XIX

je ne sais rien de moi
je ne sais même pas la date de ma mort

PRIECHE. Das Jahr ging nicht sehr gut zu Ende. Der Wecker läutete um fünf, und es dauerte eine Zeit, bis Holtrop richtig wach war und wusste, wo er war, wer er war und was ihm heute bevorstand: nichts. Er musste nichts tun, niemand wollte ihn sprechen. Holtrop war sehr müde. Er stand auf und ging in den Keller, machte den Fernseher an und setzte sich auf den Hometrainer. Langsam fuhr er einen sehr steilen Berg hinauf, die Anstrengung war groß, er kam auch nicht höher. Wieder war er in der Nacht wach gelegen. Das Verdikt über ihn war gesprochen, egal was die Gerichte entscheiden würden. Er hatte sich bereichert, er hatte gelogen, er hatte seine Ehre verloren. Es gab auch keine Exitstrategie mehr. Holtrop war eine Figur des öffentlichen Hohns geworden. Die Vermutung von Schuld reichte aus für das Urteil: ausgestoßen aus der Gesellschaft. Holtrop ging in die Küche. Er nahm sich einen Orangensaft aus dem Kühlschrank, im Haus war es noch ruhig. Das Jahr war fast vorbei, Ende Dezember, das Jahrzehnt ging zu Ende. Dieses Jahrzehnt hatte ihn um viele Millionen Euro reicher gemacht, ihm aber die Ehre als Mensch entrissen. Im Alltag hatte sich sein Leben nicht geändert. Die von Holtrop bezahlten Hausangestellten waren ihm gegenüber nicht unfreundlich. Früher hatten sie sich gefreut, bei ihm zu arbeiten. Heute schämten sie sich. Sie wurden besonders gut bezahlt, auch deswegen schämten sie sich. In jedem Weltkontakt war der gesellschaftlich Entehrte im Kern seiner Existenz ruiniert, sogar in jedem eigenen Gedanken. Holtrop ging wieder nach oben in sein Zimmer. Er saß am Bettrand und spürte, wie die Müdigkeit ihn wieder erfasste. Er stand auf und ging unter die Dusche. Dann setzte er sich im Anzug an den Schreibtisch. Die Feiertage waren vorbei. Schnee und Eis lagen über Nordeuropa. Bis zum Mittag kam kein Anruf, wieder kein Anruf, es war ein Tag wie zu viele gleiche in den letzten Wochen. Das absurd leere Leben, das er im Arbeitszimmer führte, um zumindest vor sich selbst den Anschein der Normalität aufrechtzuerhalten, war sinnlos. Am späten Nachmittag ging Holtrop in den Park. Er ging zum Zaun bei den Gleisen. Von der drüberen Waldfront her waren Schüsse zu hören. Eine Granate war im Garagentrakt eingeschlagen. Aus dem Gebüsch vor den Bäumen kamen im dämmrigen Licht die Angreifer heraus. Holtrop ging über den Zaun, um der Offensive entgegenzutreten. Er rückte vor über das schneebedeckte Feld und auf den Bahndamm zu. In der Ferne sah er einen Zug kommen. Er rannte los in Richtung der Gleise, wurde schneller, schaute, wurde wieder langsamer. Er sprang durch den brüchigen Schnee, auf den Bahndamm zu, den Bahndamm hoch, schaute wieder, hielt sich am vorderen Gleis fest, schleuderte sich zwischen die Gleise, stand auf und rannte der ihm entgegenrasenden Lok entgegen. Die Lok war klein und sehr weit weg. Sie stampfte, kreischte und schrie. Dann wurde sie plötzlich größer, schwärzer und immer schneller. Holtrop lief und wusste, was er wissen wollte: das Leben war herrlich gewesen. Er war dankbar, auch für die Einsicht, dass es falsch war, dieses Leben wegzuschmeißen, und lachte auf. Entschlossen, vor der sicher noch zehn Meter entfernten Eisenbahnlokomotive von den Gleisen herunterzuspringen, tat Holtrop den rettenden Schritt mit dem rechten Fuß wütend, zu heftig, rutschte aus, stürzte, schaute hoch und: war tot. Die Welt stand still in dem Moment. Dann drehte sie sich wieder weiter. In der Villa Holtrop kam die Familie zusammen. Nachts um elf Uhr waren schon viele Stunden seit der Nachricht vergangen, es war so viel geredet worden, dass sich sogar Sekunden von Normalität ereigneten. Es war vorbei. Die Menschenjagd war zu Ende. »Vielleicht ist es besser so«, sagten die, die weit weg vom Toten waren. Nein, es war nicht besser so. Es war falsch. Der Tod ist ein Irrtum, nicht für den, der tot ist, aber für die, die weiter leben müssen ohne den Toten. Leben geht weiter: Lüge. Das Leben ging nicht weiter. Noch waren Reste des Toten in der Nähe. Nachts schreckten die Schlafenden aus dem Schlaf hoch und verfluchten den Schlaf, der sie die Wirklichkeit kurz vergessen hatte lassen: Holtrop war tot, er war weg, endgültig und für immer. Der Körper lag, schon obduziert und wieder zugenäht, in einem Kühlfach der Rechtsmedizin von Schönhausen. Das hier im Stahlschrank Kälte produzierende Aggregat war auf Basis eines Lanzpatents entwickelt worden. Über der Fluchttüre brannte eine grüne Nachtlampe von Osram. Um halb vier rückte ein Putztrupp durch den Bau. Timecode schaltete die Weltenlichter an und aus.

Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft. Roman
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