schlug mit der Faust an die Fensterscheibe. »Nein!«
Fast wäre er von der Reling gestürzt. Er bekam sie wieder zu fassen, riss sich die Nägel an dem Hartlack ein und sah hilflos zu, wie Mason ihre Position am Steuerrad wieder einnahm und den Blick in das Grau des Sturms richtete.